Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Linie, auf der der rechte Dichter in seinen guten Stunden zu wandeln weiß, Bei Goethe erscheint aber dort das Leben als das Höchste, das uns ge¬
In einem Briefe an Herder aus jungen Jahre" steht der schmerzliche Ausruf: Mir ekelt lange vor allem Wissen! Ich erinnere mich, wie ich als Schüler über dies Wort stutzte und erschrak, Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Linie, auf der der rechte Dichter in seinen guten Stunden zu wandeln weiß, Bei Goethe erscheint aber dort das Leben als das Höchste, das uns ge¬
In einem Briefe an Herder aus jungen Jahre» steht der schmerzliche Ausruf: Mir ekelt lange vor allem Wissen! Ich erinnere mich, wie ich als Schüler über dies Wort stutzte und erschrak, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201698"/> <fw type="header" place="top"> Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_620" prev="#ID_619"> Linie, auf der der rechte Dichter in seinen guten Stunden zu wandeln weiß,<lb/> wie alle echte Kunst, weil auf dieser Linie auch der leidige Unterschied von real<lb/> und ideal sich aufhebt, wie beim Magneten der Unterschied von positiv und<lb/> negativ; ist es aber nicht eben auch dieselbe, die das fachmäßige Denken unsrer<lb/> Tage so bänglich sucht unter dem Namen Monismus?</p><lb/> <p xml:id="ID_621"> Bei Goethe erscheint aber dort das Leben als das Höchste, das uns ge¬<lb/> geben ist — also nicht der Geist, die Vernunft? wohlbemerkt als das Höchste.<lb/> Das müßte wohl am meisten an der Äußerung auffallen. Ist nicht damit der<lb/> Mensch unter sich selbst herabgesetzt? Aber gerade das ist das eigentümlich<lb/> Goethische, was ich meine, daß ihm Denkleben und eigentliches Leben keines¬<lb/> wegs zusammenfallen. Von dem vielen, was darüber vorzubringen wäre, nur<lb/> einiges. Seine eigne Lehre kann in ihren Tiefen nicht denkend, nur lebend<lb/> gefaßt werden:"</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_43" type="poem"> <l> „Manches können wir nicht verstehen<note type="bibl"> .<lb/> (Znhme Xenien, 2. Buch.)</note> Lebt nur fort, es wird schon gehen. </l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_622"> In einem Briefe an Herder aus jungen Jahre» steht der schmerzliche Ausruf:<lb/> „Armer (moderner) Mensch, an dem der Kopf alles ist!" Das trifft mitten<lb/> in die Not der modernen Bildnngswelt. Er hatte das übrigens eben ans<lb/> Herders Schule, bei dem von Anfang an Leben, lebendig bestimmende Begriffe<lb/> sind, an denen er den Wert der Dinge und Gedanken maß, dazu gedrängt von<lb/> eigner schmerzlicher Erfahrung. Und auch dahinter steht ihm zugleich Hamann<lb/> als Anreger, der ihm z. B. einmal mahnend schreibt: „Denken Sie weniger<lb/> und leben Sie mehr" (Herders Lebensbild I, 2, 32), d. h. um die Welt zu ver¬<lb/> stehen, also wie bei Goethe dort in den Genien. Bei diesem ist Faust der Ver¬<lb/> treter der Umkehr vom Kopflebcu zum wirklichen Leben, das ihm an jenem zu<lb/> Grunde gehen will:</p><lb/> <quote> Mir ekelt lange vor allem Wissen!</quote><lb/> <p xml:id="ID_623" next="#ID_624"> Ich erinnere mich, wie ich als Schüler über dies Wort stutzte und erschrak,<lb/> als wäre damit der Weg, deu uns die Lehrer wiesen, als Irrweg verworfen,<lb/> und wie ich es dann auf der Universität nur zu gut verstehe» lernte. Als ich<lb/> da einmal in den letzten Semestern einen Schulkameraden traf und wir unsre<lb/> Gedanken rasch austauschten im Lärm der Straße, da brach er in scharfe Klage<lb/> aus, wie er das Cvllegicnlaufen und Studiren satt und übersatt habe: „Hätte<lb/> us nur etwa für ein angenommenes Kind zu sorgen, ich würde wieder leben,"<lb/> und das klang in mir voll wieder, das Gefühl des Lebens selbst, nicht mir der<lb/> Begriff, durchzuckte mich dabei. Es war die Zeit, wo es Mode war und uns<lb/> wehmütig wohl that, das deutsche Volk selbst mit Faust zu vergleiche» und<lb/> auch mit Hamlet. Das kam aus deu Kreisen des sogenannten Jungen Deutsch¬<lb/> land, die damals die Führung der Geisterbewegung hatten. Welcher Geist da<lb/> wehte und in welche Zustände hinein, in denen Neues mit Altem rang, ist am<lb/> besten bei L. Wienbarg zu hören, dem bedeutendsten Vertreter der Schule, der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0269]
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.
Linie, auf der der rechte Dichter in seinen guten Stunden zu wandeln weiß,
wie alle echte Kunst, weil auf dieser Linie auch der leidige Unterschied von real
und ideal sich aufhebt, wie beim Magneten der Unterschied von positiv und
negativ; ist es aber nicht eben auch dieselbe, die das fachmäßige Denken unsrer
Tage so bänglich sucht unter dem Namen Monismus?
Bei Goethe erscheint aber dort das Leben als das Höchste, das uns ge¬
geben ist — also nicht der Geist, die Vernunft? wohlbemerkt als das Höchste.
Das müßte wohl am meisten an der Äußerung auffallen. Ist nicht damit der
Mensch unter sich selbst herabgesetzt? Aber gerade das ist das eigentümlich
Goethische, was ich meine, daß ihm Denkleben und eigentliches Leben keines¬
wegs zusammenfallen. Von dem vielen, was darüber vorzubringen wäre, nur
einiges. Seine eigne Lehre kann in ihren Tiefen nicht denkend, nur lebend
gefaßt werden:"
„Manches können wir nicht verstehen .
(Znhme Xenien, 2. Buch.) Lebt nur fort, es wird schon gehen.
In einem Briefe an Herder aus jungen Jahre» steht der schmerzliche Ausruf:
„Armer (moderner) Mensch, an dem der Kopf alles ist!" Das trifft mitten
in die Not der modernen Bildnngswelt. Er hatte das übrigens eben ans
Herders Schule, bei dem von Anfang an Leben, lebendig bestimmende Begriffe
sind, an denen er den Wert der Dinge und Gedanken maß, dazu gedrängt von
eigner schmerzlicher Erfahrung. Und auch dahinter steht ihm zugleich Hamann
als Anreger, der ihm z. B. einmal mahnend schreibt: „Denken Sie weniger
und leben Sie mehr" (Herders Lebensbild I, 2, 32), d. h. um die Welt zu ver¬
stehen, also wie bei Goethe dort in den Genien. Bei diesem ist Faust der Ver¬
treter der Umkehr vom Kopflebcu zum wirklichen Leben, das ihm an jenem zu
Grunde gehen will:
Mir ekelt lange vor allem Wissen!
Ich erinnere mich, wie ich als Schüler über dies Wort stutzte und erschrak,
als wäre damit der Weg, deu uns die Lehrer wiesen, als Irrweg verworfen,
und wie ich es dann auf der Universität nur zu gut verstehe» lernte. Als ich
da einmal in den letzten Semestern einen Schulkameraden traf und wir unsre
Gedanken rasch austauschten im Lärm der Straße, da brach er in scharfe Klage
aus, wie er das Cvllegicnlaufen und Studiren satt und übersatt habe: „Hätte
us nur etwa für ein angenommenes Kind zu sorgen, ich würde wieder leben,"
und das klang in mir voll wieder, das Gefühl des Lebens selbst, nicht mir der
Begriff, durchzuckte mich dabei. Es war die Zeit, wo es Mode war und uns
wehmütig wohl that, das deutsche Volk selbst mit Faust zu vergleiche» und
auch mit Hamlet. Das kam aus deu Kreisen des sogenannten Jungen Deutsch¬
land, die damals die Führung der Geisterbewegung hatten. Welcher Geist da
wehte und in welche Zustände hinein, in denen Neues mit Altem rang, ist am
besten bei L. Wienbarg zu hören, dem bedeutendsten Vertreter der Schule, der
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |