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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Französische Liebenswürdigkeiten.

setzen können, deren Krone nur eine Kinderhände gewesen wäre. Das Standbild
der ruhmvollen, reichen, blühenden Germania, umgeben von Fürsten, die sich
ihrem Glück geweiht haben, in seinem Grundbau untergraben und im Begriff,
in die Luft zu fliegen -- das ist das Bild, das ist das Wahrzeichen Deutsch¬
lands!" Diese nicht minder melodramatisch aufgeputzte Schilderung liefert wieder
ein lehrreiches Beispiel, wie französische Schriftsteller mit der Wahrheit um¬
springen aus bloßer Effekthascherei. Bekanntlich war die Dynamitmine jener
Mordgesellen (Schriftsetzer Neinsdorf und Konsorten) nicht unter dem Stand¬
bilde der Germania angelegt -- was ja nach gesundem Menschenverstande bei
der ordnungsmäßigen Bewachung desselben einfach ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen wäre --, sondern in ziemlicher Entfernung (etwa zehn Minuten davon)
in einem gewöhnlichen Abzugskanal der von Rüdesheim heraufführenden Straße.
Aber ein bloßer Wcifserdurchlaß, das würde ja in der rhetorische" Ausschmückung
der Sache gar keinen Effekt machen; nein, der sein sensationsbedürftiges und
leichtgläubiges Publikum kennende französische Schriftsteller versetzt, obwohl er
weiß, daß er lügt, die Mine in den Grundbau der Germania selbst, um am
liebsten diese samt Kaiser und Fürsten in die Luft fliegen zu lassen. Welches
großartige Bild für die erhitzte Phantasie der rachedurstigen Franzosen! Die
Mine ist, Gott sei Dank, auch in dem sehr gemeinen Straßenkanal nichl los¬
gegangen, und das Standbild der Germania thront noch heute stolz und sicher
auf seiner Höhe und wird hoffentlich für alle Zeiten der ohnmächtigen Wut
französischer Rhetoren Trotz bieten.

Wenn solche Gehässigkeiten mit Wollust täglich in den Pariser Zeitungen
abgelagert werden, so sind wir Deutsche seit siebzehn Jahren so daran gewöhnt,
daß wir uns längst mit gebührender Verachtung darüber hinwegsetzen. Wenn
aber selbst die angesehenste Zeitschrift des Landes, die einst viel bewunderte
lie-vno ach Äöux irwnäos, an der die ersten Schriftsteller Frankreichs arbeiten,
sich dazu erniedrigt, dem fanatischen Nevanchebedürfuis in allen denkbaren Formen
zu genügen und damit der vulgären Leidenschaft in unwürdiger Weise zu schmeicheln,
anstatt ihrer vom Größenwahn befallenen Nation den Spiegel der Selbsterkennt¬
nis vorzuhalten und sie immer wieder daran zu erinnern, daß sie allein aus un¬
verantwortlichen Frcvelmnt den schrecklichen Krieg von 1870/? 1 heraufbeschworen
und darum auch von Rechtswegen die Folgen desselben zu tragen hat -- so
mag das Wort hart klingen, es ist aber leider nur allzuwahr, daß nicht nur
der Franzose niederen oder mittleren Schlages, sondern selbst die höchstgebildeten
Gesellschaftskreise in dem Urteil über alles, was Deutschland betrifft, seit dem
letzten Kriege nicht als völlig zurechnungsfähig angesehen werden können. So
sehr hat gallische Leidenschaft, tief verletzter Nationaldünkel, wilder Rachedurst
selbst die helleren Geister der Nation umnebelt und verblendet. Ein höchst
bedauerliches Anzeichen sittlichen Verfalles ist es, daß selbst bei den französischen
Gelehrten sich der Sinn für die Wahrheit verliert: man betrügt die andern


Französische Liebenswürdigkeiten.

setzen können, deren Krone nur eine Kinderhände gewesen wäre. Das Standbild
der ruhmvollen, reichen, blühenden Germania, umgeben von Fürsten, die sich
ihrem Glück geweiht haben, in seinem Grundbau untergraben und im Begriff,
in die Luft zu fliegen — das ist das Bild, das ist das Wahrzeichen Deutsch¬
lands!" Diese nicht minder melodramatisch aufgeputzte Schilderung liefert wieder
ein lehrreiches Beispiel, wie französische Schriftsteller mit der Wahrheit um¬
springen aus bloßer Effekthascherei. Bekanntlich war die Dynamitmine jener
Mordgesellen (Schriftsetzer Neinsdorf und Konsorten) nicht unter dem Stand¬
bilde der Germania angelegt — was ja nach gesundem Menschenverstande bei
der ordnungsmäßigen Bewachung desselben einfach ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen wäre —, sondern in ziemlicher Entfernung (etwa zehn Minuten davon)
in einem gewöhnlichen Abzugskanal der von Rüdesheim heraufführenden Straße.
Aber ein bloßer Wcifserdurchlaß, das würde ja in der rhetorische» Ausschmückung
der Sache gar keinen Effekt machen; nein, der sein sensationsbedürftiges und
leichtgläubiges Publikum kennende französische Schriftsteller versetzt, obwohl er
weiß, daß er lügt, die Mine in den Grundbau der Germania selbst, um am
liebsten diese samt Kaiser und Fürsten in die Luft fliegen zu lassen. Welches
großartige Bild für die erhitzte Phantasie der rachedurstigen Franzosen! Die
Mine ist, Gott sei Dank, auch in dem sehr gemeinen Straßenkanal nichl los¬
gegangen, und das Standbild der Germania thront noch heute stolz und sicher
auf seiner Höhe und wird hoffentlich für alle Zeiten der ohnmächtigen Wut
französischer Rhetoren Trotz bieten.

Wenn solche Gehässigkeiten mit Wollust täglich in den Pariser Zeitungen
abgelagert werden, so sind wir Deutsche seit siebzehn Jahren so daran gewöhnt,
daß wir uns längst mit gebührender Verachtung darüber hinwegsetzen. Wenn
aber selbst die angesehenste Zeitschrift des Landes, die einst viel bewunderte
lie-vno ach Äöux irwnäos, an der die ersten Schriftsteller Frankreichs arbeiten,
sich dazu erniedrigt, dem fanatischen Nevanchebedürfuis in allen denkbaren Formen
zu genügen und damit der vulgären Leidenschaft in unwürdiger Weise zu schmeicheln,
anstatt ihrer vom Größenwahn befallenen Nation den Spiegel der Selbsterkennt¬
nis vorzuhalten und sie immer wieder daran zu erinnern, daß sie allein aus un¬
verantwortlichen Frcvelmnt den schrecklichen Krieg von 1870/? 1 heraufbeschworen
und darum auch von Rechtswegen die Folgen desselben zu tragen hat — so
mag das Wort hart klingen, es ist aber leider nur allzuwahr, daß nicht nur
der Franzose niederen oder mittleren Schlages, sondern selbst die höchstgebildeten
Gesellschaftskreise in dem Urteil über alles, was Deutschland betrifft, seit dem
letzten Kriege nicht als völlig zurechnungsfähig angesehen werden können. So
sehr hat gallische Leidenschaft, tief verletzter Nationaldünkel, wilder Rachedurst
selbst die helleren Geister der Nation umnebelt und verblendet. Ein höchst
bedauerliches Anzeichen sittlichen Verfalles ist es, daß selbst bei den französischen
Gelehrten sich der Sinn für die Wahrheit verliert: man betrügt die andern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/211>, abgerufen am 22.07.2024.