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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

durch nächtliches Fortarbeiten ausgeglichen, wobei Leute von vierzehn bis sech¬
zehn Jahren in derselben Weise wie Erwachsene und Kinder unter vierzehn
Jahren nur zwei Stunden täglich weniger verwendet werden. Das im vorigen
Abschnitte geschilderte Strafensystem mit seinen Lohnabzügen ist allenthalben
in Geltung und wird durch die hier größere Abhängigkeit der Arbeiterschaft
noch verschärft. In den meisten Ortschaften der Jndustriegegenden giebt es nur
eine einzige Fabrik, und so hat der Arbeitsuchende keine Wahl zwischen ungün¬
stigen und weniger schlechten Bedingungen. So in Altkirch, Wässerung, Lutter-
bach, Bollweiler, Buhl, Jssenheim, Münster, Kaisersberg und Urbeis, und selbst
in Städten wie Thann, Gebweiler und Kolmar giebt es nicht mehr als zwei
oder drei Fabriken, zwischen denen die Leute wählen können. Dazu tritt noch
der Umstand, daß sie auf dem Lande oft durch den Besitz eines kleinen Un¬
wesens, welches die Frau oder die Eltern besorgen, an die Scholle gefesselt
sind. So ist von irgend welchem Einfluß des Arbeiters auf das Arbeits-
verhältnis nicht die Rede. Die Löhne sind durchschnittlich um ein Drittel ge¬
ringer als in Mülhausen, und das wird durch die etwas niedrigern Preise der
Bedarfsartikel in jenen Gegenden nur teilweise ausgeglichen, sodaß die Arbeiter
hier dürftiger leben als in Mülhausen, häufiger als dort Holzschuhe und Baum¬
wollenstoffe tragen, weniger Fleisch essen, sich vielfach mit Brot und Kartoffeln
begnügen lind mehr Branntwein zu sich nehmen. In einigen Strichen, z. B. in
Kaysersberg und zu Walbach im Münsterthale, besteht sogar das berüchtigte
Trucksystem fort. "Der Fabrikant hält einen Laden, aus welchem die Arbeiter
ihren Bedarf zu decken haben, falls sie sich nicht allen möglichen Hudeleien aus¬
setzen und schließlich entlassen werden wollen. Die Preise übersteigen die ortsüb¬
lichen um mindestens ein Zehntel, oft um ein Achtel, auch wird über geringe Güte,
sowie schlechtes Maß und Gewicht geklagt. Am Zahltage der Fabrik zieht man
ihnen den Betrag der zwei Wochen hindurch von ihnen entnommenen Waaren
am Lohne ab, selbst wenn kein Pfennig dabei zu barer Auszahlung übrig bleiben
sollte, und reicht der Lohn des Mannes nicht aus, so wird auch derjenige der
Frau und des Kindes in Anspruch genommen."

Der schlechter" Bezahlung und Ernährung in diesen Arbeiterkreisen und
der weniger vorsichtigen Einrichtung der Fabriken in Betreff der Temperatur
und Ventilation entspricht eine stärkere physische Entartung. Im Kreise Thann
erwiesen sich 1881 von den in Spinnereien beschäftigten Militärpflichtiger nur
fünf, von den in Webereien arbeitenden mir zwölf Prozent als zum Kriegs¬
dienste tauglich, wogegen die Stellungspflichtigen der ländlichen Berufsarten
zweiundfünfzig Prozent brauchbare Leute lieferten. Der Kreisarzt berichtete:
"In den Fabrikdörfern, wo alles von Jugend auf in den Spinnereien und We¬
bereien arbeitet, waren fast alle Stellungspflichtigen untauglich, und wir glauben,
wenn das so weiter geht, braucht man bald keine Aushebungskommisston mehr
in diese Orte zu schicken." Viel trägt in den Städten hierzu die Art und


Grenzboten IV. 1887. 21
Die soziale Frage im Reichslande.

durch nächtliches Fortarbeiten ausgeglichen, wobei Leute von vierzehn bis sech¬
zehn Jahren in derselben Weise wie Erwachsene und Kinder unter vierzehn
Jahren nur zwei Stunden täglich weniger verwendet werden. Das im vorigen
Abschnitte geschilderte Strafensystem mit seinen Lohnabzügen ist allenthalben
in Geltung und wird durch die hier größere Abhängigkeit der Arbeiterschaft
noch verschärft. In den meisten Ortschaften der Jndustriegegenden giebt es nur
eine einzige Fabrik, und so hat der Arbeitsuchende keine Wahl zwischen ungün¬
stigen und weniger schlechten Bedingungen. So in Altkirch, Wässerung, Lutter-
bach, Bollweiler, Buhl, Jssenheim, Münster, Kaisersberg und Urbeis, und selbst
in Städten wie Thann, Gebweiler und Kolmar giebt es nicht mehr als zwei
oder drei Fabriken, zwischen denen die Leute wählen können. Dazu tritt noch
der Umstand, daß sie auf dem Lande oft durch den Besitz eines kleinen Un¬
wesens, welches die Frau oder die Eltern besorgen, an die Scholle gefesselt
sind. So ist von irgend welchem Einfluß des Arbeiters auf das Arbeits-
verhältnis nicht die Rede. Die Löhne sind durchschnittlich um ein Drittel ge¬
ringer als in Mülhausen, und das wird durch die etwas niedrigern Preise der
Bedarfsartikel in jenen Gegenden nur teilweise ausgeglichen, sodaß die Arbeiter
hier dürftiger leben als in Mülhausen, häufiger als dort Holzschuhe und Baum¬
wollenstoffe tragen, weniger Fleisch essen, sich vielfach mit Brot und Kartoffeln
begnügen lind mehr Branntwein zu sich nehmen. In einigen Strichen, z. B. in
Kaysersberg und zu Walbach im Münsterthale, besteht sogar das berüchtigte
Trucksystem fort. „Der Fabrikant hält einen Laden, aus welchem die Arbeiter
ihren Bedarf zu decken haben, falls sie sich nicht allen möglichen Hudeleien aus¬
setzen und schließlich entlassen werden wollen. Die Preise übersteigen die ortsüb¬
lichen um mindestens ein Zehntel, oft um ein Achtel, auch wird über geringe Güte,
sowie schlechtes Maß und Gewicht geklagt. Am Zahltage der Fabrik zieht man
ihnen den Betrag der zwei Wochen hindurch von ihnen entnommenen Waaren
am Lohne ab, selbst wenn kein Pfennig dabei zu barer Auszahlung übrig bleiben
sollte, und reicht der Lohn des Mannes nicht aus, so wird auch derjenige der
Frau und des Kindes in Anspruch genommen."

Der schlechter» Bezahlung und Ernährung in diesen Arbeiterkreisen und
der weniger vorsichtigen Einrichtung der Fabriken in Betreff der Temperatur
und Ventilation entspricht eine stärkere physische Entartung. Im Kreise Thann
erwiesen sich 1881 von den in Spinnereien beschäftigten Militärpflichtiger nur
fünf, von den in Webereien arbeitenden mir zwölf Prozent als zum Kriegs¬
dienste tauglich, wogegen die Stellungspflichtigen der ländlichen Berufsarten
zweiundfünfzig Prozent brauchbare Leute lieferten. Der Kreisarzt berichtete:
„In den Fabrikdörfern, wo alles von Jugend auf in den Spinnereien und We¬
bereien arbeitet, waren fast alle Stellungspflichtigen untauglich, und wir glauben,
wenn das so weiter geht, braucht man bald keine Aushebungskommisston mehr
in diese Orte zu schicken." Viel trägt in den Städten hierzu die Art und


Grenzboten IV. 1887. 21
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[0169] Die soziale Frage im Reichslande. durch nächtliches Fortarbeiten ausgeglichen, wobei Leute von vierzehn bis sech¬ zehn Jahren in derselben Weise wie Erwachsene und Kinder unter vierzehn Jahren nur zwei Stunden täglich weniger verwendet werden. Das im vorigen Abschnitte geschilderte Strafensystem mit seinen Lohnabzügen ist allenthalben in Geltung und wird durch die hier größere Abhängigkeit der Arbeiterschaft noch verschärft. In den meisten Ortschaften der Jndustriegegenden giebt es nur eine einzige Fabrik, und so hat der Arbeitsuchende keine Wahl zwischen ungün¬ stigen und weniger schlechten Bedingungen. So in Altkirch, Wässerung, Lutter- bach, Bollweiler, Buhl, Jssenheim, Münster, Kaisersberg und Urbeis, und selbst in Städten wie Thann, Gebweiler und Kolmar giebt es nicht mehr als zwei oder drei Fabriken, zwischen denen die Leute wählen können. Dazu tritt noch der Umstand, daß sie auf dem Lande oft durch den Besitz eines kleinen Un¬ wesens, welches die Frau oder die Eltern besorgen, an die Scholle gefesselt sind. So ist von irgend welchem Einfluß des Arbeiters auf das Arbeits- verhältnis nicht die Rede. Die Löhne sind durchschnittlich um ein Drittel ge¬ ringer als in Mülhausen, und das wird durch die etwas niedrigern Preise der Bedarfsartikel in jenen Gegenden nur teilweise ausgeglichen, sodaß die Arbeiter hier dürftiger leben als in Mülhausen, häufiger als dort Holzschuhe und Baum¬ wollenstoffe tragen, weniger Fleisch essen, sich vielfach mit Brot und Kartoffeln begnügen lind mehr Branntwein zu sich nehmen. In einigen Strichen, z. B. in Kaysersberg und zu Walbach im Münsterthale, besteht sogar das berüchtigte Trucksystem fort. „Der Fabrikant hält einen Laden, aus welchem die Arbeiter ihren Bedarf zu decken haben, falls sie sich nicht allen möglichen Hudeleien aus¬ setzen und schließlich entlassen werden wollen. Die Preise übersteigen die ortsüb¬ lichen um mindestens ein Zehntel, oft um ein Achtel, auch wird über geringe Güte, sowie schlechtes Maß und Gewicht geklagt. Am Zahltage der Fabrik zieht man ihnen den Betrag der zwei Wochen hindurch von ihnen entnommenen Waaren am Lohne ab, selbst wenn kein Pfennig dabei zu barer Auszahlung übrig bleiben sollte, und reicht der Lohn des Mannes nicht aus, so wird auch derjenige der Frau und des Kindes in Anspruch genommen." Der schlechter» Bezahlung und Ernährung in diesen Arbeiterkreisen und der weniger vorsichtigen Einrichtung der Fabriken in Betreff der Temperatur und Ventilation entspricht eine stärkere physische Entartung. Im Kreise Thann erwiesen sich 1881 von den in Spinnereien beschäftigten Militärpflichtiger nur fünf, von den in Webereien arbeitenden mir zwölf Prozent als zum Kriegs¬ dienste tauglich, wogegen die Stellungspflichtigen der ländlichen Berufsarten zweiundfünfzig Prozent brauchbare Leute lieferten. Der Kreisarzt berichtete: „In den Fabrikdörfern, wo alles von Jugend auf in den Spinnereien und We¬ bereien arbeitet, waren fast alle Stellungspflichtigen untauglich, und wir glauben, wenn das so weiter geht, braucht man bald keine Aushebungskommisston mehr in diese Orte zu schicken." Viel trägt in den Städten hierzu die Art und Grenzboten IV. 1887. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/169>, abgerufen am 22.07.2024.