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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das lvormser Volkstheater.

Hältnisse bei strengem Festhalten an den idealen Grundsätzen, damit aus vor¬
handenen Keimen schöne organische Gebilde werden; die Ruhe, die nicht heute
oder morgen schon die Früchte pflücken will, sondern weiß, wie das Organische
sich nur langsam entwickelt und in seiner Vollendung vielleicht erst ein späteres
Geschlecht erfreut.

Das sind die künstlerischen Aussichten für die dramatische Dichtung der
Zukunft. Aber den Segen in sittlicher und sozialer Hinsicht kann das lebende
Geschlecht uoch genießen. Denn das Volk hat ebenso wenig nur einen leib¬
lichen Magen wie der Gebildete, und seine Phantasie verlangt, wie gesagt, auch
uach Nahrung. Mit Fortbildungs-, Gewerbe- und Zeicheuschnlen ist für diesen
Zweck natürlich gar nichts gethan, denn in ihnen bleibt der Arbeiter ja immer
nur Arbeiter und bei seiner materiellen Facharbeit. Die Nationalökonomie des
Volksgeistes, seiner Güter und Kräfte und ihres Verbrauches ist leider noch
nie in der Weise Gegenstand staatlicher Sorge gewesen, wie es jetzt die Öko¬
nomie der sichtbaren Lebensgüter ist, konnte es wohl auch noch nicht sein.
Wenn mit dem Grundsatz des Gehenlassens auf diesem Gebiete jetzt gebrochen
ist, so sollte es auch auf jenem geschehen; und wenn eine Stadtgemeinde auf
Anregung klar denkender und ideal gesinnter Männer damit den Anfang macht
und das Theater als eines der besten Mittel für ihre Zwecke in Dienst nimmt,
so ist der erste Schritt zum Guten gethan. Berücksichtigen wir nur die sitt¬
lichen und sozialen Wirkungen, so muß die Frage nach den aufzuführenden
Schauspielen, nach der etwa bevorzugten poetischen Richtung in die zweite Stelle
zurücktreten. Mag es Shakespeare sein oder Herrig, wenn es nur gute Speise
ist für das nicht zweckentsprechend genährte Volk. Das ist die Hauptsache.
Kann man doch Rohheit den unbewußten Hunger nach seelischer, nach Gemüts¬
nahrung nennen. Materielle Not wird nie zur brutalen Gewalt treiben, wenn
sich nicht Mißverhältnisse in der geistigen Ökonomie zu ihr gesellen.

Die äußere Atmosphäre beeinflußt den leiblichen Organismus; die reine
sittliche Atmosphäre der Volksbühne wird sich nicht minder wirksam für den
geistigen Organismus erweisen. Wenn die frivole Afterkunst entsittlicht, sollte
die wahre Kunst nicht zu versittlicheu vermögen? Man erwäge, daß der Mann
aus dem Volke solche Einflüsse bisher überhaupt höchst selten erfahren konnte,
und daß nun eine Fülle sittlicher Ideen ihm entgegentreten wird, Selbstver¬
leugnung, Duldsamkeit, Vaterlandsliebe, Hingebung für Wahrheit und Recht,
und was sonst noch Edles die Menschenbrust birgt. Und alle diese Ideen in
schon an sich anziehenden dichterischen Gestalten verkörpert und in einer Sprache,
deren Adel allein ihn schon weihevoll stimmt -- wenn er da nicht in seiner
sittlichen Empfänglichkeit gehoben das Theater verläßt, dann schließt auch die
bestehenden Theater der sogenannten Gebildeten alle als eitel Narretei, auf
daß mit dem Heiligen, der Kunst uicht Unfug getrieben werde!

In Darmstadt besteht eine Kommission des Gartenbauvereins, welche den


Das lvormser Volkstheater.

Hältnisse bei strengem Festhalten an den idealen Grundsätzen, damit aus vor¬
handenen Keimen schöne organische Gebilde werden; die Ruhe, die nicht heute
oder morgen schon die Früchte pflücken will, sondern weiß, wie das Organische
sich nur langsam entwickelt und in seiner Vollendung vielleicht erst ein späteres
Geschlecht erfreut.

Das sind die künstlerischen Aussichten für die dramatische Dichtung der
Zukunft. Aber den Segen in sittlicher und sozialer Hinsicht kann das lebende
Geschlecht uoch genießen. Denn das Volk hat ebenso wenig nur einen leib¬
lichen Magen wie der Gebildete, und seine Phantasie verlangt, wie gesagt, auch
uach Nahrung. Mit Fortbildungs-, Gewerbe- und Zeicheuschnlen ist für diesen
Zweck natürlich gar nichts gethan, denn in ihnen bleibt der Arbeiter ja immer
nur Arbeiter und bei seiner materiellen Facharbeit. Die Nationalökonomie des
Volksgeistes, seiner Güter und Kräfte und ihres Verbrauches ist leider noch
nie in der Weise Gegenstand staatlicher Sorge gewesen, wie es jetzt die Öko¬
nomie der sichtbaren Lebensgüter ist, konnte es wohl auch noch nicht sein.
Wenn mit dem Grundsatz des Gehenlassens auf diesem Gebiete jetzt gebrochen
ist, so sollte es auch auf jenem geschehen; und wenn eine Stadtgemeinde auf
Anregung klar denkender und ideal gesinnter Männer damit den Anfang macht
und das Theater als eines der besten Mittel für ihre Zwecke in Dienst nimmt,
so ist der erste Schritt zum Guten gethan. Berücksichtigen wir nur die sitt¬
lichen und sozialen Wirkungen, so muß die Frage nach den aufzuführenden
Schauspielen, nach der etwa bevorzugten poetischen Richtung in die zweite Stelle
zurücktreten. Mag es Shakespeare sein oder Herrig, wenn es nur gute Speise
ist für das nicht zweckentsprechend genährte Volk. Das ist die Hauptsache.
Kann man doch Rohheit den unbewußten Hunger nach seelischer, nach Gemüts¬
nahrung nennen. Materielle Not wird nie zur brutalen Gewalt treiben, wenn
sich nicht Mißverhältnisse in der geistigen Ökonomie zu ihr gesellen.

Die äußere Atmosphäre beeinflußt den leiblichen Organismus; die reine
sittliche Atmosphäre der Volksbühne wird sich nicht minder wirksam für den
geistigen Organismus erweisen. Wenn die frivole Afterkunst entsittlicht, sollte
die wahre Kunst nicht zu versittlicheu vermögen? Man erwäge, daß der Mann
aus dem Volke solche Einflüsse bisher überhaupt höchst selten erfahren konnte,
und daß nun eine Fülle sittlicher Ideen ihm entgegentreten wird, Selbstver¬
leugnung, Duldsamkeit, Vaterlandsliebe, Hingebung für Wahrheit und Recht,
und was sonst noch Edles die Menschenbrust birgt. Und alle diese Ideen in
schon an sich anziehenden dichterischen Gestalten verkörpert und in einer Sprache,
deren Adel allein ihn schon weihevoll stimmt — wenn er da nicht in seiner
sittlichen Empfänglichkeit gehoben das Theater verläßt, dann schließt auch die
bestehenden Theater der sogenannten Gebildeten alle als eitel Narretei, auf
daß mit dem Heiligen, der Kunst uicht Unfug getrieben werde!

In Darmstadt besteht eine Kommission des Gartenbauvereins, welche den


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[0398] Das lvormser Volkstheater. Hältnisse bei strengem Festhalten an den idealen Grundsätzen, damit aus vor¬ handenen Keimen schöne organische Gebilde werden; die Ruhe, die nicht heute oder morgen schon die Früchte pflücken will, sondern weiß, wie das Organische sich nur langsam entwickelt und in seiner Vollendung vielleicht erst ein späteres Geschlecht erfreut. Das sind die künstlerischen Aussichten für die dramatische Dichtung der Zukunft. Aber den Segen in sittlicher und sozialer Hinsicht kann das lebende Geschlecht uoch genießen. Denn das Volk hat ebenso wenig nur einen leib¬ lichen Magen wie der Gebildete, und seine Phantasie verlangt, wie gesagt, auch uach Nahrung. Mit Fortbildungs-, Gewerbe- und Zeicheuschnlen ist für diesen Zweck natürlich gar nichts gethan, denn in ihnen bleibt der Arbeiter ja immer nur Arbeiter und bei seiner materiellen Facharbeit. Die Nationalökonomie des Volksgeistes, seiner Güter und Kräfte und ihres Verbrauches ist leider noch nie in der Weise Gegenstand staatlicher Sorge gewesen, wie es jetzt die Öko¬ nomie der sichtbaren Lebensgüter ist, konnte es wohl auch noch nicht sein. Wenn mit dem Grundsatz des Gehenlassens auf diesem Gebiete jetzt gebrochen ist, so sollte es auch auf jenem geschehen; und wenn eine Stadtgemeinde auf Anregung klar denkender und ideal gesinnter Männer damit den Anfang macht und das Theater als eines der besten Mittel für ihre Zwecke in Dienst nimmt, so ist der erste Schritt zum Guten gethan. Berücksichtigen wir nur die sitt¬ lichen und sozialen Wirkungen, so muß die Frage nach den aufzuführenden Schauspielen, nach der etwa bevorzugten poetischen Richtung in die zweite Stelle zurücktreten. Mag es Shakespeare sein oder Herrig, wenn es nur gute Speise ist für das nicht zweckentsprechend genährte Volk. Das ist die Hauptsache. Kann man doch Rohheit den unbewußten Hunger nach seelischer, nach Gemüts¬ nahrung nennen. Materielle Not wird nie zur brutalen Gewalt treiben, wenn sich nicht Mißverhältnisse in der geistigen Ökonomie zu ihr gesellen. Die äußere Atmosphäre beeinflußt den leiblichen Organismus; die reine sittliche Atmosphäre der Volksbühne wird sich nicht minder wirksam für den geistigen Organismus erweisen. Wenn die frivole Afterkunst entsittlicht, sollte die wahre Kunst nicht zu versittlicheu vermögen? Man erwäge, daß der Mann aus dem Volke solche Einflüsse bisher überhaupt höchst selten erfahren konnte, und daß nun eine Fülle sittlicher Ideen ihm entgegentreten wird, Selbstver¬ leugnung, Duldsamkeit, Vaterlandsliebe, Hingebung für Wahrheit und Recht, und was sonst noch Edles die Menschenbrust birgt. Und alle diese Ideen in schon an sich anziehenden dichterischen Gestalten verkörpert und in einer Sprache, deren Adel allein ihn schon weihevoll stimmt — wenn er da nicht in seiner sittlichen Empfänglichkeit gehoben das Theater verläßt, dann schließt auch die bestehenden Theater der sogenannten Gebildeten alle als eitel Narretei, auf daß mit dem Heiligen, der Kunst uicht Unfug getrieben werde! In Darmstadt besteht eine Kommission des Gartenbauvereins, welche den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/398>, abgerufen am 22.07.2024.