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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das Wormser Volkstheater.

wunderlieblichsten Motive in diesem Stoffe liegt, wofür die alten Weihnachts- und
Osterlieder den Beweis geben, könnten solche Spiele wohl der Boden sein, auf
dem sich die beiden Konfessionen einträchtiglich begegneten, indem sie mit leib-
haftigen Augen sähen, daß beider Grund doch ein und derselbe ist.

Ein Bedenken haben wir freilich in Betreff der für Worms eigens zu
dichtenden Volksstücke. Wir teilen einigermaßen die Besorgnisse K. Bleibtreus
bezüglich der Herrigscheu Richtung, daß sie dem Theater melodramatisch aufge¬
faßte historische Ideendramen, keine echten Charakterdramen zuführen möchte.
Herrigs Luther freilich war eine Perle, wer hätte uns ein besseres Festspiel
gegeben? Wir dürfen uns immer freuen, einem neuen Stücke dieses Dichters
zu begegnen, wie in der That ein solches für die Eröffnung des Wormser
Theaters u> Aussicht gestellt ist. Er wird uns nur Edles bieten. Aber wir
fürchten, daß seine eigne Art durch ihn Mode werden könnte. Das Melo¬
dramatische verführt ja so leicht zum Typischen, Schablonenhaften.

Möge die Musik, auf deren häufigere Heranziehung schon die eigne, der
Theaterbühne gegenüberliegende Säugerbühne hinweist, ihre Mitwirkung recht
vorsichtig und rücksichtsvoll sein lassen. Von der Süngerbühne sollen bei den
Volks spielen die Gesänge des Chors mit Orgelbegleitung erklingen, "aus dem Zu¬
schauerraume gleichsam die ideale Stimme des Publikums, das bei besonders fest¬
lichen Gelegenheiten, z. B. patriotischer Art, sogar mit einstimmen könnte" (Schön).
So soll auch dadurch die Teilnahme der Zuschauer gesteigert werden, ein solcher
Chor verschmilzt Handlung und Zuschauer in eins. Der Chor wird so "zur
selbstthätige!: Mithcmdluug des Volkes gewordene Zwischenaktsmusik" (Herrig).
Wenn die letztere ihr fremderes Verhältnis zum Drama so aufgiebt und im
Kunstwerke organisch aufgeht, so ist das, wie alles Organische, freudig zu be¬
grüßen, und in Herrigs "Luther" ist allerdings die Musik ein wirkungsvoller
organischer Bestandteil -- wie wäre auch ein Lutherfestspiel ohne Gesang
deutbar? So glücklich wird's aber nicht immer treffen, und nicht bei jedem
Dichter. Wo Musik und Dichtung sich vermählten, hat, abgesehen vom Volks¬
liede, meistens die eine den Taktstock und den Pantoffel zugleich geschwungen,
und die Ehe war nichts weniger als verfassungsmäßig. Es ist an sich ja richtig,
daß die Musik im Drama "dem von einzelnen Szenen ergriffenen Gefühle
willkommene Gelegenheit zum Ausruhen, zur Besänftigung und Sammlung
giebt. Wo immer Musik auftritt, wird durch sie ein ideales Element atmo¬
sphärisch rings verbreitet" (Wyl). Mehr Widerspruch müßte aber schon Herrigs
Behauptung erfahren, daß ohne Musik dem neuen Menschen ein Ausklingen
seiner Gefühle unmöglich sei. Sollten wir in unserm reflektirenden Zeitalter
die Sprache des Herzens schon so verlernt haben?

Jedenfalls müssen der Dichtung ihre Rechte gewahrt bleiben. Sie hat
aber das Recht, in ihrem Werke selbst die höchste Wirkung hervorzubringen,
und diese soll ihr die Musik mit wohlfeileren Mitteln nicht vorweg nehmen-


Das Wormser Volkstheater.

wunderlieblichsten Motive in diesem Stoffe liegt, wofür die alten Weihnachts- und
Osterlieder den Beweis geben, könnten solche Spiele wohl der Boden sein, auf
dem sich die beiden Konfessionen einträchtiglich begegneten, indem sie mit leib-
haftigen Augen sähen, daß beider Grund doch ein und derselbe ist.

Ein Bedenken haben wir freilich in Betreff der für Worms eigens zu
dichtenden Volksstücke. Wir teilen einigermaßen die Besorgnisse K. Bleibtreus
bezüglich der Herrigscheu Richtung, daß sie dem Theater melodramatisch aufge¬
faßte historische Ideendramen, keine echten Charakterdramen zuführen möchte.
Herrigs Luther freilich war eine Perle, wer hätte uns ein besseres Festspiel
gegeben? Wir dürfen uns immer freuen, einem neuen Stücke dieses Dichters
zu begegnen, wie in der That ein solches für die Eröffnung des Wormser
Theaters u> Aussicht gestellt ist. Er wird uns nur Edles bieten. Aber wir
fürchten, daß seine eigne Art durch ihn Mode werden könnte. Das Melo¬
dramatische verführt ja so leicht zum Typischen, Schablonenhaften.

Möge die Musik, auf deren häufigere Heranziehung schon die eigne, der
Theaterbühne gegenüberliegende Säugerbühne hinweist, ihre Mitwirkung recht
vorsichtig und rücksichtsvoll sein lassen. Von der Süngerbühne sollen bei den
Volks spielen die Gesänge des Chors mit Orgelbegleitung erklingen, „aus dem Zu¬
schauerraume gleichsam die ideale Stimme des Publikums, das bei besonders fest¬
lichen Gelegenheiten, z. B. patriotischer Art, sogar mit einstimmen könnte" (Schön).
So soll auch dadurch die Teilnahme der Zuschauer gesteigert werden, ein solcher
Chor verschmilzt Handlung und Zuschauer in eins. Der Chor wird so „zur
selbstthätige!: Mithcmdluug des Volkes gewordene Zwischenaktsmusik" (Herrig).
Wenn die letztere ihr fremderes Verhältnis zum Drama so aufgiebt und im
Kunstwerke organisch aufgeht, so ist das, wie alles Organische, freudig zu be¬
grüßen, und in Herrigs „Luther" ist allerdings die Musik ein wirkungsvoller
organischer Bestandteil — wie wäre auch ein Lutherfestspiel ohne Gesang
deutbar? So glücklich wird's aber nicht immer treffen, und nicht bei jedem
Dichter. Wo Musik und Dichtung sich vermählten, hat, abgesehen vom Volks¬
liede, meistens die eine den Taktstock und den Pantoffel zugleich geschwungen,
und die Ehe war nichts weniger als verfassungsmäßig. Es ist an sich ja richtig,
daß die Musik im Drama „dem von einzelnen Szenen ergriffenen Gefühle
willkommene Gelegenheit zum Ausruhen, zur Besänftigung und Sammlung
giebt. Wo immer Musik auftritt, wird durch sie ein ideales Element atmo¬
sphärisch rings verbreitet" (Wyl). Mehr Widerspruch müßte aber schon Herrigs
Behauptung erfahren, daß ohne Musik dem neuen Menschen ein Ausklingen
seiner Gefühle unmöglich sei. Sollten wir in unserm reflektirenden Zeitalter
die Sprache des Herzens schon so verlernt haben?

Jedenfalls müssen der Dichtung ihre Rechte gewahrt bleiben. Sie hat
aber das Recht, in ihrem Werke selbst die höchste Wirkung hervorzubringen,
und diese soll ihr die Musik mit wohlfeileren Mitteln nicht vorweg nehmen-


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[0396] Das Wormser Volkstheater. wunderlieblichsten Motive in diesem Stoffe liegt, wofür die alten Weihnachts- und Osterlieder den Beweis geben, könnten solche Spiele wohl der Boden sein, auf dem sich die beiden Konfessionen einträchtiglich begegneten, indem sie mit leib- haftigen Augen sähen, daß beider Grund doch ein und derselbe ist. Ein Bedenken haben wir freilich in Betreff der für Worms eigens zu dichtenden Volksstücke. Wir teilen einigermaßen die Besorgnisse K. Bleibtreus bezüglich der Herrigscheu Richtung, daß sie dem Theater melodramatisch aufge¬ faßte historische Ideendramen, keine echten Charakterdramen zuführen möchte. Herrigs Luther freilich war eine Perle, wer hätte uns ein besseres Festspiel gegeben? Wir dürfen uns immer freuen, einem neuen Stücke dieses Dichters zu begegnen, wie in der That ein solches für die Eröffnung des Wormser Theaters u> Aussicht gestellt ist. Er wird uns nur Edles bieten. Aber wir fürchten, daß seine eigne Art durch ihn Mode werden könnte. Das Melo¬ dramatische verführt ja so leicht zum Typischen, Schablonenhaften. Möge die Musik, auf deren häufigere Heranziehung schon die eigne, der Theaterbühne gegenüberliegende Säugerbühne hinweist, ihre Mitwirkung recht vorsichtig und rücksichtsvoll sein lassen. Von der Süngerbühne sollen bei den Volks spielen die Gesänge des Chors mit Orgelbegleitung erklingen, „aus dem Zu¬ schauerraume gleichsam die ideale Stimme des Publikums, das bei besonders fest¬ lichen Gelegenheiten, z. B. patriotischer Art, sogar mit einstimmen könnte" (Schön). So soll auch dadurch die Teilnahme der Zuschauer gesteigert werden, ein solcher Chor verschmilzt Handlung und Zuschauer in eins. Der Chor wird so „zur selbstthätige!: Mithcmdluug des Volkes gewordene Zwischenaktsmusik" (Herrig). Wenn die letztere ihr fremderes Verhältnis zum Drama so aufgiebt und im Kunstwerke organisch aufgeht, so ist das, wie alles Organische, freudig zu be¬ grüßen, und in Herrigs „Luther" ist allerdings die Musik ein wirkungsvoller organischer Bestandteil — wie wäre auch ein Lutherfestspiel ohne Gesang deutbar? So glücklich wird's aber nicht immer treffen, und nicht bei jedem Dichter. Wo Musik und Dichtung sich vermählten, hat, abgesehen vom Volks¬ liede, meistens die eine den Taktstock und den Pantoffel zugleich geschwungen, und die Ehe war nichts weniger als verfassungsmäßig. Es ist an sich ja richtig, daß die Musik im Drama „dem von einzelnen Szenen ergriffenen Gefühle willkommene Gelegenheit zum Ausruhen, zur Besänftigung und Sammlung giebt. Wo immer Musik auftritt, wird durch sie ein ideales Element atmo¬ sphärisch rings verbreitet" (Wyl). Mehr Widerspruch müßte aber schon Herrigs Behauptung erfahren, daß ohne Musik dem neuen Menschen ein Ausklingen seiner Gefühle unmöglich sei. Sollten wir in unserm reflektirenden Zeitalter die Sprache des Herzens schon so verlernt haben? Jedenfalls müssen der Dichtung ihre Rechte gewahrt bleiben. Sie hat aber das Recht, in ihrem Werke selbst die höchste Wirkung hervorzubringen, und diese soll ihr die Musik mit wohlfeileren Mitteln nicht vorweg nehmen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/396>, abgerufen am 22.07.2024.