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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Dichterfreundinnen.

derie, da sie wirklich wider ihr Temperament sanft und zurückhaltend ist." Man
kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Karoline ganz ähnlich über Therese
geurteilt haben wird. Die emanzipirten Geister in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts brüsteten sich außerordentlich mit der Wahrhaftigkeit und
Aufrichtigkeit gegen sich und andre, aber man kann ihnen oft mit ihren eignen
Worten nachweisen, daß auch sie nicht immer ohne Falsch waren. Dies gilt
von Männern und Frauen.

Wie weit sich aber auch Karoline in das leichtfertige Treiben ihrer Zeit
hineinziehen ließ, der Kare Blick ihres Geistes wurde dadurch nicht getrübt.
Man darf diesen Gegensatz nicht übersehen, denn er läßt sich verallgemeinert in
vielen Verhältnissen jener glänzenden Literaturepoche nachweisen. So schreibt
sie, freilich zehn Jahre später, nach mancherlei trüben Erfahrungen (1790) an
ihren jüngeren Bruder Philipp einen Brief voll ernster und gütiger Ermah¬
nungen, der ein Meisterstück pädagogischer Weisheit ist. Aus welcher geistigen
Tiefe ist z. B. folgende Stelle geschöpft: "Es giebt doch wahrlich nichts un¬
seligeres als das Abgerissene in der Gedankenreihe, im Wissen, im ganzen Sein,
und wer nur kritisirt, dünkt sich früh schon weit und kann es in dieser Kunst auch
sein, aber wozu hilft es ihm, was gewinnt er für sich damit? Es ist ein nega¬
tives Verdienst, wodurch er nur zu leicht über das positive wegschlüpft. Nein,
der Jüngling sollte nicht eher richten, ehe er nicht geschaffen hat und weiß,
was schaffen heißt. Der Kopf nimmt diese Wendung sich zum Nachteil von
allen Seiten, auch von der gesellschaftlichen, wo er zum Referenten der Fehler
oder Vorzüge andrer wird, ohne etwas aus eigner Macht hinzuzufügen; die
Unterhaltung wird reizlos, ohne Folge, und man verzeiht dem mit vollem Rechte
seine Mängel nicht, der sich superieur stellt, man ist immer geneigt, zu fragen:
Mein Freund, öffne deine Schätze, laß sehen, wie du uns bezaubern und belehren
kannst. Nur ein sehr hoher Grad von Verdienst oder sehr liebenswürdige
Talente machen den wegwerfenden Eigendünkel vergessen."*)

Am 15. Juni 1784, noch nicht 21 Jahre alt, verheiratete sich Karoline
mit dem Kreisphysikus Dr. Böhmer in Klausthal, dem Sohne des Professors
Böhmer in Göttingen. Es war ihr Landsmann und Jugendfreund, mit dem sie
die Reise durchs Leben antrat, und sie war ihm herzlich gut. Mit dem reinsten
Entzücken schwebte sie in die Ehe hinein; die überschwängliche Teilnahme der
Universitätsgenossen ihres Vaters und Schwiegervaters, der Schlözer, Feder,
Nieper, Meiners, Leß, trug nicht wenig dazu bei. In Klausthal empfing sie
die tiefste Einsamkeit. Ihr Mann war viel beschäftigt, die Gesellschaft ungenießbar,
unmittelbare geistige Anregung so gut wie nicht vorhanden. Ein liebliches Töch¬
terchen, Auguste, und dann noch eins, Therese, boten sich zum Ersatz an, und



*) G. Wciitz, Karoline. Briefe an ihre Geschwister :c. Erster Band, S- 83. Im Fol¬
genden ist diese vollständigste Sammlung der Briefe Karolinens und der ihr Nahestehenden
wiederholt benutzt worden.
Dichterfreundinnen.

derie, da sie wirklich wider ihr Temperament sanft und zurückhaltend ist." Man
kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Karoline ganz ähnlich über Therese
geurteilt haben wird. Die emanzipirten Geister in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts brüsteten sich außerordentlich mit der Wahrhaftigkeit und
Aufrichtigkeit gegen sich und andre, aber man kann ihnen oft mit ihren eignen
Worten nachweisen, daß auch sie nicht immer ohne Falsch waren. Dies gilt
von Männern und Frauen.

Wie weit sich aber auch Karoline in das leichtfertige Treiben ihrer Zeit
hineinziehen ließ, der Kare Blick ihres Geistes wurde dadurch nicht getrübt.
Man darf diesen Gegensatz nicht übersehen, denn er läßt sich verallgemeinert in
vielen Verhältnissen jener glänzenden Literaturepoche nachweisen. So schreibt
sie, freilich zehn Jahre später, nach mancherlei trüben Erfahrungen (1790) an
ihren jüngeren Bruder Philipp einen Brief voll ernster und gütiger Ermah¬
nungen, der ein Meisterstück pädagogischer Weisheit ist. Aus welcher geistigen
Tiefe ist z. B. folgende Stelle geschöpft: „Es giebt doch wahrlich nichts un¬
seligeres als das Abgerissene in der Gedankenreihe, im Wissen, im ganzen Sein,
und wer nur kritisirt, dünkt sich früh schon weit und kann es in dieser Kunst auch
sein, aber wozu hilft es ihm, was gewinnt er für sich damit? Es ist ein nega¬
tives Verdienst, wodurch er nur zu leicht über das positive wegschlüpft. Nein,
der Jüngling sollte nicht eher richten, ehe er nicht geschaffen hat und weiß,
was schaffen heißt. Der Kopf nimmt diese Wendung sich zum Nachteil von
allen Seiten, auch von der gesellschaftlichen, wo er zum Referenten der Fehler
oder Vorzüge andrer wird, ohne etwas aus eigner Macht hinzuzufügen; die
Unterhaltung wird reizlos, ohne Folge, und man verzeiht dem mit vollem Rechte
seine Mängel nicht, der sich superieur stellt, man ist immer geneigt, zu fragen:
Mein Freund, öffne deine Schätze, laß sehen, wie du uns bezaubern und belehren
kannst. Nur ein sehr hoher Grad von Verdienst oder sehr liebenswürdige
Talente machen den wegwerfenden Eigendünkel vergessen."*)

Am 15. Juni 1784, noch nicht 21 Jahre alt, verheiratete sich Karoline
mit dem Kreisphysikus Dr. Böhmer in Klausthal, dem Sohne des Professors
Böhmer in Göttingen. Es war ihr Landsmann und Jugendfreund, mit dem sie
die Reise durchs Leben antrat, und sie war ihm herzlich gut. Mit dem reinsten
Entzücken schwebte sie in die Ehe hinein; die überschwängliche Teilnahme der
Universitätsgenossen ihres Vaters und Schwiegervaters, der Schlözer, Feder,
Nieper, Meiners, Leß, trug nicht wenig dazu bei. In Klausthal empfing sie
die tiefste Einsamkeit. Ihr Mann war viel beschäftigt, die Gesellschaft ungenießbar,
unmittelbare geistige Anregung so gut wie nicht vorhanden. Ein liebliches Töch¬
terchen, Auguste, und dann noch eins, Therese, boten sich zum Ersatz an, und



*) G. Wciitz, Karoline. Briefe an ihre Geschwister :c. Erster Band, S- 83. Im Fol¬
genden ist diese vollständigste Sammlung der Briefe Karolinens und der ihr Nahestehenden
wiederholt benutzt worden.
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[0139] Dichterfreundinnen. derie, da sie wirklich wider ihr Temperament sanft und zurückhaltend ist." Man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Karoline ganz ähnlich über Therese geurteilt haben wird. Die emanzipirten Geister in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts brüsteten sich außerordentlich mit der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegen sich und andre, aber man kann ihnen oft mit ihren eignen Worten nachweisen, daß auch sie nicht immer ohne Falsch waren. Dies gilt von Männern und Frauen. Wie weit sich aber auch Karoline in das leichtfertige Treiben ihrer Zeit hineinziehen ließ, der Kare Blick ihres Geistes wurde dadurch nicht getrübt. Man darf diesen Gegensatz nicht übersehen, denn er läßt sich verallgemeinert in vielen Verhältnissen jener glänzenden Literaturepoche nachweisen. So schreibt sie, freilich zehn Jahre später, nach mancherlei trüben Erfahrungen (1790) an ihren jüngeren Bruder Philipp einen Brief voll ernster und gütiger Ermah¬ nungen, der ein Meisterstück pädagogischer Weisheit ist. Aus welcher geistigen Tiefe ist z. B. folgende Stelle geschöpft: „Es giebt doch wahrlich nichts un¬ seligeres als das Abgerissene in der Gedankenreihe, im Wissen, im ganzen Sein, und wer nur kritisirt, dünkt sich früh schon weit und kann es in dieser Kunst auch sein, aber wozu hilft es ihm, was gewinnt er für sich damit? Es ist ein nega¬ tives Verdienst, wodurch er nur zu leicht über das positive wegschlüpft. Nein, der Jüngling sollte nicht eher richten, ehe er nicht geschaffen hat und weiß, was schaffen heißt. Der Kopf nimmt diese Wendung sich zum Nachteil von allen Seiten, auch von der gesellschaftlichen, wo er zum Referenten der Fehler oder Vorzüge andrer wird, ohne etwas aus eigner Macht hinzuzufügen; die Unterhaltung wird reizlos, ohne Folge, und man verzeiht dem mit vollem Rechte seine Mängel nicht, der sich superieur stellt, man ist immer geneigt, zu fragen: Mein Freund, öffne deine Schätze, laß sehen, wie du uns bezaubern und belehren kannst. Nur ein sehr hoher Grad von Verdienst oder sehr liebenswürdige Talente machen den wegwerfenden Eigendünkel vergessen."*) Am 15. Juni 1784, noch nicht 21 Jahre alt, verheiratete sich Karoline mit dem Kreisphysikus Dr. Böhmer in Klausthal, dem Sohne des Professors Böhmer in Göttingen. Es war ihr Landsmann und Jugendfreund, mit dem sie die Reise durchs Leben antrat, und sie war ihm herzlich gut. Mit dem reinsten Entzücken schwebte sie in die Ehe hinein; die überschwängliche Teilnahme der Universitätsgenossen ihres Vaters und Schwiegervaters, der Schlözer, Feder, Nieper, Meiners, Leß, trug nicht wenig dazu bei. In Klausthal empfing sie die tiefste Einsamkeit. Ihr Mann war viel beschäftigt, die Gesellschaft ungenießbar, unmittelbare geistige Anregung so gut wie nicht vorhanden. Ein liebliches Töch¬ terchen, Auguste, und dann noch eins, Therese, boten sich zum Ersatz an, und *) G. Wciitz, Karoline. Briefe an ihre Geschwister :c. Erster Band, S- 83. Im Fol¬ genden ist diese vollständigste Sammlung der Briefe Karolinens und der ihr Nahestehenden wiederholt benutzt worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/139>, abgerufen am 22.07.2024.