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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das Wormser Volkstheater.

Oberammergauer spielen ihr Passionsdrama mit dem Ernste, der Würde, welche
einem so erhabenen Gegenstande ziemen. Jede ernste künstlerische Aufgabe, jeder
echt dramatische Vorgang würde in diesen geborenen und erzogenen Künstlern
begeisterte Darsteller finden, jede bedeutende historische Gestalt, jede große
Leidenschaft würde diese Männer künstlerisch interessiren. . . . Die Dorftünstler
spielen ohne die mindeste schauspielerische Koketterie, aber mit dein größten Eifer,
der ihren Darstellungen ein wunderbares Leben, eine packende Einheit verleiht."
Er berichtet auch gelegentlich, daß man einst eine Maria zu ihrer künstlerischen
Ausbildung nach München geschickt habe, sie aber nach ihrer Rückkehr für das
Passionsspiel nicht mehr habe brauchen können.

Daß die Bürger in einem geschichtlichen Vvlksstücke sich selbst spielen, daß
sie eine Handlung darstellen, bei welcher ihre eignen Vorfahren beteiligt waren,
daß sie es thun, und nicht fremde Leute für Geld spielen, das muß bei Dar¬
stellern und Zuschauern die entgegenkommende Stimmung mächtig heben und
das nationale Gefühl steigern. Die Bcrufsschauspieler brauchten sich aber nicht
zu beunruhigen, wenn das Wormser Unternehme" Nachahmung funde. Man
wird sie nie entbehren können, ihre soziale Stellung möchte aber durch solche
Fühlung mit dem Volke nur gebessert und der Wert ihrer Arbeit richtiger und
anerkennender beurteilt werden. Da der Hauptvorzug der Wormser Bestrebungen
überhaupt auf sittlichem und sozialem Gebiete liegt, würde, wenn der undenk¬
bare Fall wirklich eintreten und eine Dilettanteubühne zu stände kommen sollte,
diese eben infolge der sittlichen und sozialen Wirkungen dem Volke am Ende
noch mehr nützen, als die hergebrachten Kunstleistungen.

Welche sittlichende, zu idealeren Denken erziehende Wirkung es hat, wenn
das Volk auch thätigen Anteil am Schauspiele hat, kann man fast auf jeder
Seite von Wyls geistvollen Buche finden. Wer den Verfasser kennt, besonders
aus seineu "Spaziergängen in Neapel," weiß, daß er ein scharfer und kühler
Beobachter ist. Und doch wird er warm, wenn er von der idealisirenden
Wirkung der bäuerlichen Kunstpflege in Oberammergau spricht. Mau kann den
Wormsern also nicht zu hoch gespannte, unerfüllbare Erwartungen vorwerfen,
denn man sieht die Erfüllung in jenem armen baierischen Gebirgsdörfchen. In
jeder Hinsicht ist Oberammergau ein thatsächlicher Beweis für die Nichtigkeit
und Notwendigkeit der Wormser Bestrebungen und die Erreichbarkeit ihrer Ziele.
Wyls Buch ist eine vvrausgeschriebene Rechtfertigung derselben im einzelnen
und im allgemeinen, und es müßte zu den ersten Büchern der Wormser Volks-
thenterbibliothek gehören. Es ist eine Art Taciteische TlMtergermania, unsern
entarteten Bühnenzuständen als ein Spiegel vorgehalten.

Was für Oberammergau gilt und erreicht ist, muß anch für Worms gelten
und sich dort erreichen lassen. Das Passionsspiel ist nnr ein Rest alter, noch
nationaler dramatischer Kunst, wo der Stoff bekannt und volkstümlich war und
das Volk selbst spielte. In Worms kehrt man gewissermaßen zu jenem Aus-


Grenzboten IV. 1887. 49
Das Wormser Volkstheater.

Oberammergauer spielen ihr Passionsdrama mit dem Ernste, der Würde, welche
einem so erhabenen Gegenstande ziemen. Jede ernste künstlerische Aufgabe, jeder
echt dramatische Vorgang würde in diesen geborenen und erzogenen Künstlern
begeisterte Darsteller finden, jede bedeutende historische Gestalt, jede große
Leidenschaft würde diese Männer künstlerisch interessiren. . . . Die Dorftünstler
spielen ohne die mindeste schauspielerische Koketterie, aber mit dein größten Eifer,
der ihren Darstellungen ein wunderbares Leben, eine packende Einheit verleiht."
Er berichtet auch gelegentlich, daß man einst eine Maria zu ihrer künstlerischen
Ausbildung nach München geschickt habe, sie aber nach ihrer Rückkehr für das
Passionsspiel nicht mehr habe brauchen können.

Daß die Bürger in einem geschichtlichen Vvlksstücke sich selbst spielen, daß
sie eine Handlung darstellen, bei welcher ihre eignen Vorfahren beteiligt waren,
daß sie es thun, und nicht fremde Leute für Geld spielen, das muß bei Dar¬
stellern und Zuschauern die entgegenkommende Stimmung mächtig heben und
das nationale Gefühl steigern. Die Bcrufsschauspieler brauchten sich aber nicht
zu beunruhigen, wenn das Wormser Unternehme« Nachahmung funde. Man
wird sie nie entbehren können, ihre soziale Stellung möchte aber durch solche
Fühlung mit dem Volke nur gebessert und der Wert ihrer Arbeit richtiger und
anerkennender beurteilt werden. Da der Hauptvorzug der Wormser Bestrebungen
überhaupt auf sittlichem und sozialem Gebiete liegt, würde, wenn der undenk¬
bare Fall wirklich eintreten und eine Dilettanteubühne zu stände kommen sollte,
diese eben infolge der sittlichen und sozialen Wirkungen dem Volke am Ende
noch mehr nützen, als die hergebrachten Kunstleistungen.

Welche sittlichende, zu idealeren Denken erziehende Wirkung es hat, wenn
das Volk auch thätigen Anteil am Schauspiele hat, kann man fast auf jeder
Seite von Wyls geistvollen Buche finden. Wer den Verfasser kennt, besonders
aus seineu „Spaziergängen in Neapel," weiß, daß er ein scharfer und kühler
Beobachter ist. Und doch wird er warm, wenn er von der idealisirenden
Wirkung der bäuerlichen Kunstpflege in Oberammergau spricht. Mau kann den
Wormsern also nicht zu hoch gespannte, unerfüllbare Erwartungen vorwerfen,
denn man sieht die Erfüllung in jenem armen baierischen Gebirgsdörfchen. In
jeder Hinsicht ist Oberammergau ein thatsächlicher Beweis für die Nichtigkeit
und Notwendigkeit der Wormser Bestrebungen und die Erreichbarkeit ihrer Ziele.
Wyls Buch ist eine vvrausgeschriebene Rechtfertigung derselben im einzelnen
und im allgemeinen, und es müßte zu den ersten Büchern der Wormser Volks-
thenterbibliothek gehören. Es ist eine Art Taciteische TlMtergermania, unsern
entarteten Bühnenzuständen als ein Spiegel vorgehalten.

Was für Oberammergau gilt und erreicht ist, muß anch für Worms gelten
und sich dort erreichen lassen. Das Passionsspiel ist nnr ein Rest alter, noch
nationaler dramatischer Kunst, wo der Stoff bekannt und volkstümlich war und
das Volk selbst spielte. In Worms kehrt man gewissermaßen zu jenem Aus-


Grenzboten IV. 1887. 49
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[0393] Das Wormser Volkstheater. Oberammergauer spielen ihr Passionsdrama mit dem Ernste, der Würde, welche einem so erhabenen Gegenstande ziemen. Jede ernste künstlerische Aufgabe, jeder echt dramatische Vorgang würde in diesen geborenen und erzogenen Künstlern begeisterte Darsteller finden, jede bedeutende historische Gestalt, jede große Leidenschaft würde diese Männer künstlerisch interessiren. . . . Die Dorftünstler spielen ohne die mindeste schauspielerische Koketterie, aber mit dein größten Eifer, der ihren Darstellungen ein wunderbares Leben, eine packende Einheit verleiht." Er berichtet auch gelegentlich, daß man einst eine Maria zu ihrer künstlerischen Ausbildung nach München geschickt habe, sie aber nach ihrer Rückkehr für das Passionsspiel nicht mehr habe brauchen können. Daß die Bürger in einem geschichtlichen Vvlksstücke sich selbst spielen, daß sie eine Handlung darstellen, bei welcher ihre eignen Vorfahren beteiligt waren, daß sie es thun, und nicht fremde Leute für Geld spielen, das muß bei Dar¬ stellern und Zuschauern die entgegenkommende Stimmung mächtig heben und das nationale Gefühl steigern. Die Bcrufsschauspieler brauchten sich aber nicht zu beunruhigen, wenn das Wormser Unternehme« Nachahmung funde. Man wird sie nie entbehren können, ihre soziale Stellung möchte aber durch solche Fühlung mit dem Volke nur gebessert und der Wert ihrer Arbeit richtiger und anerkennender beurteilt werden. Da der Hauptvorzug der Wormser Bestrebungen überhaupt auf sittlichem und sozialem Gebiete liegt, würde, wenn der undenk¬ bare Fall wirklich eintreten und eine Dilettanteubühne zu stände kommen sollte, diese eben infolge der sittlichen und sozialen Wirkungen dem Volke am Ende noch mehr nützen, als die hergebrachten Kunstleistungen. Welche sittlichende, zu idealeren Denken erziehende Wirkung es hat, wenn das Volk auch thätigen Anteil am Schauspiele hat, kann man fast auf jeder Seite von Wyls geistvollen Buche finden. Wer den Verfasser kennt, besonders aus seineu „Spaziergängen in Neapel," weiß, daß er ein scharfer und kühler Beobachter ist. Und doch wird er warm, wenn er von der idealisirenden Wirkung der bäuerlichen Kunstpflege in Oberammergau spricht. Mau kann den Wormsern also nicht zu hoch gespannte, unerfüllbare Erwartungen vorwerfen, denn man sieht die Erfüllung in jenem armen baierischen Gebirgsdörfchen. In jeder Hinsicht ist Oberammergau ein thatsächlicher Beweis für die Nichtigkeit und Notwendigkeit der Wormser Bestrebungen und die Erreichbarkeit ihrer Ziele. Wyls Buch ist eine vvrausgeschriebene Rechtfertigung derselben im einzelnen und im allgemeinen, und es müßte zu den ersten Büchern der Wormser Volks- thenterbibliothek gehören. Es ist eine Art Taciteische TlMtergermania, unsern entarteten Bühnenzuständen als ein Spiegel vorgehalten. Was für Oberammergau gilt und erreicht ist, muß anch für Worms gelten und sich dort erreichen lassen. Das Passionsspiel ist nnr ein Rest alter, noch nationaler dramatischer Kunst, wo der Stoff bekannt und volkstümlich war und das Volk selbst spielte. In Worms kehrt man gewissermaßen zu jenem Aus- Grenzboten IV. 1887. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/393>, abgerufen am 22.07.2024.