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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Geschichte des letztern ist bekannt. Es läßt sich als Ministerium der
Ersparungen bezeichnen. Daneben wird es dadurch charakterisirt, daß es sich von
Boulanger befreit hat und ihn und seine Partei bekämpft, woraus indes nicht
zu schließen ist. daß es den Gedanken der Revanche für die Zukunft von sich
gewiesen hat. Über seine Aussichten ans Dauer läßt sich, während dies geschrieben
wird, nichts mit einiger Bestimmtheit prophezeien. Doch ist der Charakter der
Kammer der alte geblieben und wird es bleiben, so lauge in Frankreich der
Parlamentarismus bestehen wird, und eine neue Vereinigung der Radikalen mit
den monarchischen Gruppen der Kammer zu einer Mehrheit, welche die Ver¬
drängung Nouviers bestrebt, ist, wenn auch gegenwärtig nicht wahrscheinlich, doch
möglich. Kommt es dazu, so wird abermals guter Rat teuer sein. "Bricht eine
neue Kabinetslrise aus -- sagte Ferry in der Rede, die er am 27. September zu
Saint-Die hielt --, so können Sie sicher sein, daß sie schwer zu lösen sein wird.
Darum wollen wir uns bereit halten; denn die Ereignisse könnten uns über¬
raschen." Es ist für diesen Fall allerdings nicht ausgeschlossen, daß der Präsident
auf Freycinet zurückgreift, und der würde Boulanger jetzt nicht wieder unter
seine Kollegen aufnehmen, aber entweder den Radikalen Zugeständnisse machen
oder bald abermals abtreten müssen. Es ist aber auch möglich, daß Grevy seine
Abneigung gegen Clemenccau endlich überwindet und diesen Führer der Radikalen
mit der Bildung eines Kabinets beauftragt, in welchem Boulanger mit seiner
Popularität nicht fehlen dürfte, obwohl er die Bonapartisten und ebenso die
Orlecmisteu stark vor den Kopf gestoßen hat. Auch dieses radikale Ministerium
würde indes keinen langen Bestand haben, da Clemenceau in seinem Pro¬
gramm zu einschneidende Maßregeln versprochen hat. Versucht er sie aus¬
zuführen, so hat er sofort eine Koalition der gemäßigten Republikaner und der
Rechten gegen sich; sieht er davon ab, so läßt ihn seine eigne Partei im Stiche.
Der dritte mögliche Fall ist, daß der Präsident seinen jetzigen Premier trotz¬
dem, daß die Mehrheit der Kammer ihm fehlt, behält, die letztere auflöst
und durch Ausschreibung neuer Wahlen an das Land appellirt. Das wäre
aber ein Wagnis, welches für die gemäßigten Republikaner noch mehr zum Schaden
ausschlagen könnte als die Wahlen von 1885. Diese neue" Wahlen würden
wahrscheinlich einerseits die monarchische Rechte, anderseits die Reihen der
Radikalen verstärken, die nicht bloß unter den Arbeitern der großen Städte,
sondern auch unter der Landbevölkerung durch ihre Deklamationen viel Anhang
gewonnen haben und den Namen Boulanger in den Fahnen führen würden,
mit denen sie zur Stimmurne zögen. Was dann geschehen würde, ist schwer
zu sagen und darf, da in diesen letzten Betrachtungen nur Möglichkeiten und Ver¬
mutungen sich aneinander reihen, füglich unerörtert bleiben. Die Absicht war,
zu zeigen, daß der Parlamentarismus für das innere Leben Frankreichs kein
Segen, daß er vielmehr die Ursache von Fäulnis und Zersetzung gewesen ist,
und daß er bis heute mit seinen unaufhörlichen Miuisterwechseln der Regierung


Die Geschichte des letztern ist bekannt. Es läßt sich als Ministerium der
Ersparungen bezeichnen. Daneben wird es dadurch charakterisirt, daß es sich von
Boulanger befreit hat und ihn und seine Partei bekämpft, woraus indes nicht
zu schließen ist. daß es den Gedanken der Revanche für die Zukunft von sich
gewiesen hat. Über seine Aussichten ans Dauer läßt sich, während dies geschrieben
wird, nichts mit einiger Bestimmtheit prophezeien. Doch ist der Charakter der
Kammer der alte geblieben und wird es bleiben, so lauge in Frankreich der
Parlamentarismus bestehen wird, und eine neue Vereinigung der Radikalen mit
den monarchischen Gruppen der Kammer zu einer Mehrheit, welche die Ver¬
drängung Nouviers bestrebt, ist, wenn auch gegenwärtig nicht wahrscheinlich, doch
möglich. Kommt es dazu, so wird abermals guter Rat teuer sein. „Bricht eine
neue Kabinetslrise aus — sagte Ferry in der Rede, die er am 27. September zu
Saint-Die hielt —, so können Sie sicher sein, daß sie schwer zu lösen sein wird.
Darum wollen wir uns bereit halten; denn die Ereignisse könnten uns über¬
raschen." Es ist für diesen Fall allerdings nicht ausgeschlossen, daß der Präsident
auf Freycinet zurückgreift, und der würde Boulanger jetzt nicht wieder unter
seine Kollegen aufnehmen, aber entweder den Radikalen Zugeständnisse machen
oder bald abermals abtreten müssen. Es ist aber auch möglich, daß Grevy seine
Abneigung gegen Clemenccau endlich überwindet und diesen Führer der Radikalen
mit der Bildung eines Kabinets beauftragt, in welchem Boulanger mit seiner
Popularität nicht fehlen dürfte, obwohl er die Bonapartisten und ebenso die
Orlecmisteu stark vor den Kopf gestoßen hat. Auch dieses radikale Ministerium
würde indes keinen langen Bestand haben, da Clemenceau in seinem Pro¬
gramm zu einschneidende Maßregeln versprochen hat. Versucht er sie aus¬
zuführen, so hat er sofort eine Koalition der gemäßigten Republikaner und der
Rechten gegen sich; sieht er davon ab, so läßt ihn seine eigne Partei im Stiche.
Der dritte mögliche Fall ist, daß der Präsident seinen jetzigen Premier trotz¬
dem, daß die Mehrheit der Kammer ihm fehlt, behält, die letztere auflöst
und durch Ausschreibung neuer Wahlen an das Land appellirt. Das wäre
aber ein Wagnis, welches für die gemäßigten Republikaner noch mehr zum Schaden
ausschlagen könnte als die Wahlen von 1885. Diese neue» Wahlen würden
wahrscheinlich einerseits die monarchische Rechte, anderseits die Reihen der
Radikalen verstärken, die nicht bloß unter den Arbeitern der großen Städte,
sondern auch unter der Landbevölkerung durch ihre Deklamationen viel Anhang
gewonnen haben und den Namen Boulanger in den Fahnen führen würden,
mit denen sie zur Stimmurne zögen. Was dann geschehen würde, ist schwer
zu sagen und darf, da in diesen letzten Betrachtungen nur Möglichkeiten und Ver¬
mutungen sich aneinander reihen, füglich unerörtert bleiben. Die Absicht war,
zu zeigen, daß der Parlamentarismus für das innere Leben Frankreichs kein
Segen, daß er vielmehr die Ursache von Fäulnis und Zersetzung gewesen ist,
und daß er bis heute mit seinen unaufhörlichen Miuisterwechseln der Regierung


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[0264] Die Geschichte des letztern ist bekannt. Es läßt sich als Ministerium der Ersparungen bezeichnen. Daneben wird es dadurch charakterisirt, daß es sich von Boulanger befreit hat und ihn und seine Partei bekämpft, woraus indes nicht zu schließen ist. daß es den Gedanken der Revanche für die Zukunft von sich gewiesen hat. Über seine Aussichten ans Dauer läßt sich, während dies geschrieben wird, nichts mit einiger Bestimmtheit prophezeien. Doch ist der Charakter der Kammer der alte geblieben und wird es bleiben, so lauge in Frankreich der Parlamentarismus bestehen wird, und eine neue Vereinigung der Radikalen mit den monarchischen Gruppen der Kammer zu einer Mehrheit, welche die Ver¬ drängung Nouviers bestrebt, ist, wenn auch gegenwärtig nicht wahrscheinlich, doch möglich. Kommt es dazu, so wird abermals guter Rat teuer sein. „Bricht eine neue Kabinetslrise aus — sagte Ferry in der Rede, die er am 27. September zu Saint-Die hielt —, so können Sie sicher sein, daß sie schwer zu lösen sein wird. Darum wollen wir uns bereit halten; denn die Ereignisse könnten uns über¬ raschen." Es ist für diesen Fall allerdings nicht ausgeschlossen, daß der Präsident auf Freycinet zurückgreift, und der würde Boulanger jetzt nicht wieder unter seine Kollegen aufnehmen, aber entweder den Radikalen Zugeständnisse machen oder bald abermals abtreten müssen. Es ist aber auch möglich, daß Grevy seine Abneigung gegen Clemenccau endlich überwindet und diesen Führer der Radikalen mit der Bildung eines Kabinets beauftragt, in welchem Boulanger mit seiner Popularität nicht fehlen dürfte, obwohl er die Bonapartisten und ebenso die Orlecmisteu stark vor den Kopf gestoßen hat. Auch dieses radikale Ministerium würde indes keinen langen Bestand haben, da Clemenceau in seinem Pro¬ gramm zu einschneidende Maßregeln versprochen hat. Versucht er sie aus¬ zuführen, so hat er sofort eine Koalition der gemäßigten Republikaner und der Rechten gegen sich; sieht er davon ab, so läßt ihn seine eigne Partei im Stiche. Der dritte mögliche Fall ist, daß der Präsident seinen jetzigen Premier trotz¬ dem, daß die Mehrheit der Kammer ihm fehlt, behält, die letztere auflöst und durch Ausschreibung neuer Wahlen an das Land appellirt. Das wäre aber ein Wagnis, welches für die gemäßigten Republikaner noch mehr zum Schaden ausschlagen könnte als die Wahlen von 1885. Diese neue» Wahlen würden wahrscheinlich einerseits die monarchische Rechte, anderseits die Reihen der Radikalen verstärken, die nicht bloß unter den Arbeitern der großen Städte, sondern auch unter der Landbevölkerung durch ihre Deklamationen viel Anhang gewonnen haben und den Namen Boulanger in den Fahnen führen würden, mit denen sie zur Stimmurne zögen. Was dann geschehen würde, ist schwer zu sagen und darf, da in diesen letzten Betrachtungen nur Möglichkeiten und Ver¬ mutungen sich aneinander reihen, füglich unerörtert bleiben. Die Absicht war, zu zeigen, daß der Parlamentarismus für das innere Leben Frankreichs kein Segen, daß er vielmehr die Ursache von Fäulnis und Zersetzung gewesen ist, und daß er bis heute mit seinen unaufhörlichen Miuisterwechseln der Regierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/264>, abgerufen am 22.07.2024.