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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das tvormser Volkstheater.

wenden und sein Gemütsleben zu bilden und zu veredeln. Diese Erkenntnis ist
nicht neu. Wir wissen, was das Drama den Griechen bedeutete, und unsre
großen Dichter, Schiller vor allen, haben durch Dichtung und Lehre dafür ge¬
wirkt, daß die deutsche Bühne, "die dem nach Thätigkeit dürstenden Geiste einen
unendlichen Kreis eröffnet, jeder Seelenkraft Nahrung giebt, ohne eine einzige
zu überspannen, und die Bildung des Verstandes und des Herzens mit der
edelsten Unterhaltung vereinigt" (Die Schaubühne, als eine moralische Anstalt be¬
trachtet), wirklich eine Bildungsaustcilt werde für das ganze Volk. Aber wie
viele lesen heute noch die Aufsätze Schillers, in denen er von der ästhetischen
Erziehung des Menschen im allgemeinen und der Bedeutung des Theaters
im besondern handelt? Und der große Dichter würde sich wundern, wenn er
heute sähe, was aus seiner Theorie geworden ist, und wie wir noch immer weit
davon entfernt sind, eine nationale Bühne als Volksbildungsanstalt zu besitzen,
da wir doch wirklich eine Nation geworden sind. "Von dem Versuche einer
Einwirkung auf das Volk als solches ist nirgends auch nur eine Ahnung zu
spüren" (Herrig).

Es ist bei der Zerfahrenheit, Stillosigkeit und Unnatur des deutschen Theaters
so leicht, dagegen zu eifern, daß man eher fürchten muß, in eine Kapuzinade zu ver¬
fallen. Die großen Schäden sind auch schon oft dargelegt worden, neuerdings z. B.
von H. v. Wolzogen (Bahr. Bl. 84/85) und von Hcrrig (Luxustheater und Volks¬
bühne, 1887). Schaustellungen, "Aktnalitäten" und Possen, heimische Trivialitäten
und ausländische Gemeinheiten bilden einen großen Teil des Repertoires. Alberne
Stücke werden unzähligemale gegeben, weil ein berühmter Schauspieler in einer
Rolle seine Kunst zeigen kann, und ihre Aufführungen haben wenig mehr idealen
Wert als Taschenspielerkunststücke. Das übermäßige Interesse'an den dar¬
stellenden Künstlern statt an dem Dargestellten beweist schon Zerfahrenheit
genug. Ja die Unncitnr ist so weit gediehen, daß ausländische Tragöden ihre
eigne Rolle in ihrer Muttersprache spielen durften. Da könnten wir einmal
von den Franzosen lernen. Man urteile über ihr Theater und seine Ziele, wie
man will, aber Einheit und Stil wird man ihm nicht absprechen können. Der
jüngste Lohengrinskandal war zum Teil eine Ausgeburt des wahnwitzigen Chau¬
vinismus, zum Teil aber auch eine Folge der Abneigung der Franzosen gegen
Wagners deutsche Musik. Statt die Franzosen in diesem nationalen Empfinden
zum Muster zu nehmen, ahmen wir ihre Theaterstücke nach, die unter andern Ver¬
hältnissen geschrieben und für andre Zuschauer berechnet sind, und geben unter
ungeheuerm Beifall ihre Ehebruchsdramen. Und wenn auch manchmal bei Dar¬
stellung eines edlere" Schauspiels etwas für das Gemüt abfallen könnte, so
beeinträchtigen mit dem Wesen des bestehenden Theaters zusammenhängende
Umstände doch die volle und allgemeine Wirkung. "Meist aber wird sogar ein
förmlicher Krieg gegen das Monumentale geführt. Anstatt zu begreisen, daß
gerade das vermeintlich ungebildete Volk am meisten durch das Große und Er-


Das tvormser Volkstheater.

wenden und sein Gemütsleben zu bilden und zu veredeln. Diese Erkenntnis ist
nicht neu. Wir wissen, was das Drama den Griechen bedeutete, und unsre
großen Dichter, Schiller vor allen, haben durch Dichtung und Lehre dafür ge¬
wirkt, daß die deutsche Bühne, „die dem nach Thätigkeit dürstenden Geiste einen
unendlichen Kreis eröffnet, jeder Seelenkraft Nahrung giebt, ohne eine einzige
zu überspannen, und die Bildung des Verstandes und des Herzens mit der
edelsten Unterhaltung vereinigt" (Die Schaubühne, als eine moralische Anstalt be¬
trachtet), wirklich eine Bildungsaustcilt werde für das ganze Volk. Aber wie
viele lesen heute noch die Aufsätze Schillers, in denen er von der ästhetischen
Erziehung des Menschen im allgemeinen und der Bedeutung des Theaters
im besondern handelt? Und der große Dichter würde sich wundern, wenn er
heute sähe, was aus seiner Theorie geworden ist, und wie wir noch immer weit
davon entfernt sind, eine nationale Bühne als Volksbildungsanstalt zu besitzen,
da wir doch wirklich eine Nation geworden sind. „Von dem Versuche einer
Einwirkung auf das Volk als solches ist nirgends auch nur eine Ahnung zu
spüren" (Herrig).

Es ist bei der Zerfahrenheit, Stillosigkeit und Unnatur des deutschen Theaters
so leicht, dagegen zu eifern, daß man eher fürchten muß, in eine Kapuzinade zu ver¬
fallen. Die großen Schäden sind auch schon oft dargelegt worden, neuerdings z. B.
von H. v. Wolzogen (Bahr. Bl. 84/85) und von Hcrrig (Luxustheater und Volks¬
bühne, 1887). Schaustellungen, „Aktnalitäten" und Possen, heimische Trivialitäten
und ausländische Gemeinheiten bilden einen großen Teil des Repertoires. Alberne
Stücke werden unzähligemale gegeben, weil ein berühmter Schauspieler in einer
Rolle seine Kunst zeigen kann, und ihre Aufführungen haben wenig mehr idealen
Wert als Taschenspielerkunststücke. Das übermäßige Interesse'an den dar¬
stellenden Künstlern statt an dem Dargestellten beweist schon Zerfahrenheit
genug. Ja die Unncitnr ist so weit gediehen, daß ausländische Tragöden ihre
eigne Rolle in ihrer Muttersprache spielen durften. Da könnten wir einmal
von den Franzosen lernen. Man urteile über ihr Theater und seine Ziele, wie
man will, aber Einheit und Stil wird man ihm nicht absprechen können. Der
jüngste Lohengrinskandal war zum Teil eine Ausgeburt des wahnwitzigen Chau¬
vinismus, zum Teil aber auch eine Folge der Abneigung der Franzosen gegen
Wagners deutsche Musik. Statt die Franzosen in diesem nationalen Empfinden
zum Muster zu nehmen, ahmen wir ihre Theaterstücke nach, die unter andern Ver¬
hältnissen geschrieben und für andre Zuschauer berechnet sind, und geben unter
ungeheuerm Beifall ihre Ehebruchsdramen. Und wenn auch manchmal bei Dar¬
stellung eines edlere» Schauspiels etwas für das Gemüt abfallen könnte, so
beeinträchtigen mit dem Wesen des bestehenden Theaters zusammenhängende
Umstände doch die volle und allgemeine Wirkung. „Meist aber wird sogar ein
förmlicher Krieg gegen das Monumentale geführt. Anstatt zu begreisen, daß
gerade das vermeintlich ungebildete Volk am meisten durch das Große und Er-


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[0342] Das tvormser Volkstheater. wenden und sein Gemütsleben zu bilden und zu veredeln. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Wir wissen, was das Drama den Griechen bedeutete, und unsre großen Dichter, Schiller vor allen, haben durch Dichtung und Lehre dafür ge¬ wirkt, daß die deutsche Bühne, „die dem nach Thätigkeit dürstenden Geiste einen unendlichen Kreis eröffnet, jeder Seelenkraft Nahrung giebt, ohne eine einzige zu überspannen, und die Bildung des Verstandes und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung vereinigt" (Die Schaubühne, als eine moralische Anstalt be¬ trachtet), wirklich eine Bildungsaustcilt werde für das ganze Volk. Aber wie viele lesen heute noch die Aufsätze Schillers, in denen er von der ästhetischen Erziehung des Menschen im allgemeinen und der Bedeutung des Theaters im besondern handelt? Und der große Dichter würde sich wundern, wenn er heute sähe, was aus seiner Theorie geworden ist, und wie wir noch immer weit davon entfernt sind, eine nationale Bühne als Volksbildungsanstalt zu besitzen, da wir doch wirklich eine Nation geworden sind. „Von dem Versuche einer Einwirkung auf das Volk als solches ist nirgends auch nur eine Ahnung zu spüren" (Herrig). Es ist bei der Zerfahrenheit, Stillosigkeit und Unnatur des deutschen Theaters so leicht, dagegen zu eifern, daß man eher fürchten muß, in eine Kapuzinade zu ver¬ fallen. Die großen Schäden sind auch schon oft dargelegt worden, neuerdings z. B. von H. v. Wolzogen (Bahr. Bl. 84/85) und von Hcrrig (Luxustheater und Volks¬ bühne, 1887). Schaustellungen, „Aktnalitäten" und Possen, heimische Trivialitäten und ausländische Gemeinheiten bilden einen großen Teil des Repertoires. Alberne Stücke werden unzähligemale gegeben, weil ein berühmter Schauspieler in einer Rolle seine Kunst zeigen kann, und ihre Aufführungen haben wenig mehr idealen Wert als Taschenspielerkunststücke. Das übermäßige Interesse'an den dar¬ stellenden Künstlern statt an dem Dargestellten beweist schon Zerfahrenheit genug. Ja die Unncitnr ist so weit gediehen, daß ausländische Tragöden ihre eigne Rolle in ihrer Muttersprache spielen durften. Da könnten wir einmal von den Franzosen lernen. Man urteile über ihr Theater und seine Ziele, wie man will, aber Einheit und Stil wird man ihm nicht absprechen können. Der jüngste Lohengrinskandal war zum Teil eine Ausgeburt des wahnwitzigen Chau¬ vinismus, zum Teil aber auch eine Folge der Abneigung der Franzosen gegen Wagners deutsche Musik. Statt die Franzosen in diesem nationalen Empfinden zum Muster zu nehmen, ahmen wir ihre Theaterstücke nach, die unter andern Ver¬ hältnissen geschrieben und für andre Zuschauer berechnet sind, und geben unter ungeheuerm Beifall ihre Ehebruchsdramen. Und wenn auch manchmal bei Dar¬ stellung eines edlere» Schauspiels etwas für das Gemüt abfallen könnte, so beeinträchtigen mit dem Wesen des bestehenden Theaters zusammenhängende Umstände doch die volle und allgemeine Wirkung. „Meist aber wird sogar ein förmlicher Krieg gegen das Monumentale geführt. Anstatt zu begreisen, daß gerade das vermeintlich ungebildete Volk am meisten durch das Große und Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/342>, abgerufen am 23.07.2024.