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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

Ihre gelblich graue, ins Grüne schimmernde Gesichtsfarbe, ihr ungeordnetes
Haar, in welchem die schwarzen Finger sich in verdächtiger Weise zu schaffen
machen, die geflickten oder auch nicht geflickten Binsen und Hosen von Baum¬
wollenzeug erregen tiefes Mitleid. Aber schlimmer ist die geistige Vernach¬
lässigung, die dem Mangel an jeder Beaufsichtigung entspringt. Die größeren
laufen und graben stumpf im Staube oder Schmutze der Straßen herum. Das
kleinste liegt in einem Korbwügclchen und ist zur Besorgung einem Schwesterchen
überlassen, das selbst erst seit nicht langer Zeit ordentlich gehen gelernt hat.
I" den vorwiegend von Arbeitern bewohnten Gegenden Mülhciuseus wimmeln
die Gassen von solchen Kindern. "Als ich -- erzählt Hertner -- das Waisen¬
haus besuchte, war ich erstaunt, wie vorteilhaft die hier untergebrachten eltern¬
losen Geschöpfe in ihrem ganzen körperlichen und geistigen Wesen sich von der
Mehrzahl jener unterschieden, deren Eltern zwar noch leben, aber nicht für ihre
Kinder, sondern für die Fabrik."

Von Gelegenheit für die Arbeiter, die Abspannung, welche lange eintönige
Beschäftigung in übler Luft herbeiführt, durch sonntäglichen Aufenthalt im
Freien und unter schattigen Bäumen einigermaßen zu beseitigen, ist in Mül-
hausen wenig die Rede. Die Stadt besitzt nur eine einzige öffentliche Anlage,
den sogenannten "Tannwald." und der ist von den Quartieren, wo die Arbeiter
wohnen, drei bis vier Kilometer entfernt, weshalb sie nicht oft dahin kommen.
Nur einen verhältnismäßig kleinen Teil des Volkes der Prolctarierstadt sieht
man an Sonntagsnachmittagen dnrch das Villenquarticr des Nebbergs zu ihm
hinaufpilgeru. Halbreife Burschen, schou mit einem "schätzte" versehen. Ehe-
Paare, bei welchen man den schwächlichen, verkümmerten Mann eher für den
Sohn oder den jüngeren Bruder als für den Gatten der Frau halten möchte,
er ein Kind auf dem Arme, sie eins unter dem Herzen, ein andres im Wagen
hinter sich herziehend, so wandern sie weiter, um sich einmal für einige Stunden
als Menschen zu fühlen, nachdem sie sechs Tage lang nicht viel mehr als die
Maschinen gewesen sind, mit denen um die Wette sie sich keuchend und schwitzend
abhasteteu, um den Luxus der Kapitalisten, die ihnen Arbeit geben, und daneben
ihr und der Ihrigen kärgliches Brot zu verdienen. Fürwahr, es ist ihnen nicht
zu verübeln, wenn sie mit Neid und Bitterkeit auf die stattlichen Hänser und
Gärten und auf die stolzen Equipagen jener Glücklichen blicken. Wenn sich
auch der Unterschied zwischen Reich und Arm niemals völlig ausgleichen läßt,
darf man ihnen wohl von Herzen wünschen, daß in dieser Richtung Vonseiten
der Regierung bald das geschehe, was im übrigen Deutschland möglich gewesen
ist, um den Unterschied weniger fühlbar, die Last der Arbeiter leichter und
ungefährlicher und ihre Zukunft sicherer und Heller zu machen.




Die soziale Frage im Reichslande.

Ihre gelblich graue, ins Grüne schimmernde Gesichtsfarbe, ihr ungeordnetes
Haar, in welchem die schwarzen Finger sich in verdächtiger Weise zu schaffen
machen, die geflickten oder auch nicht geflickten Binsen und Hosen von Baum¬
wollenzeug erregen tiefes Mitleid. Aber schlimmer ist die geistige Vernach¬
lässigung, die dem Mangel an jeder Beaufsichtigung entspringt. Die größeren
laufen und graben stumpf im Staube oder Schmutze der Straßen herum. Das
kleinste liegt in einem Korbwügclchen und ist zur Besorgung einem Schwesterchen
überlassen, das selbst erst seit nicht langer Zeit ordentlich gehen gelernt hat.
I" den vorwiegend von Arbeitern bewohnten Gegenden Mülhciuseus wimmeln
die Gassen von solchen Kindern. „Als ich — erzählt Hertner — das Waisen¬
haus besuchte, war ich erstaunt, wie vorteilhaft die hier untergebrachten eltern¬
losen Geschöpfe in ihrem ganzen körperlichen und geistigen Wesen sich von der
Mehrzahl jener unterschieden, deren Eltern zwar noch leben, aber nicht für ihre
Kinder, sondern für die Fabrik."

Von Gelegenheit für die Arbeiter, die Abspannung, welche lange eintönige
Beschäftigung in übler Luft herbeiführt, durch sonntäglichen Aufenthalt im
Freien und unter schattigen Bäumen einigermaßen zu beseitigen, ist in Mül-
hausen wenig die Rede. Die Stadt besitzt nur eine einzige öffentliche Anlage,
den sogenannten „Tannwald." und der ist von den Quartieren, wo die Arbeiter
wohnen, drei bis vier Kilometer entfernt, weshalb sie nicht oft dahin kommen.
Nur einen verhältnismäßig kleinen Teil des Volkes der Prolctarierstadt sieht
man an Sonntagsnachmittagen dnrch das Villenquarticr des Nebbergs zu ihm
hinaufpilgeru. Halbreife Burschen, schou mit einem „schätzte" versehen. Ehe-
Paare, bei welchen man den schwächlichen, verkümmerten Mann eher für den
Sohn oder den jüngeren Bruder als für den Gatten der Frau halten möchte,
er ein Kind auf dem Arme, sie eins unter dem Herzen, ein andres im Wagen
hinter sich herziehend, so wandern sie weiter, um sich einmal für einige Stunden
als Menschen zu fühlen, nachdem sie sechs Tage lang nicht viel mehr als die
Maschinen gewesen sind, mit denen um die Wette sie sich keuchend und schwitzend
abhasteteu, um den Luxus der Kapitalisten, die ihnen Arbeit geben, und daneben
ihr und der Ihrigen kärgliches Brot zu verdienen. Fürwahr, es ist ihnen nicht
zu verübeln, wenn sie mit Neid und Bitterkeit auf die stattlichen Hänser und
Gärten und auf die stolzen Equipagen jener Glücklichen blicken. Wenn sich
auch der Unterschied zwischen Reich und Arm niemals völlig ausgleichen läßt,
darf man ihnen wohl von Herzen wünschen, daß in dieser Richtung Vonseiten
der Regierung bald das geschehe, was im übrigen Deutschland möglich gewesen
ist, um den Unterschied weniger fühlbar, die Last der Arbeiter leichter und
ungefährlicher und ihre Zukunft sicherer und Heller zu machen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/15>, abgerufen am 22.07.2024.