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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das lvormser Volkstheater.

ebenso sein ihm durch das Lutherfest zugeführter Freund Herrig in seiner Schrift
"Luxusthcater und Volksbühne." Beide ergänzen sich und gelangen zu den¬
selben Ergebnissen. Herrig theoretisirt mehr und überläßt manchmal nach kurzen,
geistvollen Andeutungen dem Leser, die Folgerungen selbst zu ziehen. Schöns
Ausführungen verraten den Mann des praktischen Lebens, der gewohnt ist, die
Eingebungen seines Idealismus immer gleich ans ihre Durchführbarkeit hin zu
prüfen. Es lohnt sich Wohl der Mühe, die ethische und soziale Seite des
Wormser Unternehmens etwas genauer zu betrachten.

Daß die soziale Frage nicht bloß eine Magenfrage ist, daß selbst die gründ¬
lichsten Versuche ihrer Lösung auf rein materiellem Gebiet und mit rein mate¬
riellen Mitteln allein allseitig genügende und dauernde Ergebnisse nicht haben
werden, ist der einleitende Gedanke der Herrigschen Schrift. Der Mensch lebt
nicht vom Brote allein. "Wovon die Leute leben," hat unlängst der russische
Dichter Graf Leo Tolstoi in einer poetischen, von der tiefsten sittlichen Idee
durchzogenen Legende dem Volke gesagt: "Und ich erfuhr, daß jeder Mensch
nicht von den Sorgen um sich selber lebt, sondern von der Liebe," d. h. von
dem wahren Idealismus in jeder Gestalt als dem Gegenteil von Egoismus --
in diesem Sinne soll das Wort hier immer gebraucht werden.

Die Religion, die Kirche, in der die Liebe gepredigt wird, hat einen eben¬
solchen Beruf zur Lösung der sozialen Frage, als die rin greifbaren, sinnlichen
Dingen sich beschäftigende Nationalökonomie. Ihre Aufgabe ist bei der Un¬
gunst der Zeit aber eine so schwierige, daß es fast notwendig erscheint, ihr
Wirken durch das ewige Gotteswort zu unterstützen durch das sittliche und
schöne Menschcnwort, wie es in einer wirklichen Kunstschöpfung von der Bühne
zu uns ertönt. Vielleicht könnte diese Kunst, die auf das Volk am meisten zu
wirken vermag, bei der Arbeit an der sozialen Frage die Mitte zwischen Güter¬
lehre und Heilslehre einnehmen. Denn die Kunst haftet mit ihren Wurzeln in
der Sinnlichkeit, aber ihre Krone erhebt sich himmelwärts in den freien Äther
der Sittlichkeit. "Welche Verstärkung für Religion und Gesetze -- ruft Schiller
aus --, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten!" Was Schiller, dessen
Idealismus mit einem wunderbar praktischen Sinne vereint war, vor hundert
Jahren aussprach, gilt noch heute. Und wenn seine Ideen von der sittlich er¬
ziehenden Wirkung der Kunst sich noch wenig praktisch bewährt haben, so haben
nicht diese es verschuldet, auch nicht eine überschwängliche Ansicht von der Be¬
deutung des Theaters, sondern der Umstand, daß die Kunst dem Volke noch
nicht in der Art dargeboten wurde, daß sie ihm unbedingt zugänglich war, daß
ihrer Mühenden Wirkung keine äußern Hindernisse entgegenstanden, und daß
sie immer selbst so beschaffen war, daß sie sittlich wirken mußte. Wäre es
anders gewesen, die Kirche hätte vielleicht ein leichter zu bearbeitendes Feld,
und es stünde besser um Religiosität und Sittlichkeit.

Dennoch zweifeln nur dem Volke fernstehende Moralisten an seinem sitt-


Grenzbotcn IV. 1887. 43
Das lvormser Volkstheater.

ebenso sein ihm durch das Lutherfest zugeführter Freund Herrig in seiner Schrift
„Luxusthcater und Volksbühne." Beide ergänzen sich und gelangen zu den¬
selben Ergebnissen. Herrig theoretisirt mehr und überläßt manchmal nach kurzen,
geistvollen Andeutungen dem Leser, die Folgerungen selbst zu ziehen. Schöns
Ausführungen verraten den Mann des praktischen Lebens, der gewohnt ist, die
Eingebungen seines Idealismus immer gleich ans ihre Durchführbarkeit hin zu
prüfen. Es lohnt sich Wohl der Mühe, die ethische und soziale Seite des
Wormser Unternehmens etwas genauer zu betrachten.

Daß die soziale Frage nicht bloß eine Magenfrage ist, daß selbst die gründ¬
lichsten Versuche ihrer Lösung auf rein materiellem Gebiet und mit rein mate¬
riellen Mitteln allein allseitig genügende und dauernde Ergebnisse nicht haben
werden, ist der einleitende Gedanke der Herrigschen Schrift. Der Mensch lebt
nicht vom Brote allein. „Wovon die Leute leben," hat unlängst der russische
Dichter Graf Leo Tolstoi in einer poetischen, von der tiefsten sittlichen Idee
durchzogenen Legende dem Volke gesagt: „Und ich erfuhr, daß jeder Mensch
nicht von den Sorgen um sich selber lebt, sondern von der Liebe," d. h. von
dem wahren Idealismus in jeder Gestalt als dem Gegenteil von Egoismus —
in diesem Sinne soll das Wort hier immer gebraucht werden.

Die Religion, die Kirche, in der die Liebe gepredigt wird, hat einen eben¬
solchen Beruf zur Lösung der sozialen Frage, als die rin greifbaren, sinnlichen
Dingen sich beschäftigende Nationalökonomie. Ihre Aufgabe ist bei der Un¬
gunst der Zeit aber eine so schwierige, daß es fast notwendig erscheint, ihr
Wirken durch das ewige Gotteswort zu unterstützen durch das sittliche und
schöne Menschcnwort, wie es in einer wirklichen Kunstschöpfung von der Bühne
zu uns ertönt. Vielleicht könnte diese Kunst, die auf das Volk am meisten zu
wirken vermag, bei der Arbeit an der sozialen Frage die Mitte zwischen Güter¬
lehre und Heilslehre einnehmen. Denn die Kunst haftet mit ihren Wurzeln in
der Sinnlichkeit, aber ihre Krone erhebt sich himmelwärts in den freien Äther
der Sittlichkeit. „Welche Verstärkung für Religion und Gesetze — ruft Schiller
aus —, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten!" Was Schiller, dessen
Idealismus mit einem wunderbar praktischen Sinne vereint war, vor hundert
Jahren aussprach, gilt noch heute. Und wenn seine Ideen von der sittlich er¬
ziehenden Wirkung der Kunst sich noch wenig praktisch bewährt haben, so haben
nicht diese es verschuldet, auch nicht eine überschwängliche Ansicht von der Be¬
deutung des Theaters, sondern der Umstand, daß die Kunst dem Volke noch
nicht in der Art dargeboten wurde, daß sie ihm unbedingt zugänglich war, daß
ihrer Mühenden Wirkung keine äußern Hindernisse entgegenstanden, und daß
sie immer selbst so beschaffen war, daß sie sittlich wirken mußte. Wäre es
anders gewesen, die Kirche hätte vielleicht ein leichter zu bearbeitendes Feld,
und es stünde besser um Religiosität und Sittlichkeit.

Dennoch zweifeln nur dem Volke fernstehende Moralisten an seinem sitt-


Grenzbotcn IV. 1887. 43
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[0345] Das lvormser Volkstheater. ebenso sein ihm durch das Lutherfest zugeführter Freund Herrig in seiner Schrift „Luxusthcater und Volksbühne." Beide ergänzen sich und gelangen zu den¬ selben Ergebnissen. Herrig theoretisirt mehr und überläßt manchmal nach kurzen, geistvollen Andeutungen dem Leser, die Folgerungen selbst zu ziehen. Schöns Ausführungen verraten den Mann des praktischen Lebens, der gewohnt ist, die Eingebungen seines Idealismus immer gleich ans ihre Durchführbarkeit hin zu prüfen. Es lohnt sich Wohl der Mühe, die ethische und soziale Seite des Wormser Unternehmens etwas genauer zu betrachten. Daß die soziale Frage nicht bloß eine Magenfrage ist, daß selbst die gründ¬ lichsten Versuche ihrer Lösung auf rein materiellem Gebiet und mit rein mate¬ riellen Mitteln allein allseitig genügende und dauernde Ergebnisse nicht haben werden, ist der einleitende Gedanke der Herrigschen Schrift. Der Mensch lebt nicht vom Brote allein. „Wovon die Leute leben," hat unlängst der russische Dichter Graf Leo Tolstoi in einer poetischen, von der tiefsten sittlichen Idee durchzogenen Legende dem Volke gesagt: „Und ich erfuhr, daß jeder Mensch nicht von den Sorgen um sich selber lebt, sondern von der Liebe," d. h. von dem wahren Idealismus in jeder Gestalt als dem Gegenteil von Egoismus — in diesem Sinne soll das Wort hier immer gebraucht werden. Die Religion, die Kirche, in der die Liebe gepredigt wird, hat einen eben¬ solchen Beruf zur Lösung der sozialen Frage, als die rin greifbaren, sinnlichen Dingen sich beschäftigende Nationalökonomie. Ihre Aufgabe ist bei der Un¬ gunst der Zeit aber eine so schwierige, daß es fast notwendig erscheint, ihr Wirken durch das ewige Gotteswort zu unterstützen durch das sittliche und schöne Menschcnwort, wie es in einer wirklichen Kunstschöpfung von der Bühne zu uns ertönt. Vielleicht könnte diese Kunst, die auf das Volk am meisten zu wirken vermag, bei der Arbeit an der sozialen Frage die Mitte zwischen Güter¬ lehre und Heilslehre einnehmen. Denn die Kunst haftet mit ihren Wurzeln in der Sinnlichkeit, aber ihre Krone erhebt sich himmelwärts in den freien Äther der Sittlichkeit. „Welche Verstärkung für Religion und Gesetze — ruft Schiller aus —, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten!" Was Schiller, dessen Idealismus mit einem wunderbar praktischen Sinne vereint war, vor hundert Jahren aussprach, gilt noch heute. Und wenn seine Ideen von der sittlich er¬ ziehenden Wirkung der Kunst sich noch wenig praktisch bewährt haben, so haben nicht diese es verschuldet, auch nicht eine überschwängliche Ansicht von der Be¬ deutung des Theaters, sondern der Umstand, daß die Kunst dem Volke noch nicht in der Art dargeboten wurde, daß sie ihm unbedingt zugänglich war, daß ihrer Mühenden Wirkung keine äußern Hindernisse entgegenstanden, und daß sie immer selbst so beschaffen war, daß sie sittlich wirken mußte. Wäre es anders gewesen, die Kirche hätte vielleicht ein leichter zu bearbeitendes Feld, und es stünde besser um Religiosität und Sittlichkeit. Dennoch zweifeln nur dem Volke fernstehende Moralisten an seinem sitt- Grenzbotcn IV. 1887. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/345>, abgerufen am 22.07.2024.