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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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der unentbehrlichsten Geschirre, ein eisernes Öfchen und ein breites Bett für die
ganze Familie bilden den einzigen Hausrat. Thüren und Fenster sind morsch und
schließen schlecht." Das stellt etwa den Zustand der schlechtesten von diesen
Arbeiterstuben dar. In den meisten, auch in den bessern, herrscht eine ab¬
schreckende Luft, da die Abneigung der Leute vor dem Lüften allgemein ist.
Nicht bloß im Winter, wo man Heizmaterial spart, wenn man Thür und
Fenster geschlossen hält, sondern auch im Sommer wird alle frische Luft sorg¬
fältig fern gehalten, vielleicht aus demselben Grunde, aus welchem die Arbeiter
einer englischen Fabrik die dort eingerichteten Ventilationsanstalten zerstörten,
d. h. weil sie glaubten, frische Luft mache zu viel Hunger. Schmutz, große
Dürftigkeit der Ausstattung, Überfüllung und schlechter Dunst herrschen auch in
den meisten Wohnungen der Lütv ouvriers. Freilich giebt es hier daneben, beson¬
ders in der Straßburger Straße, eine Anzahl von den besten Arbeitern bewohnter
Häuschen, deren Räume fast verschwenderisch möblirt und durchaus sauber ge¬
halten sind, und hierher pflegt man gewöhnlich die oberflächlich sich erkundigenden
und leichtgläubigen Reisenden zu führe"?, welche bei Fabrikanten und deren Be¬
amten nach den Zuständen ihrer Arbeiter fragen. Natürlich unterschreiben solche
"Augenzeugen" dann gern die an die Spitze dieses Kapitels gestellte Behauptung
Grads und verbreiten in Zeitschriften und Büchern am Schlüsse ihrer Beobach¬
tungen verallgemeinernd das Märchen, in Mülhausen sei der Gegensatz zwischen
Proletariat und Kapitalismus durch Verwandlung des Arbeiters in einen kleinen
Besitzenden aufgehoben. Wer aber, wie der Verfasser unsers Buches, nicht bloß
ein paar Musterhäuser gesehen und deren Inhaber gesprochen, sondern eine ganze
Anzahl von "Sittehüseln" besucht und die Denkweise der Bewohner derselben
kennen gelernt hat, wird nicht umhinkönnen, mit ihm auszurufen: "Mit, diesem
Häuslein wollt ihr Uri zwingen!"

Gleichwohl ist die Lage der oberelsässer Arbeiterschaft in Mülhausen noch
die günstigste. Die Schatten des Bildes sind anderwärts tiefer und breiter.
Die Textilindustrie beschäftigt besonders in den Kreisen Thann, Gebweiler und
Kolmar ansehnliche Bruchteile der Bevölkerung, und von diesen Fabriken und
Arbeitern gilt nach Herkners Berichten im allgemeinen folgendes. In den
Thälern sind die industriellen Etablissements meist noch nach alter Art einge¬
richtet, und so lassen sie hinsichtlich der Aufstellung der Maschinen, der Tem¬
peratur und der Ventilation sowie in andern sanitären Beziehungen gewöhnlich
weit mehr vermissen als die in und bei Mülhausen. Auch die Arbeitszeit ist
hier im allgemeinen länger, und selbst Grad berichtet von dreizehn bis vier¬
zehn Stunden. Die Unregelmäßigkeiten, welchen die hier noch vielfach be¬
nutzten Wasserkräfte in ihrer Verwendbarkeit ausgesetzt sind, übertragen sich
nämlich auf die Bestimmung der Arbeitsdauer in den Fabriken. Die Verluste,
die man in der trocknen Jahreszeit durch Schwächung jener Kräfte erleidet,
werden bei günstigem Stande des Wassers im Frühling, Winter und Herbst


der unentbehrlichsten Geschirre, ein eisernes Öfchen und ein breites Bett für die
ganze Familie bilden den einzigen Hausrat. Thüren und Fenster sind morsch und
schließen schlecht." Das stellt etwa den Zustand der schlechtesten von diesen
Arbeiterstuben dar. In den meisten, auch in den bessern, herrscht eine ab¬
schreckende Luft, da die Abneigung der Leute vor dem Lüften allgemein ist.
Nicht bloß im Winter, wo man Heizmaterial spart, wenn man Thür und
Fenster geschlossen hält, sondern auch im Sommer wird alle frische Luft sorg¬
fältig fern gehalten, vielleicht aus demselben Grunde, aus welchem die Arbeiter
einer englischen Fabrik die dort eingerichteten Ventilationsanstalten zerstörten,
d. h. weil sie glaubten, frische Luft mache zu viel Hunger. Schmutz, große
Dürftigkeit der Ausstattung, Überfüllung und schlechter Dunst herrschen auch in
den meisten Wohnungen der Lütv ouvriers. Freilich giebt es hier daneben, beson¬
ders in der Straßburger Straße, eine Anzahl von den besten Arbeitern bewohnter
Häuschen, deren Räume fast verschwenderisch möblirt und durchaus sauber ge¬
halten sind, und hierher pflegt man gewöhnlich die oberflächlich sich erkundigenden
und leichtgläubigen Reisenden zu führe«?, welche bei Fabrikanten und deren Be¬
amten nach den Zuständen ihrer Arbeiter fragen. Natürlich unterschreiben solche
„Augenzeugen" dann gern die an die Spitze dieses Kapitels gestellte Behauptung
Grads und verbreiten in Zeitschriften und Büchern am Schlüsse ihrer Beobach¬
tungen verallgemeinernd das Märchen, in Mülhausen sei der Gegensatz zwischen
Proletariat und Kapitalismus durch Verwandlung des Arbeiters in einen kleinen
Besitzenden aufgehoben. Wer aber, wie der Verfasser unsers Buches, nicht bloß
ein paar Musterhäuser gesehen und deren Inhaber gesprochen, sondern eine ganze
Anzahl von „Sittehüseln" besucht und die Denkweise der Bewohner derselben
kennen gelernt hat, wird nicht umhinkönnen, mit ihm auszurufen: „Mit, diesem
Häuslein wollt ihr Uri zwingen!"

Gleichwohl ist die Lage der oberelsässer Arbeiterschaft in Mülhausen noch
die günstigste. Die Schatten des Bildes sind anderwärts tiefer und breiter.
Die Textilindustrie beschäftigt besonders in den Kreisen Thann, Gebweiler und
Kolmar ansehnliche Bruchteile der Bevölkerung, und von diesen Fabriken und
Arbeitern gilt nach Herkners Berichten im allgemeinen folgendes. In den
Thälern sind die industriellen Etablissements meist noch nach alter Art einge¬
richtet, und so lassen sie hinsichtlich der Aufstellung der Maschinen, der Tem¬
peratur und der Ventilation sowie in andern sanitären Beziehungen gewöhnlich
weit mehr vermissen als die in und bei Mülhausen. Auch die Arbeitszeit ist
hier im allgemeinen länger, und selbst Grad berichtet von dreizehn bis vier¬
zehn Stunden. Die Unregelmäßigkeiten, welchen die hier noch vielfach be¬
nutzten Wasserkräfte in ihrer Verwendbarkeit ausgesetzt sind, übertragen sich
nämlich auf die Bestimmung der Arbeitsdauer in den Fabriken. Die Verluste,
die man in der trocknen Jahreszeit durch Schwächung jener Kräfte erleidet,
werden bei günstigem Stande des Wassers im Frühling, Winter und Herbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/168>, abgerufen am 22.07.2024.