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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sprung. Als einzige Rettung erscheint "Verneinung des Willens zum Leben"
beim Vater dieser Weltanschauung.

Da will also das Denken das Leben aufheben. Kann der Streit zwischen
beiden schärfer werden? Von der Linie, die in diesen Zwiespalt führte, ist da
jedenfalls das Ende erreicht, es ist aber das Ende des Lebens selber, eigentlich
das Ende des Seins, das Ende der Welt, wenn nur darüber das kleine Menschen¬
gehirn die Verfügung hätte. Da das aber so unmöglich ist oder noch unend¬
lich unmöglicher, als der Einfall des Archimedes, die Welt aus den Angeln zu
heben, wenn man ihm nur einen Standpunkt außer ihr gäbe -- wäre nicht
die andre Lösung des Zwiespalts näher, möglicher, besser, wenn sich das
Leben aufbäumte zu einer Verneinung des Willens zum Denken? Und das
thut es ja auch schon, nach Weisung der Natur in uns, im Schlafe, in Er¬
müdung, im Gähnen, im Bedürfnis nach Erholung, oder mit Schmerzen und
allerlei Winken, womit Leben und Natur das Denken mahnen zum Einhalt auf
der Linie, die aus dem Leben hinaus ins Nichts führt. Aber das Denken selber
muß bewußt zum Leben, zum vollen Leben zurückkehren, muß nicht bloß seine
Geschäfte, sondern die Geschäfte des Lebens besorgen lernen, das ist die wahre
Lebensfrage der Zeit.

In wissenschaftlicher Erkenntnis ist ja wohl übrigens Schopenhauers Welt¬
ansicht nun überwunden oder wird es, aber es geht damit wie mit einem Stein-
Wurf ins Wasser, nachdem im Mittelpunkt wieder Ordnung geworden ist, arbeitet
der Wurf erst noch draußen in weiteren Kreisen. Und wenn der Weltschmerz
die Hände nur verstimmt in deu Schoß legte oder in die Taschen steckte, so ist
es, als ob der volle Pessimismus die Faust ballte, in der Tasche oder gegen
den Himmel, weil er nicht die Kraft hat, das Leben im Ganzen, das Welt-
gebäu zu zerschlagen, dessen Urheber als Pfuscher oder bösester Wille erkannt
ist. Zum Glück wird auch hier der Brei nicht so heiß gegessen, als er gekocht
auf dem Feuer steht; daß sich irrige Theorien abkühlen, ehe sie zu verderblich
ins Leben eingreifen können, dafür sorgt schon das Leben selbst, das über unsre
Köpfe hinweg seine großen Wege geht und auch durch uns hindurch, wenn wir
es nur freudig ergreifen und uns ihm vertrauensvoll hingeben.

Wie viele nennen sich jetzt Pessimisten und sind doch weit entfernt von
der Schärfe des Begriffes bei seinem Urheber, haben Wohl davon nicht einmal
eine Ahnung. Aber pessimistisch zu sein ist jetzt Mode, es gilt für geistvoller,
der Wahrheit näher als optimistisch, d. h. an allem Lebendigen, das einem
solchen Pessimisten vor die Hand kommt, weiß er mit seinem Besserwissen die
Mängel, die Schattenseiten hervorzukehren, wohl gar zur Hauptsache zu machen,
und wenn es vollends mit der Farbe des Frohen, Heitern, Freudigen vor ihn
tutt, so ist es ihm von vornherein verdächtig als unwahr, er muß, um seinen
Standpunkt zu retten, den frohen Duft abstreifen, wie eine plumpe oder dumm-
ueugierige Knabenhand von den Flügeln eines Schmetterlings den bunten Farben-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sprung. Als einzige Rettung erscheint „Verneinung des Willens zum Leben"
beim Vater dieser Weltanschauung.

Da will also das Denken das Leben aufheben. Kann der Streit zwischen
beiden schärfer werden? Von der Linie, die in diesen Zwiespalt führte, ist da
jedenfalls das Ende erreicht, es ist aber das Ende des Lebens selber, eigentlich
das Ende des Seins, das Ende der Welt, wenn nur darüber das kleine Menschen¬
gehirn die Verfügung hätte. Da das aber so unmöglich ist oder noch unend¬
lich unmöglicher, als der Einfall des Archimedes, die Welt aus den Angeln zu
heben, wenn man ihm nur einen Standpunkt außer ihr gäbe — wäre nicht
die andre Lösung des Zwiespalts näher, möglicher, besser, wenn sich das
Leben aufbäumte zu einer Verneinung des Willens zum Denken? Und das
thut es ja auch schon, nach Weisung der Natur in uns, im Schlafe, in Er¬
müdung, im Gähnen, im Bedürfnis nach Erholung, oder mit Schmerzen und
allerlei Winken, womit Leben und Natur das Denken mahnen zum Einhalt auf
der Linie, die aus dem Leben hinaus ins Nichts führt. Aber das Denken selber
muß bewußt zum Leben, zum vollen Leben zurückkehren, muß nicht bloß seine
Geschäfte, sondern die Geschäfte des Lebens besorgen lernen, das ist die wahre
Lebensfrage der Zeit.

In wissenschaftlicher Erkenntnis ist ja wohl übrigens Schopenhauers Welt¬
ansicht nun überwunden oder wird es, aber es geht damit wie mit einem Stein-
Wurf ins Wasser, nachdem im Mittelpunkt wieder Ordnung geworden ist, arbeitet
der Wurf erst noch draußen in weiteren Kreisen. Und wenn der Weltschmerz
die Hände nur verstimmt in deu Schoß legte oder in die Taschen steckte, so ist
es, als ob der volle Pessimismus die Faust ballte, in der Tasche oder gegen
den Himmel, weil er nicht die Kraft hat, das Leben im Ganzen, das Welt-
gebäu zu zerschlagen, dessen Urheber als Pfuscher oder bösester Wille erkannt
ist. Zum Glück wird auch hier der Brei nicht so heiß gegessen, als er gekocht
auf dem Feuer steht; daß sich irrige Theorien abkühlen, ehe sie zu verderblich
ins Leben eingreifen können, dafür sorgt schon das Leben selbst, das über unsre
Köpfe hinweg seine großen Wege geht und auch durch uns hindurch, wenn wir
es nur freudig ergreifen und uns ihm vertrauensvoll hingeben.

Wie viele nennen sich jetzt Pessimisten und sind doch weit entfernt von
der Schärfe des Begriffes bei seinem Urheber, haben Wohl davon nicht einmal
eine Ahnung. Aber pessimistisch zu sein ist jetzt Mode, es gilt für geistvoller,
der Wahrheit näher als optimistisch, d. h. an allem Lebendigen, das einem
solchen Pessimisten vor die Hand kommt, weiß er mit seinem Besserwissen die
Mängel, die Schattenseiten hervorzukehren, wohl gar zur Hauptsache zu machen,
und wenn es vollends mit der Farbe des Frohen, Heitern, Freudigen vor ihn
tutt, so ist es ihm von vornherein verdächtig als unwahr, er muß, um seinen
Standpunkt zu retten, den frohen Duft abstreifen, wie eine plumpe oder dumm-
ueugierige Knabenhand von den Flügeln eines Schmetterlings den bunten Farben-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/271>, abgerufen am 22.07.2024.