Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Marokko.

denen, die zu dem Feldzuge gegen die Krumirs führten -- jene halb oder ganz
fabelhaften Räuberstämme der Ostgrenze, deren Züchtigung natürlich mit der
Besetzung der Hauptstadt von Tunesien und mit der Verwandlung des Beys in
einen ohnmächtigen Vasallen der Eroberer endigte. Die Ranke und Schliche
französischer Agenten in den östlichen Gegenden des Reiches Muley Hassens zur
Vorbereitung ähnlichen Zugreifens sind wiederholt zu Tage getreten, ja man
hat sich kaum die Mühe gegeben, sie zu verbergen. Mehr als einmal haben
die Franzosen die Ansprüche des Scherifs und einzelner Kaids gegenüber der
Zentralbehörde begünstigt, und noch vor kurzem erzwangen sie beim Sultan das
Recht, zur Verfolgung von räuberischen Stämmen Truppen über die maurische
Grenze zu senden. Pariser Blätter erklärten in diesen Tagen, keine Partei in
Frankreich denke an Einverleibungen marokkanischen Landes. "Aber vielleicht
giebt es andre, welche Besitz davon zu nehmen Lust haben -- meinte die
RvxuolMuz I'i'tmyg.iss --, und dann wird Frankreich ein Wort dreinzureden
haben."

Die "andern," auf welche das opportunistische Blatt hinschielt, sind die Spa¬
nier, für welche die jetzige Krisis im Palaste zu Marokko noch weit wichtiger und
aufregender ist, als für ihre Nachbarn diesseits der Pyrenäen. Die Bestrebungen
des spanischen Volkes, sich auszudehnen, richteten sich schon in früher Zeit nach
dem Nordwesten Afrikas, den nur die Meerenge von Gibraltar vom Lande des Eid
und Don Quixotcs trennt, und zum Teil schon seit Jahrhunderten besitzt die
spanische Krone hier eine Reihe von kleinen Kolonien, die allerdings nicht viel
eintragen, aber als Kern zu weiterer Ausbreitung, die Spanien wieder zu größerer
Macht verhelfen könnte, von Bedeutung sind. Bereits im Jahre 1496 erwarb
es hier die Stadt Melitta, 1580 die Stadt Ceuta, Gibraltar gegenüber, bald
nachher die "Presidios" (Forts, die als Strafanstalten für verbannte Verbrecher
benutzt werden), Alhucemas und Velez de la Gomera, 1848 die Chafarinos-
Jnscln. Wiederholt schon führte es Krieg mit dem Maurcnreiche, und seine
Schuld war es gewiß nicht, wenn die dabei erfochtenen Siege ohne erhebliche
Landerwerbungen blieben und nicht den Traum verwirklichten, die einstige Er¬
oberung Südspaniens durch den Islam mit einer Eroberung des gesamten
Mogrib für das Kreuz zu vergelten. An dieses letztere denkt jetzt wohl nur
noch die Geistlichkeit und ihre Partei. Wohl aber locken weltliche Betrach¬
tungen. Das Sultanat jenseits der Meerenge ist 15000 Quadratmeilen groß
und in vielen Provinzen sehr fruchtbar, aber nur von höchstens vier Millionen
Menschen bewohnt. Es eignet sich mit seiner subtropischen Natur sehr wohl
für Einwanderer aus Südeuropa. Es liegt an zwei wichtigen Meeren und
hat gute Häfen für die Ein- und Ausfuhr. Nach seinen innern Zuständen kann
man es als ein afrikanisches Polen betrachten. Die Regierung ist kraftlos,
das Heer in primitivster Verfassung und somit auch einem an Zahl schwachen
europäischen Gegner nicht entfernt gewachsen. Ein Beweis dafür war 1844


Marokko.

denen, die zu dem Feldzuge gegen die Krumirs führten — jene halb oder ganz
fabelhaften Räuberstämme der Ostgrenze, deren Züchtigung natürlich mit der
Besetzung der Hauptstadt von Tunesien und mit der Verwandlung des Beys in
einen ohnmächtigen Vasallen der Eroberer endigte. Die Ranke und Schliche
französischer Agenten in den östlichen Gegenden des Reiches Muley Hassens zur
Vorbereitung ähnlichen Zugreifens sind wiederholt zu Tage getreten, ja man
hat sich kaum die Mühe gegeben, sie zu verbergen. Mehr als einmal haben
die Franzosen die Ansprüche des Scherifs und einzelner Kaids gegenüber der
Zentralbehörde begünstigt, und noch vor kurzem erzwangen sie beim Sultan das
Recht, zur Verfolgung von räuberischen Stämmen Truppen über die maurische
Grenze zu senden. Pariser Blätter erklärten in diesen Tagen, keine Partei in
Frankreich denke an Einverleibungen marokkanischen Landes. „Aber vielleicht
giebt es andre, welche Besitz davon zu nehmen Lust haben — meinte die
RvxuolMuz I'i'tmyg.iss —, und dann wird Frankreich ein Wort dreinzureden
haben."

Die „andern," auf welche das opportunistische Blatt hinschielt, sind die Spa¬
nier, für welche die jetzige Krisis im Palaste zu Marokko noch weit wichtiger und
aufregender ist, als für ihre Nachbarn diesseits der Pyrenäen. Die Bestrebungen
des spanischen Volkes, sich auszudehnen, richteten sich schon in früher Zeit nach
dem Nordwesten Afrikas, den nur die Meerenge von Gibraltar vom Lande des Eid
und Don Quixotcs trennt, und zum Teil schon seit Jahrhunderten besitzt die
spanische Krone hier eine Reihe von kleinen Kolonien, die allerdings nicht viel
eintragen, aber als Kern zu weiterer Ausbreitung, die Spanien wieder zu größerer
Macht verhelfen könnte, von Bedeutung sind. Bereits im Jahre 1496 erwarb
es hier die Stadt Melitta, 1580 die Stadt Ceuta, Gibraltar gegenüber, bald
nachher die „Presidios" (Forts, die als Strafanstalten für verbannte Verbrecher
benutzt werden), Alhucemas und Velez de la Gomera, 1848 die Chafarinos-
Jnscln. Wiederholt schon führte es Krieg mit dem Maurcnreiche, und seine
Schuld war es gewiß nicht, wenn die dabei erfochtenen Siege ohne erhebliche
Landerwerbungen blieben und nicht den Traum verwirklichten, die einstige Er¬
oberung Südspaniens durch den Islam mit einer Eroberung des gesamten
Mogrib für das Kreuz zu vergelten. An dieses letztere denkt jetzt wohl nur
noch die Geistlichkeit und ihre Partei. Wohl aber locken weltliche Betrach¬
tungen. Das Sultanat jenseits der Meerenge ist 15000 Quadratmeilen groß
und in vielen Provinzen sehr fruchtbar, aber nur von höchstens vier Millionen
Menschen bewohnt. Es eignet sich mit seiner subtropischen Natur sehr wohl
für Einwanderer aus Südeuropa. Es liegt an zwei wichtigen Meeren und
hat gute Häfen für die Ein- und Ausfuhr. Nach seinen innern Zuständen kann
man es als ein afrikanisches Polen betrachten. Die Regierung ist kraftlos,
das Heer in primitivster Verfassung und somit auch einem an Zahl schwachen
europäischen Gegner nicht entfernt gewachsen. Ein Beweis dafür war 1844


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0163" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201592"/>
          <fw type="header" place="top"> Marokko.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_387" prev="#ID_386"> denen, die zu dem Feldzuge gegen die Krumirs führten &#x2014; jene halb oder ganz<lb/>
fabelhaften Räuberstämme der Ostgrenze, deren Züchtigung natürlich mit der<lb/>
Besetzung der Hauptstadt von Tunesien und mit der Verwandlung des Beys in<lb/>
einen ohnmächtigen Vasallen der Eroberer endigte. Die Ranke und Schliche<lb/>
französischer Agenten in den östlichen Gegenden des Reiches Muley Hassens zur<lb/>
Vorbereitung ähnlichen Zugreifens sind wiederholt zu Tage getreten, ja man<lb/>
hat sich kaum die Mühe gegeben, sie zu verbergen. Mehr als einmal haben<lb/>
die Franzosen die Ansprüche des Scherifs und einzelner Kaids gegenüber der<lb/>
Zentralbehörde begünstigt, und noch vor kurzem erzwangen sie beim Sultan das<lb/>
Recht, zur Verfolgung von räuberischen Stämmen Truppen über die maurische<lb/>
Grenze zu senden. Pariser Blätter erklärten in diesen Tagen, keine Partei in<lb/>
Frankreich denke an Einverleibungen marokkanischen Landes. &#x201E;Aber vielleicht<lb/>
giebt es andre, welche Besitz davon zu nehmen Lust haben &#x2014; meinte die<lb/>
RvxuolMuz I'i'tmyg.iss &#x2014;, und dann wird Frankreich ein Wort dreinzureden<lb/>
haben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_388" next="#ID_389"> Die &#x201E;andern," auf welche das opportunistische Blatt hinschielt, sind die Spa¬<lb/>
nier, für welche die jetzige Krisis im Palaste zu Marokko noch weit wichtiger und<lb/>
aufregender ist, als für ihre Nachbarn diesseits der Pyrenäen. Die Bestrebungen<lb/>
des spanischen Volkes, sich auszudehnen, richteten sich schon in früher Zeit nach<lb/>
dem Nordwesten Afrikas, den nur die Meerenge von Gibraltar vom Lande des Eid<lb/>
und Don Quixotcs trennt, und zum Teil schon seit Jahrhunderten besitzt die<lb/>
spanische Krone hier eine Reihe von kleinen Kolonien, die allerdings nicht viel<lb/>
eintragen, aber als Kern zu weiterer Ausbreitung, die Spanien wieder zu größerer<lb/>
Macht verhelfen könnte, von Bedeutung sind. Bereits im Jahre 1496 erwarb<lb/>
es hier die Stadt Melitta, 1580 die Stadt Ceuta, Gibraltar gegenüber, bald<lb/>
nachher die &#x201E;Presidios" (Forts, die als Strafanstalten für verbannte Verbrecher<lb/>
benutzt werden), Alhucemas und Velez de la Gomera, 1848 die Chafarinos-<lb/>
Jnscln.  Wiederholt schon führte es Krieg mit dem Maurcnreiche, und seine<lb/>
Schuld war es gewiß nicht, wenn die dabei erfochtenen Siege ohne erhebliche<lb/>
Landerwerbungen blieben und nicht den Traum verwirklichten, die einstige Er¬<lb/>
oberung Südspaniens durch den Islam mit einer Eroberung des gesamten<lb/>
Mogrib für das Kreuz zu vergelten.  An dieses letztere denkt jetzt wohl nur<lb/>
noch die Geistlichkeit und ihre Partei.  Wohl aber locken weltliche Betrach¬<lb/>
tungen.  Das Sultanat jenseits der Meerenge ist 15000 Quadratmeilen groß<lb/>
und in vielen Provinzen sehr fruchtbar, aber nur von höchstens vier Millionen<lb/>
Menschen bewohnt.  Es eignet sich mit seiner subtropischen Natur sehr wohl<lb/>
für Einwanderer aus Südeuropa.  Es liegt an zwei wichtigen Meeren und<lb/>
hat gute Häfen für die Ein- und Ausfuhr. Nach seinen innern Zuständen kann<lb/>
man es als ein afrikanisches Polen betrachten. Die Regierung ist kraftlos,<lb/>
das Heer in primitivster Verfassung und somit auch einem an Zahl schwachen<lb/>
europäischen Gegner nicht entfernt gewachsen. Ein Beweis dafür war 1844</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0163] Marokko. denen, die zu dem Feldzuge gegen die Krumirs führten — jene halb oder ganz fabelhaften Räuberstämme der Ostgrenze, deren Züchtigung natürlich mit der Besetzung der Hauptstadt von Tunesien und mit der Verwandlung des Beys in einen ohnmächtigen Vasallen der Eroberer endigte. Die Ranke und Schliche französischer Agenten in den östlichen Gegenden des Reiches Muley Hassens zur Vorbereitung ähnlichen Zugreifens sind wiederholt zu Tage getreten, ja man hat sich kaum die Mühe gegeben, sie zu verbergen. Mehr als einmal haben die Franzosen die Ansprüche des Scherifs und einzelner Kaids gegenüber der Zentralbehörde begünstigt, und noch vor kurzem erzwangen sie beim Sultan das Recht, zur Verfolgung von räuberischen Stämmen Truppen über die maurische Grenze zu senden. Pariser Blätter erklärten in diesen Tagen, keine Partei in Frankreich denke an Einverleibungen marokkanischen Landes. „Aber vielleicht giebt es andre, welche Besitz davon zu nehmen Lust haben — meinte die RvxuolMuz I'i'tmyg.iss —, und dann wird Frankreich ein Wort dreinzureden haben." Die „andern," auf welche das opportunistische Blatt hinschielt, sind die Spa¬ nier, für welche die jetzige Krisis im Palaste zu Marokko noch weit wichtiger und aufregender ist, als für ihre Nachbarn diesseits der Pyrenäen. Die Bestrebungen des spanischen Volkes, sich auszudehnen, richteten sich schon in früher Zeit nach dem Nordwesten Afrikas, den nur die Meerenge von Gibraltar vom Lande des Eid und Don Quixotcs trennt, und zum Teil schon seit Jahrhunderten besitzt die spanische Krone hier eine Reihe von kleinen Kolonien, die allerdings nicht viel eintragen, aber als Kern zu weiterer Ausbreitung, die Spanien wieder zu größerer Macht verhelfen könnte, von Bedeutung sind. Bereits im Jahre 1496 erwarb es hier die Stadt Melitta, 1580 die Stadt Ceuta, Gibraltar gegenüber, bald nachher die „Presidios" (Forts, die als Strafanstalten für verbannte Verbrecher benutzt werden), Alhucemas und Velez de la Gomera, 1848 die Chafarinos- Jnscln. Wiederholt schon führte es Krieg mit dem Maurcnreiche, und seine Schuld war es gewiß nicht, wenn die dabei erfochtenen Siege ohne erhebliche Landerwerbungen blieben und nicht den Traum verwirklichten, die einstige Er¬ oberung Südspaniens durch den Islam mit einer Eroberung des gesamten Mogrib für das Kreuz zu vergelten. An dieses letztere denkt jetzt wohl nur noch die Geistlichkeit und ihre Partei. Wohl aber locken weltliche Betrach¬ tungen. Das Sultanat jenseits der Meerenge ist 15000 Quadratmeilen groß und in vielen Provinzen sehr fruchtbar, aber nur von höchstens vier Millionen Menschen bewohnt. Es eignet sich mit seiner subtropischen Natur sehr wohl für Einwanderer aus Südeuropa. Es liegt an zwei wichtigen Meeren und hat gute Häfen für die Ein- und Ausfuhr. Nach seinen innern Zuständen kann man es als ein afrikanisches Polen betrachten. Die Regierung ist kraftlos, das Heer in primitivster Verfassung und somit auch einem an Zahl schwachen europäischen Gegner nicht entfernt gewachsen. Ein Beweis dafür war 1844

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/163
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/163>, abgerufen am 22.07.2024.