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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Politische Zustände und Aussichten in Frankreich.

der Verbündeten, so werden die Festungen im Lande des Gegners deren Vor¬
dringen nach Paris oder einem andern Zentralpunkte nicht lange aushalten.
Was Frankreich nach seiner Niederwerfung zu erwarten hätte, möge man sich mit
uns wünschen, wir lassen es aber ungesagt, da wir es mit den alten gescheiten
Nürnberger" halten, die keinen henkten, bevor sie ihn hatten. Dann käme die Ab¬
rechnung mit Nußland, wenn es entweder zugleich mit Frankreich uns den Krieg
erklärt hätte, oder uns verwehren wollte, dieses nach seiner Besiegung derartig
zu schwächen, daß es für die Dauer auf Angriffspläne gegen Deutschland und
Italien verzichten müßte. Wir nehmen den ersten Fall an und erinnern uns
dabei an die vortreffliche Schrift "Von der Weichsel bis zum Dujepr," aus
deren Inhalt wir vor einigen Monaten ausführliche Auszüge mitteilten. Hier
die Quintessenz davon mit einigen andern Notizen. Nußland hat in Europa
allerdings 48 Infanterie-, 24 Reserve- und 20 Kavalleriedivisionen, desgleichen
6 Schiitzcnbrigaden und eine zahlreiche Artillerie stehen. Davon befinden sich
18 Infanterie- und 8^ Kavalleriedivisionen in den westlichen Gouvernements
oder dem Königreiche Polen, welches ungefähr 400 Kilometer in das deutsche
und das österreichische Gebiet hineinragt, durch eine Reihe starker Festungen
verteidigt wird und jedenfalls der erste Schauplatz des Krieges sein würde.
Nur drei durchgehende Eisenbahnlinien führen aus dem Innern des Reiches
nach jener Grenzprovinz, und so wird es geraume Zeit dauern, ehe Rußland
alle für einen Krieg in diesen Gegenden verfügbaren Truppen dort ver¬
sammeln kann. Viel günstiger liegen die Verhältnisse im östlichen Preußen
und in Galizien. Beide Länder umgeben das russische Polen, und beide besitzen
reichlich Eisenbahnen und gute Straßen, welche die Ansammlung und Ver¬
schiebung von Truppen an jedem beliebigen Punkte erleichtern. Verwendet
Deutschland sofort 33 Divisionen Infanterie gegen Frankreich, so verfügt es noch
über 6 solche und 3 bis 4 Kavalleriedivisionen, die im Verein mit den Öster¬
reichern die Zusammenziehung und den Aufmarsch der Russen stören können. Von
seinen 15 Armeekorps kann Österreich ohne Bedenken 25 bis 26 Infanterie- und
10 Kavalleriedivisionen zu diesem Zwecke verwenden, und bald könnten diesen
Wie den deutschen Truppen namhafte Verstärkungen nachgesandt werden; denn
Österreich-Ungarn gebietet über eine Feldarmee von 1060000 Mann. Polens
sumpfige und waldige Natur stellt der jetzigen Kriegskunst so wenig unüber¬
windliche Hindernisse entgegen wie seine Festungen, und zwingen die Verhält¬
nisse dazu, so würde man nach Überwindung der Franzosen auch vor einer
Fortsetzung des Krieges uach dem Innern Rußlands hinein, bis nach Moskau
und Petersburg, nicht zurückzuschrecken brauchen; denn die Dinge haben sich
i" den letzten sechs Jahrzehnten hier wesentlich anders gestaltet, als sie 1812
waren.

Selbstverständlich soll damit nicht ein solcher Krieg, der unter allen Um¬
ständen viel deutsches Geld und Blut kosten und sich zuletzt kaum durch made-


Politische Zustände und Aussichten in Frankreich.

der Verbündeten, so werden die Festungen im Lande des Gegners deren Vor¬
dringen nach Paris oder einem andern Zentralpunkte nicht lange aushalten.
Was Frankreich nach seiner Niederwerfung zu erwarten hätte, möge man sich mit
uns wünschen, wir lassen es aber ungesagt, da wir es mit den alten gescheiten
Nürnberger» halten, die keinen henkten, bevor sie ihn hatten. Dann käme die Ab¬
rechnung mit Nußland, wenn es entweder zugleich mit Frankreich uns den Krieg
erklärt hätte, oder uns verwehren wollte, dieses nach seiner Besiegung derartig
zu schwächen, daß es für die Dauer auf Angriffspläne gegen Deutschland und
Italien verzichten müßte. Wir nehmen den ersten Fall an und erinnern uns
dabei an die vortreffliche Schrift „Von der Weichsel bis zum Dujepr," aus
deren Inhalt wir vor einigen Monaten ausführliche Auszüge mitteilten. Hier
die Quintessenz davon mit einigen andern Notizen. Nußland hat in Europa
allerdings 48 Infanterie-, 24 Reserve- und 20 Kavalleriedivisionen, desgleichen
6 Schiitzcnbrigaden und eine zahlreiche Artillerie stehen. Davon befinden sich
18 Infanterie- und 8^ Kavalleriedivisionen in den westlichen Gouvernements
oder dem Königreiche Polen, welches ungefähr 400 Kilometer in das deutsche
und das österreichische Gebiet hineinragt, durch eine Reihe starker Festungen
verteidigt wird und jedenfalls der erste Schauplatz des Krieges sein würde.
Nur drei durchgehende Eisenbahnlinien führen aus dem Innern des Reiches
nach jener Grenzprovinz, und so wird es geraume Zeit dauern, ehe Rußland
alle für einen Krieg in diesen Gegenden verfügbaren Truppen dort ver¬
sammeln kann. Viel günstiger liegen die Verhältnisse im östlichen Preußen
und in Galizien. Beide Länder umgeben das russische Polen, und beide besitzen
reichlich Eisenbahnen und gute Straßen, welche die Ansammlung und Ver¬
schiebung von Truppen an jedem beliebigen Punkte erleichtern. Verwendet
Deutschland sofort 33 Divisionen Infanterie gegen Frankreich, so verfügt es noch
über 6 solche und 3 bis 4 Kavalleriedivisionen, die im Verein mit den Öster¬
reichern die Zusammenziehung und den Aufmarsch der Russen stören können. Von
seinen 15 Armeekorps kann Österreich ohne Bedenken 25 bis 26 Infanterie- und
10 Kavalleriedivisionen zu diesem Zwecke verwenden, und bald könnten diesen
Wie den deutschen Truppen namhafte Verstärkungen nachgesandt werden; denn
Österreich-Ungarn gebietet über eine Feldarmee von 1060000 Mann. Polens
sumpfige und waldige Natur stellt der jetzigen Kriegskunst so wenig unüber¬
windliche Hindernisse entgegen wie seine Festungen, und zwingen die Verhält¬
nisse dazu, so würde man nach Überwindung der Franzosen auch vor einer
Fortsetzung des Krieges uach dem Innern Rußlands hinein, bis nach Moskau
und Petersburg, nicht zurückzuschrecken brauchen; denn die Dinge haben sich
i" den letzten sechs Jahrzehnten hier wesentlich anders gestaltet, als sie 1812
waren.

Selbstverständlich soll damit nicht ein solcher Krieg, der unter allen Um¬
ständen viel deutsches Geld und Blut kosten und sich zuletzt kaum durch made-


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[0325] Politische Zustände und Aussichten in Frankreich. der Verbündeten, so werden die Festungen im Lande des Gegners deren Vor¬ dringen nach Paris oder einem andern Zentralpunkte nicht lange aushalten. Was Frankreich nach seiner Niederwerfung zu erwarten hätte, möge man sich mit uns wünschen, wir lassen es aber ungesagt, da wir es mit den alten gescheiten Nürnberger» halten, die keinen henkten, bevor sie ihn hatten. Dann käme die Ab¬ rechnung mit Nußland, wenn es entweder zugleich mit Frankreich uns den Krieg erklärt hätte, oder uns verwehren wollte, dieses nach seiner Besiegung derartig zu schwächen, daß es für die Dauer auf Angriffspläne gegen Deutschland und Italien verzichten müßte. Wir nehmen den ersten Fall an und erinnern uns dabei an die vortreffliche Schrift „Von der Weichsel bis zum Dujepr," aus deren Inhalt wir vor einigen Monaten ausführliche Auszüge mitteilten. Hier die Quintessenz davon mit einigen andern Notizen. Nußland hat in Europa allerdings 48 Infanterie-, 24 Reserve- und 20 Kavalleriedivisionen, desgleichen 6 Schiitzcnbrigaden und eine zahlreiche Artillerie stehen. Davon befinden sich 18 Infanterie- und 8^ Kavalleriedivisionen in den westlichen Gouvernements oder dem Königreiche Polen, welches ungefähr 400 Kilometer in das deutsche und das österreichische Gebiet hineinragt, durch eine Reihe starker Festungen verteidigt wird und jedenfalls der erste Schauplatz des Krieges sein würde. Nur drei durchgehende Eisenbahnlinien führen aus dem Innern des Reiches nach jener Grenzprovinz, und so wird es geraume Zeit dauern, ehe Rußland alle für einen Krieg in diesen Gegenden verfügbaren Truppen dort ver¬ sammeln kann. Viel günstiger liegen die Verhältnisse im östlichen Preußen und in Galizien. Beide Länder umgeben das russische Polen, und beide besitzen reichlich Eisenbahnen und gute Straßen, welche die Ansammlung und Ver¬ schiebung von Truppen an jedem beliebigen Punkte erleichtern. Verwendet Deutschland sofort 33 Divisionen Infanterie gegen Frankreich, so verfügt es noch über 6 solche und 3 bis 4 Kavalleriedivisionen, die im Verein mit den Öster¬ reichern die Zusammenziehung und den Aufmarsch der Russen stören können. Von seinen 15 Armeekorps kann Österreich ohne Bedenken 25 bis 26 Infanterie- und 10 Kavalleriedivisionen zu diesem Zwecke verwenden, und bald könnten diesen Wie den deutschen Truppen namhafte Verstärkungen nachgesandt werden; denn Österreich-Ungarn gebietet über eine Feldarmee von 1060000 Mann. Polens sumpfige und waldige Natur stellt der jetzigen Kriegskunst so wenig unüber¬ windliche Hindernisse entgegen wie seine Festungen, und zwingen die Verhält¬ nisse dazu, so würde man nach Überwindung der Franzosen auch vor einer Fortsetzung des Krieges uach dem Innern Rußlands hinein, bis nach Moskau und Petersburg, nicht zurückzuschrecken brauchen; denn die Dinge haben sich i" den letzten sechs Jahrzehnten hier wesentlich anders gestaltet, als sie 1812 waren. Selbstverständlich soll damit nicht ein solcher Krieg, der unter allen Um¬ ständen viel deutsches Geld und Blut kosten und sich zuletzt kaum durch made-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/325>, abgerufen am 22.07.2024.