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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

auch zu der Benennung den Anlaß gab, in seiner Jugendschrift: "Ästhetische
Feldzüge, dem jungen Deutschland gewidmet," Hamburg 1834, Vorlesungen ans
der Kieler Universität gehalten. Da sieht man jene Gedanken weiter arbeiten,
auch über Fausts Gesichtskreis hinausgreifen. Nur ein paar Sätze aus der
fünften Vorlesung: "Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst," durchaus im
Sinne Goethes, der dem jungen klaren Fenerkopfe mit glühendem Herzen der
Gedaukcuführer war. "Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr,
um zu leben? Daß man die Natur auf den Kopf stellen kann, um das erstere
zu behaupten! Hat es doch in Deutschland sogar den Anschein, als ob die
Menschen der Bücher wegen geboren würden u. s. w." Folgt ein Versuch, zu
definiren, was das Leben sei, das wir Deutsche so schlimm vergessen hätten,
dann herbe Klage, wie die gelehrte Arbeit das Geistesleben zersplittere, "wie
es in Fabriken geschieht, wo der eine den Knopf, der andre den Schaft, der
dritte die Spitze der Nadel fabrizirt." "O wie dieses gelehrte Unwesen seit
Jahrhunderten die edelsten Kräfte Deutschlands zur unfruchtbaren Tantalus-
arbeit verurteilt hat, wie wir Deutsche aus wandernden Helden Stubensitzer,
aus Kriegern und Jägern lebcnssieche, thatenschene Magister geworden sind!"
Daun ein Blick auf die Geschichte des griechischen Geistes, die reichlich als
Spiegel für unsre gebraucht wird, als Schluß: "Meine Herren, als das Leben
tot war, hielt die Gelehrsamkeit Leichenschau." Doch wir leben noch, aber
"wir haben uns herausstudirt aus dem Leben, wir müssen uns wieder hinein¬
leben" (wohlbemerlt nicht: hineinstudiren, obschon auch das seine Wahrheit hätte).

Dies nur eine Stimme von vielen aus jener Zeit, in deren Wehen ja
die unsre mit ihrem Fortschritt geboren wurde. Sie ist nunmehr fünfzig
Jahre alt. Klingt sie aber schon veraltet? Ich fürchte, nein. Der Streit im
deutschen Geiste zwischen Denken und Leben ist noch in vollem Gange, ja er
kann einem zu weit größerer Schärfe zugespitzt erscheinen. Damals stellte sich
der Riß zwischen beiden auch dar in dem sogenannten Weltschmerz, den noch
wir Alten haben verdauend durchmachen müssen. Das war ein schmerzliches,
aber doch mehr wehmutsvolles sehnendes Aufblicken zu der hohen Welt, die unsre
großen Dichter und Denker in den Geisteshöheu aufgebaut, zu dein Leben, das
sie in die Morgenwolken gemalt hatten, das sich aber hier unter so schwer
wollte finden lassen. Der Weltschmerz ist zwar nun aus der Mode, er muß
also in dieser Form abgethan sein. Dafür arbeitet er aber in andrer Form
in den Geistern, nicht mehr bloß als Poesie, was der Weltschmerz doch wesent¬
lich war, sondern als ernstes, geschlossenes Denksystem, als der Pessimismus,
der sich nicht bloß gegen die Welt kehrt, wie sie im Widerspruch zu der im
Geiste gesehenen hohen Welt erscheint, sondern gegen die Welt überhaupt, nicht
mehr bloß mit wehmütigen Schmerz gegen das Leben mit seinen dnrch die
Menschen bedingten Mängeln, sondern mit zersetzenden Zweifel und zerfasernder
Kritik gegen das Leben überhaupt im weitesten Sinne, und seinen letzten Ur-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

auch zu der Benennung den Anlaß gab, in seiner Jugendschrift: „Ästhetische
Feldzüge, dem jungen Deutschland gewidmet," Hamburg 1834, Vorlesungen ans
der Kieler Universität gehalten. Da sieht man jene Gedanken weiter arbeiten,
auch über Fausts Gesichtskreis hinausgreifen. Nur ein paar Sätze aus der
fünften Vorlesung: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst," durchaus im
Sinne Goethes, der dem jungen klaren Fenerkopfe mit glühendem Herzen der
Gedaukcuführer war. „Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr,
um zu leben? Daß man die Natur auf den Kopf stellen kann, um das erstere
zu behaupten! Hat es doch in Deutschland sogar den Anschein, als ob die
Menschen der Bücher wegen geboren würden u. s. w." Folgt ein Versuch, zu
definiren, was das Leben sei, das wir Deutsche so schlimm vergessen hätten,
dann herbe Klage, wie die gelehrte Arbeit das Geistesleben zersplittere, „wie
es in Fabriken geschieht, wo der eine den Knopf, der andre den Schaft, der
dritte die Spitze der Nadel fabrizirt." „O wie dieses gelehrte Unwesen seit
Jahrhunderten die edelsten Kräfte Deutschlands zur unfruchtbaren Tantalus-
arbeit verurteilt hat, wie wir Deutsche aus wandernden Helden Stubensitzer,
aus Kriegern und Jägern lebcnssieche, thatenschene Magister geworden sind!"
Daun ein Blick auf die Geschichte des griechischen Geistes, die reichlich als
Spiegel für unsre gebraucht wird, als Schluß: „Meine Herren, als das Leben
tot war, hielt die Gelehrsamkeit Leichenschau." Doch wir leben noch, aber
„wir haben uns herausstudirt aus dem Leben, wir müssen uns wieder hinein¬
leben" (wohlbemerlt nicht: hineinstudiren, obschon auch das seine Wahrheit hätte).

Dies nur eine Stimme von vielen aus jener Zeit, in deren Wehen ja
die unsre mit ihrem Fortschritt geboren wurde. Sie ist nunmehr fünfzig
Jahre alt. Klingt sie aber schon veraltet? Ich fürchte, nein. Der Streit im
deutschen Geiste zwischen Denken und Leben ist noch in vollem Gange, ja er
kann einem zu weit größerer Schärfe zugespitzt erscheinen. Damals stellte sich
der Riß zwischen beiden auch dar in dem sogenannten Weltschmerz, den noch
wir Alten haben verdauend durchmachen müssen. Das war ein schmerzliches,
aber doch mehr wehmutsvolles sehnendes Aufblicken zu der hohen Welt, die unsre
großen Dichter und Denker in den Geisteshöheu aufgebaut, zu dein Leben, das
sie in die Morgenwolken gemalt hatten, das sich aber hier unter so schwer
wollte finden lassen. Der Weltschmerz ist zwar nun aus der Mode, er muß
also in dieser Form abgethan sein. Dafür arbeitet er aber in andrer Form
in den Geistern, nicht mehr bloß als Poesie, was der Weltschmerz doch wesent¬
lich war, sondern als ernstes, geschlossenes Denksystem, als der Pessimismus,
der sich nicht bloß gegen die Welt kehrt, wie sie im Widerspruch zu der im
Geiste gesehenen hohen Welt erscheint, sondern gegen die Welt überhaupt, nicht
mehr bloß mit wehmütigen Schmerz gegen das Leben mit seinen dnrch die
Menschen bedingten Mängeln, sondern mit zersetzenden Zweifel und zerfasernder
Kritik gegen das Leben überhaupt im weitesten Sinne, und seinen letzten Ur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/270>, abgerufen am 22.07.2024.