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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tcigebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

hinein, das giebt allein das Ende des Fadens sicher in die Hand, dem es
nachzugehen gilt. So lautet auch Goethes Denkrecept, so oft von ihm aus¬
gesprochen, z. B. in den Sprüchen unter "Gott, Gemüth und Welt":


Willst du dich am Ganzen erquicken,
So must du das Ganze im Kleinsten erblicken.

Ich ging dieser Tage in der Dämmerung, in der man mehr bei sich selbst
ist als bei vollem Lichte, meines Weges dahin auf dem Trottoir einer Garten¬
straße und kam hinter zwei junge Männer zu gehen, die im Gespräch in gleichem
Schritt dahin schritten. Auf einmal merkte ich, daß ich in ihren Gleichschritt
eingefallen war, ohne allen Willen oder Gedanken daran. Ich wehrte mich
aber nicht dagegen, um etwa meine Selbständigkeit zu retten, denn es war
behaglich und kam sogar den Gedanken zu Gute, die nun auch im Fahrwasser
des gleichen Schreitens wie sicherer gingen. Dies Zusammenschreiten war denn
ein Zusammenleben ganz im Kleinen und ließ auch dessen Wesen gerade im
Kleinen sicher erkennen: man giebt sich mit seinem Bewegen an eine Gesamt¬
bewegung hin und findet das eigene Bewegen dadurch nicht aufgehoben, sondern
gefördert, gesichert, belebt.

Hier fehlt noch das innere Zusammenleben, wenn man auch einen kleinen
Ansatz dazu schon dabei erkennen kann. Kommt das aber hinzu, so wird das
Zusammengehen ein rechtes Bild des Zusammenlebens überhaupt, da alles Leben
Bewegung nach einem Ziele ist. Wer in jungen Jahren viel gewandert ist,
weiß z. B., wie merkwürdig es wirkt, wenn man abends schwer ermüdet glück¬
lich einen Andern trifft, der in gleicher Richtung wandert. Auch wenn beide
nach Austausch der nächsten Gedanken zu müde sind, um ein Gespräch zu führen,
fühlen sie doch auf einmal einen Zuschuß von Lust und Kraft, eine neue Be¬
lebung, einer vom andern. Schon daß sie sich nur zusammen fühlen, hat diese
Wirkung. Sie sehen nun nicht mehr bloß verstimmt vor sich hin nach störenden
Steinen oder weil uns das ermüdete Leben überhaupt eine Neigung nach unten
giebt, sie blicken nun anch erfrischt auf nach dem Kirchturm des Ortes, wo
ihnen Ruhe und frisches Leben winkt, anch mit weiterem, näherem Zusammen¬
leben. Kommt aber Gespräch hinzu oder vollends Gesang, wenn Lust und
Kraft das noch hergeben, so kann die Belebung des Schreitens zu einer Frische
steigen, wie morgens beim Ausrücken. Und wenn es beim Gespräch auch nicht
etwa zu Späßen kommt, die die Ermüdung so wunderbar heben können, weil
sie die innere Freiheit plötzlich entbinden, wenn es sich sogar um schlimme Dinge
bewegt, die beide Wanderer ähnlich erlebt oder zu erleben haben, so wirkt auch
dieser Austausch des Düstern oder Schwierigen doch stärkend auf das augen¬
blickliche Leben und zeigt den Segen des Zusammenlebens erst recht deutlich.
Gesang vollends giebt dem augenblicklichen Leben plötzlich wie Flügel über die
Ermüdung hinaus, denn Singen ist ein gesteigertes, gleichsam doppeltes Leben,


Tcigebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

hinein, das giebt allein das Ende des Fadens sicher in die Hand, dem es
nachzugehen gilt. So lautet auch Goethes Denkrecept, so oft von ihm aus¬
gesprochen, z. B. in den Sprüchen unter „Gott, Gemüth und Welt":


Willst du dich am Ganzen erquicken,
So must du das Ganze im Kleinsten erblicken.

Ich ging dieser Tage in der Dämmerung, in der man mehr bei sich selbst
ist als bei vollem Lichte, meines Weges dahin auf dem Trottoir einer Garten¬
straße und kam hinter zwei junge Männer zu gehen, die im Gespräch in gleichem
Schritt dahin schritten. Auf einmal merkte ich, daß ich in ihren Gleichschritt
eingefallen war, ohne allen Willen oder Gedanken daran. Ich wehrte mich
aber nicht dagegen, um etwa meine Selbständigkeit zu retten, denn es war
behaglich und kam sogar den Gedanken zu Gute, die nun auch im Fahrwasser
des gleichen Schreitens wie sicherer gingen. Dies Zusammenschreiten war denn
ein Zusammenleben ganz im Kleinen und ließ auch dessen Wesen gerade im
Kleinen sicher erkennen: man giebt sich mit seinem Bewegen an eine Gesamt¬
bewegung hin und findet das eigene Bewegen dadurch nicht aufgehoben, sondern
gefördert, gesichert, belebt.

Hier fehlt noch das innere Zusammenleben, wenn man auch einen kleinen
Ansatz dazu schon dabei erkennen kann. Kommt das aber hinzu, so wird das
Zusammengehen ein rechtes Bild des Zusammenlebens überhaupt, da alles Leben
Bewegung nach einem Ziele ist. Wer in jungen Jahren viel gewandert ist,
weiß z. B., wie merkwürdig es wirkt, wenn man abends schwer ermüdet glück¬
lich einen Andern trifft, der in gleicher Richtung wandert. Auch wenn beide
nach Austausch der nächsten Gedanken zu müde sind, um ein Gespräch zu führen,
fühlen sie doch auf einmal einen Zuschuß von Lust und Kraft, eine neue Be¬
lebung, einer vom andern. Schon daß sie sich nur zusammen fühlen, hat diese
Wirkung. Sie sehen nun nicht mehr bloß verstimmt vor sich hin nach störenden
Steinen oder weil uns das ermüdete Leben überhaupt eine Neigung nach unten
giebt, sie blicken nun anch erfrischt auf nach dem Kirchturm des Ortes, wo
ihnen Ruhe und frisches Leben winkt, anch mit weiterem, näherem Zusammen¬
leben. Kommt aber Gespräch hinzu oder vollends Gesang, wenn Lust und
Kraft das noch hergeben, so kann die Belebung des Schreitens zu einer Frische
steigen, wie morgens beim Ausrücken. Und wenn es beim Gespräch auch nicht
etwa zu Späßen kommt, die die Ermüdung so wunderbar heben können, weil
sie die innere Freiheit plötzlich entbinden, wenn es sich sogar um schlimme Dinge
bewegt, die beide Wanderer ähnlich erlebt oder zu erleben haben, so wirkt auch
dieser Austausch des Düstern oder Schwierigen doch stärkend auf das augen¬
blickliche Leben und zeigt den Segen des Zusammenlebens erst recht deutlich.
Gesang vollends giebt dem augenblicklichen Leben plötzlich wie Flügel über die
Ermüdung hinaus, denn Singen ist ein gesteigertes, gleichsam doppeltes Leben,


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[0328] Tcigebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. hinein, das giebt allein das Ende des Fadens sicher in die Hand, dem es nachzugehen gilt. So lautet auch Goethes Denkrecept, so oft von ihm aus¬ gesprochen, z. B. in den Sprüchen unter „Gott, Gemüth und Welt": Willst du dich am Ganzen erquicken, So must du das Ganze im Kleinsten erblicken. Ich ging dieser Tage in der Dämmerung, in der man mehr bei sich selbst ist als bei vollem Lichte, meines Weges dahin auf dem Trottoir einer Garten¬ straße und kam hinter zwei junge Männer zu gehen, die im Gespräch in gleichem Schritt dahin schritten. Auf einmal merkte ich, daß ich in ihren Gleichschritt eingefallen war, ohne allen Willen oder Gedanken daran. Ich wehrte mich aber nicht dagegen, um etwa meine Selbständigkeit zu retten, denn es war behaglich und kam sogar den Gedanken zu Gute, die nun auch im Fahrwasser des gleichen Schreitens wie sicherer gingen. Dies Zusammenschreiten war denn ein Zusammenleben ganz im Kleinen und ließ auch dessen Wesen gerade im Kleinen sicher erkennen: man giebt sich mit seinem Bewegen an eine Gesamt¬ bewegung hin und findet das eigene Bewegen dadurch nicht aufgehoben, sondern gefördert, gesichert, belebt. Hier fehlt noch das innere Zusammenleben, wenn man auch einen kleinen Ansatz dazu schon dabei erkennen kann. Kommt das aber hinzu, so wird das Zusammengehen ein rechtes Bild des Zusammenlebens überhaupt, da alles Leben Bewegung nach einem Ziele ist. Wer in jungen Jahren viel gewandert ist, weiß z. B., wie merkwürdig es wirkt, wenn man abends schwer ermüdet glück¬ lich einen Andern trifft, der in gleicher Richtung wandert. Auch wenn beide nach Austausch der nächsten Gedanken zu müde sind, um ein Gespräch zu führen, fühlen sie doch auf einmal einen Zuschuß von Lust und Kraft, eine neue Be¬ lebung, einer vom andern. Schon daß sie sich nur zusammen fühlen, hat diese Wirkung. Sie sehen nun nicht mehr bloß verstimmt vor sich hin nach störenden Steinen oder weil uns das ermüdete Leben überhaupt eine Neigung nach unten giebt, sie blicken nun anch erfrischt auf nach dem Kirchturm des Ortes, wo ihnen Ruhe und frisches Leben winkt, anch mit weiterem, näherem Zusammen¬ leben. Kommt aber Gespräch hinzu oder vollends Gesang, wenn Lust und Kraft das noch hergeben, so kann die Belebung des Schreitens zu einer Frische steigen, wie morgens beim Ausrücken. Und wenn es beim Gespräch auch nicht etwa zu Späßen kommt, die die Ermüdung so wunderbar heben können, weil sie die innere Freiheit plötzlich entbinden, wenn es sich sogar um schlimme Dinge bewegt, die beide Wanderer ähnlich erlebt oder zu erleben haben, so wirkt auch dieser Austausch des Düstern oder Schwierigen doch stärkend auf das augen¬ blickliche Leben und zeigt den Segen des Zusammenlebens erst recht deutlich. Gesang vollends giebt dem augenblicklichen Leben plötzlich wie Flügel über die Ermüdung hinaus, denn Singen ist ein gesteigertes, gleichsam doppeltes Leben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/328>, abgerufen am 22.07.2024.