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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das lvormser Volkstheater.

liehen Kerne. Es kommt nur darauf an, die Keime des Idealismus zu ent¬
wickeln, und wer dem Volke im allgemeinen die Empfänglichkeit für das Große
und Edle der wahren Kunst abspricht, kennt es nicht. Es ist wahr, gemeinste
Gassenhauer, meist aus Großstädte,, verbreitet, wo man mehr eine zusammen¬
gewürfelte Masse als das Volk findet, hört man allerwege, oft aus zartestem
Kindermunde, und ihren vergiftenden Einfluß kann mau nicht leicht zu hoch
anschlagen. Denn die nackte äußere Gemeinheit macht roh und verdirbt, und
die noch gefährlichere innere nimmt durch den frivolen parodistischen Ton die
Schen vor Altehrwürdigem, Erhabenem und stumpft die Fähigkeit ab, Schönes
und Edles auf sich wirken zu lassen und selbst unbefangen, menschlich gut und
natürlich zu empfinden und zu handeln. Aber man kann die so in ihrem Gemüte
Geschädigten nicht mit viel mehr Recht verdammen, als einen mit Gift geimpften,
dessen Leib durchseucht ist. Der Mensch lebt nicht vom Brote allein, auch der
Geist hat Hunger, und wer will diejenigen ganz verurteilen, die in Ermangelung
eines Bessern Schädliches und Verdorbenes genießen? Deshalb lösen sich jene
Gassenhauer und Tingeltangellieder auch beständig ab, man könnte eine ganze
Geschichte derselben schreiben. Herrig nennt die Bcschüftigungslosigkeit der
Phantasie das größte Übel, welches den Menschen befallen kann, und die große
Gefahr unsrer Zeit. "Ist die Phantasie nicht mit Edlem und Gutem, Wahren
und Schönem beschäftigt, so drängen sich die bösen Gelüste ein. Ein solche
furchtbare Periode hat Deutschland durchgemacht in der Zeit von Luthers Tode
bis weit nach dem dreißigjährigen Kriege -- die Kunst fehlte ihm, und das
Kunstgewerbe konnte ihm nicht helfen." Der kluge Staatsmann sollte daher
nach jedem Mittel greifen, das diesem Übel entgegenwirkt. Es ist eine politische
Aufgabe, den geistigen Hunger des Volkes zu stillen und seine Phantasie zu
beschäftigen. Das ist wieder keine neue Ansicht. Schiller setzt am Ende seiner
Abhandlung über die Schaubühne als moralische Anstalt schon auseinander,
daß die menschliche Natur es gar nicht erträgt, ununterbrochen und ewig auf
der Folter der Geschäfte zu liegen, und daß die Reize der Sinne mit ihrer
Befriedigung sterben. "Der Mensch, überladen von tierischem Genuß, der langen
Anstrengung müde, von ewigem Triebe nach Thätigkeit gequält, dürstet nach
besseren, auserleseneren Vergnügungen oder stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen,
die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchan¬
tische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang
ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volkes nicht
zu lenken weiß." Da muß nach Schillers Meinung die Schaubühne als Helferin
eintreten, "die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit An¬
strengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil
der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird."
Wo aber hat man die Hilfe der Schaubühne wirklich in Anspruch genommen?
Die Ansicht, daß dem Volke so nicht beizukommen wäre, kann sich auf nichts


Das lvormser Volkstheater.

liehen Kerne. Es kommt nur darauf an, die Keime des Idealismus zu ent¬
wickeln, und wer dem Volke im allgemeinen die Empfänglichkeit für das Große
und Edle der wahren Kunst abspricht, kennt es nicht. Es ist wahr, gemeinste
Gassenhauer, meist aus Großstädte,, verbreitet, wo man mehr eine zusammen¬
gewürfelte Masse als das Volk findet, hört man allerwege, oft aus zartestem
Kindermunde, und ihren vergiftenden Einfluß kann mau nicht leicht zu hoch
anschlagen. Denn die nackte äußere Gemeinheit macht roh und verdirbt, und
die noch gefährlichere innere nimmt durch den frivolen parodistischen Ton die
Schen vor Altehrwürdigem, Erhabenem und stumpft die Fähigkeit ab, Schönes
und Edles auf sich wirken zu lassen und selbst unbefangen, menschlich gut und
natürlich zu empfinden und zu handeln. Aber man kann die so in ihrem Gemüte
Geschädigten nicht mit viel mehr Recht verdammen, als einen mit Gift geimpften,
dessen Leib durchseucht ist. Der Mensch lebt nicht vom Brote allein, auch der
Geist hat Hunger, und wer will diejenigen ganz verurteilen, die in Ermangelung
eines Bessern Schädliches und Verdorbenes genießen? Deshalb lösen sich jene
Gassenhauer und Tingeltangellieder auch beständig ab, man könnte eine ganze
Geschichte derselben schreiben. Herrig nennt die Bcschüftigungslosigkeit der
Phantasie das größte Übel, welches den Menschen befallen kann, und die große
Gefahr unsrer Zeit. „Ist die Phantasie nicht mit Edlem und Gutem, Wahren
und Schönem beschäftigt, so drängen sich die bösen Gelüste ein. Ein solche
furchtbare Periode hat Deutschland durchgemacht in der Zeit von Luthers Tode
bis weit nach dem dreißigjährigen Kriege — die Kunst fehlte ihm, und das
Kunstgewerbe konnte ihm nicht helfen." Der kluge Staatsmann sollte daher
nach jedem Mittel greifen, das diesem Übel entgegenwirkt. Es ist eine politische
Aufgabe, den geistigen Hunger des Volkes zu stillen und seine Phantasie zu
beschäftigen. Das ist wieder keine neue Ansicht. Schiller setzt am Ende seiner
Abhandlung über die Schaubühne als moralische Anstalt schon auseinander,
daß die menschliche Natur es gar nicht erträgt, ununterbrochen und ewig auf
der Folter der Geschäfte zu liegen, und daß die Reize der Sinne mit ihrer
Befriedigung sterben. „Der Mensch, überladen von tierischem Genuß, der langen
Anstrengung müde, von ewigem Triebe nach Thätigkeit gequält, dürstet nach
besseren, auserleseneren Vergnügungen oder stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen,
die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchan¬
tische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang
ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volkes nicht
zu lenken weiß." Da muß nach Schillers Meinung die Schaubühne als Helferin
eintreten, „die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit An¬
strengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil
der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird."
Wo aber hat man die Hilfe der Schaubühne wirklich in Anspruch genommen?
Die Ansicht, daß dem Volke so nicht beizukommen wäre, kann sich auf nichts


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[0346] Das lvormser Volkstheater. liehen Kerne. Es kommt nur darauf an, die Keime des Idealismus zu ent¬ wickeln, und wer dem Volke im allgemeinen die Empfänglichkeit für das Große und Edle der wahren Kunst abspricht, kennt es nicht. Es ist wahr, gemeinste Gassenhauer, meist aus Großstädte,, verbreitet, wo man mehr eine zusammen¬ gewürfelte Masse als das Volk findet, hört man allerwege, oft aus zartestem Kindermunde, und ihren vergiftenden Einfluß kann mau nicht leicht zu hoch anschlagen. Denn die nackte äußere Gemeinheit macht roh und verdirbt, und die noch gefährlichere innere nimmt durch den frivolen parodistischen Ton die Schen vor Altehrwürdigem, Erhabenem und stumpft die Fähigkeit ab, Schönes und Edles auf sich wirken zu lassen und selbst unbefangen, menschlich gut und natürlich zu empfinden und zu handeln. Aber man kann die so in ihrem Gemüte Geschädigten nicht mit viel mehr Recht verdammen, als einen mit Gift geimpften, dessen Leib durchseucht ist. Der Mensch lebt nicht vom Brote allein, auch der Geist hat Hunger, und wer will diejenigen ganz verurteilen, die in Ermangelung eines Bessern Schädliches und Verdorbenes genießen? Deshalb lösen sich jene Gassenhauer und Tingeltangellieder auch beständig ab, man könnte eine ganze Geschichte derselben schreiben. Herrig nennt die Bcschüftigungslosigkeit der Phantasie das größte Übel, welches den Menschen befallen kann, und die große Gefahr unsrer Zeit. „Ist die Phantasie nicht mit Edlem und Gutem, Wahren und Schönem beschäftigt, so drängen sich die bösen Gelüste ein. Ein solche furchtbare Periode hat Deutschland durchgemacht in der Zeit von Luthers Tode bis weit nach dem dreißigjährigen Kriege — die Kunst fehlte ihm, und das Kunstgewerbe konnte ihm nicht helfen." Der kluge Staatsmann sollte daher nach jedem Mittel greifen, das diesem Übel entgegenwirkt. Es ist eine politische Aufgabe, den geistigen Hunger des Volkes zu stillen und seine Phantasie zu beschäftigen. Das ist wieder keine neue Ansicht. Schiller setzt am Ende seiner Abhandlung über die Schaubühne als moralische Anstalt schon auseinander, daß die menschliche Natur es gar nicht erträgt, ununterbrochen und ewig auf der Folter der Geschäfte zu liegen, und daß die Reize der Sinne mit ihrer Befriedigung sterben. „Der Mensch, überladen von tierischem Genuß, der langen Anstrengung müde, von ewigem Triebe nach Thätigkeit gequält, dürstet nach besseren, auserleseneren Vergnügungen oder stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchan¬ tische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volkes nicht zu lenken weiß." Da muß nach Schillers Meinung die Schaubühne als Helferin eintreten, „die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit An¬ strengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird." Wo aber hat man die Hilfe der Schaubühne wirklich in Anspruch genommen? Die Ansicht, daß dem Volke so nicht beizukommen wäre, kann sich auf nichts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/346>, abgerufen am 22.07.2024.