Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

der Fremde umsehen, heißt noch lange nicht die Heimat vergessen, und wenn
man das klassische Altertum "mit seiner Sklaverei, seinem Aberglauben, seiner
unglücklichen Moral" als ein ungeeignetes Bildungsmittel für die heranwachsende
Jugend hinstellt, so hat der Vorwurf in dieser Einseitigkeit recht wenig zu be¬
deuten. Herr Preyer empfiehlt doch als einen vorzüglichen Unterrichtsgegen¬
stand die Geschichte des deutschen Mittelalters. Was würde er sagen, wenn
jemand mit der Behauptung käme, die Kenntnis des Mittelalters müsse vom
Lehrplan gestrichen werden, weil dieses mit seinem religiösen Fanatismus, seinen
Kreuzzügen, seinem Aberglauben, seiner Rohheit, seiner absurden Romantik den
Anschauungen der Gegenwart ins Gesicht schlage? Herr Preyer vergißt eben,
daß neben dem Schatten auch Lichter sind. Er zuckt verächtlich die Achseln
über die Erzählungen des Ovid und die Phrasen des Cicero. Für die Poesie
des Homer und des Sophokles, den Idealismus Platos, den sittlichen Adel
und die geläuterte Religiosität des Sokrates, für deu hohen Ernst und die
glühende Vaterlandsliebe des Demosthenes hat er, wenn wir den vorliegenden
Berichten trauen dürfen, ebenso wenig ein Wort der Anerkennung, als für die
bildende Kunst der Hellenen. Mau könnte sagen, daß man alle diese Schätze
auch ohne die Kenntnis der alten Sprachen haben könne. Für das Griechische
mag das bei einer sehr nüchternen Auffassung der Dinge allenfalls gelten, man
kann den Homer, den Sophokles in Übersetzungen lesen. Das Lateinische aber
wird man aus andern Gründen nicht entbehren können: es ist die Mutter der
romanischen Sprachen, es hat dem Englischen seinen Wortschatz zur Verfügung
gestellt, es ist die Sprache des Mittelalters, der Kirche, es ragt in alle Ver¬
hältnisse der lebendigen Gegenwart dergestalt hinein, daß wir es geradezu als
eine Realität betrachten müssen, ein "Rudiment" meinetwegen, das wir jedoch
nicht ohne empfindlichen Schaden abstreifen würden.

Herr Preyer scheint aber noch weiter zu gehen. Er verwirft die klassische
Bildung nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach. Er behauptet,
daß der Zusammenhang der Gegenwart mit dem Geiste der Griechen und Römer
längst unterbrochen sei. Er zeigt dabei -- ein charakteristisches Merkmal der
herrschenden Wissenschaft -- einen bedauerliche" Mangel an historischem Sinn.
Kopernikus, Galilei und Luther sollen die Trennung des modernen Geistes
von der Weltanschauung des Altertums vollzogen haben. Kann man die That¬
sachen der Geschichte gründlicher verkennen? Ist es doch klar wie der Tag.
daß jene drei Männer, der eine wie der andre, nicht gegen den Geist des
Altertums, sondern gegen die Weltanschauung des Mittelalters sich erhoben
haben! Wie kann man die lateinische Bildung des Mittelalters mit der des
Altertums verwechseln, die sich zu jener wie Renaissance zum Barock verhält?
Weiß Herr Preyer wirklich nicht, daß neben Luther Erasmus und Reuchlin
stehen, welche gleich jenem die Scholastik bekämpften, um die verlorene Ver¬
bindung mit dem klassischen Altertum, insbesondre dem Hellenentum, wieder-


der Fremde umsehen, heißt noch lange nicht die Heimat vergessen, und wenn
man das klassische Altertum „mit seiner Sklaverei, seinem Aberglauben, seiner
unglücklichen Moral" als ein ungeeignetes Bildungsmittel für die heranwachsende
Jugend hinstellt, so hat der Vorwurf in dieser Einseitigkeit recht wenig zu be¬
deuten. Herr Preyer empfiehlt doch als einen vorzüglichen Unterrichtsgegen¬
stand die Geschichte des deutschen Mittelalters. Was würde er sagen, wenn
jemand mit der Behauptung käme, die Kenntnis des Mittelalters müsse vom
Lehrplan gestrichen werden, weil dieses mit seinem religiösen Fanatismus, seinen
Kreuzzügen, seinem Aberglauben, seiner Rohheit, seiner absurden Romantik den
Anschauungen der Gegenwart ins Gesicht schlage? Herr Preyer vergißt eben,
daß neben dem Schatten auch Lichter sind. Er zuckt verächtlich die Achseln
über die Erzählungen des Ovid und die Phrasen des Cicero. Für die Poesie
des Homer und des Sophokles, den Idealismus Platos, den sittlichen Adel
und die geläuterte Religiosität des Sokrates, für deu hohen Ernst und die
glühende Vaterlandsliebe des Demosthenes hat er, wenn wir den vorliegenden
Berichten trauen dürfen, ebenso wenig ein Wort der Anerkennung, als für die
bildende Kunst der Hellenen. Mau könnte sagen, daß man alle diese Schätze
auch ohne die Kenntnis der alten Sprachen haben könne. Für das Griechische
mag das bei einer sehr nüchternen Auffassung der Dinge allenfalls gelten, man
kann den Homer, den Sophokles in Übersetzungen lesen. Das Lateinische aber
wird man aus andern Gründen nicht entbehren können: es ist die Mutter der
romanischen Sprachen, es hat dem Englischen seinen Wortschatz zur Verfügung
gestellt, es ist die Sprache des Mittelalters, der Kirche, es ragt in alle Ver¬
hältnisse der lebendigen Gegenwart dergestalt hinein, daß wir es geradezu als
eine Realität betrachten müssen, ein „Rudiment" meinetwegen, das wir jedoch
nicht ohne empfindlichen Schaden abstreifen würden.

Herr Preyer scheint aber noch weiter zu gehen. Er verwirft die klassische
Bildung nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach. Er behauptet,
daß der Zusammenhang der Gegenwart mit dem Geiste der Griechen und Römer
längst unterbrochen sei. Er zeigt dabei — ein charakteristisches Merkmal der
herrschenden Wissenschaft — einen bedauerliche» Mangel an historischem Sinn.
Kopernikus, Galilei und Luther sollen die Trennung des modernen Geistes
von der Weltanschauung des Altertums vollzogen haben. Kann man die That¬
sachen der Geschichte gründlicher verkennen? Ist es doch klar wie der Tag.
daß jene drei Männer, der eine wie der andre, nicht gegen den Geist des
Altertums, sondern gegen die Weltanschauung des Mittelalters sich erhoben
haben! Wie kann man die lateinische Bildung des Mittelalters mit der des
Altertums verwechseln, die sich zu jener wie Renaissance zum Barock verhält?
Weiß Herr Preyer wirklich nicht, daß neben Luther Erasmus und Reuchlin
stehen, welche gleich jenem die Scholastik bekämpften, um die verlorene Ver¬
bindung mit dem klassischen Altertum, insbesondre dem Hellenentum, wieder-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201563"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_304" prev="#ID_303"> der Fremde umsehen, heißt noch lange nicht die Heimat vergessen, und wenn<lb/>
man das klassische Altertum &#x201E;mit seiner Sklaverei, seinem Aberglauben, seiner<lb/>
unglücklichen Moral" als ein ungeeignetes Bildungsmittel für die heranwachsende<lb/>
Jugend hinstellt, so hat der Vorwurf in dieser Einseitigkeit recht wenig zu be¬<lb/>
deuten. Herr Preyer empfiehlt doch als einen vorzüglichen Unterrichtsgegen¬<lb/>
stand die Geschichte des deutschen Mittelalters. Was würde er sagen, wenn<lb/>
jemand mit der Behauptung käme, die Kenntnis des Mittelalters müsse vom<lb/>
Lehrplan gestrichen werden, weil dieses mit seinem religiösen Fanatismus, seinen<lb/>
Kreuzzügen, seinem Aberglauben, seiner Rohheit, seiner absurden Romantik den<lb/>
Anschauungen der Gegenwart ins Gesicht schlage? Herr Preyer vergißt eben,<lb/>
daß neben dem Schatten auch Lichter sind. Er zuckt verächtlich die Achseln<lb/>
über die Erzählungen des Ovid und die Phrasen des Cicero. Für die Poesie<lb/>
des Homer und des Sophokles, den Idealismus Platos, den sittlichen Adel<lb/>
und die geläuterte Religiosität des Sokrates, für deu hohen Ernst und die<lb/>
glühende Vaterlandsliebe des Demosthenes hat er, wenn wir den vorliegenden<lb/>
Berichten trauen dürfen, ebenso wenig ein Wort der Anerkennung, als für die<lb/>
bildende Kunst der Hellenen. Mau könnte sagen, daß man alle diese Schätze<lb/>
auch ohne die Kenntnis der alten Sprachen haben könne. Für das Griechische<lb/>
mag das bei einer sehr nüchternen Auffassung der Dinge allenfalls gelten, man<lb/>
kann den Homer, den Sophokles in Übersetzungen lesen. Das Lateinische aber<lb/>
wird man aus andern Gründen nicht entbehren können: es ist die Mutter der<lb/>
romanischen Sprachen, es hat dem Englischen seinen Wortschatz zur Verfügung<lb/>
gestellt, es ist die Sprache des Mittelalters, der Kirche, es ragt in alle Ver¬<lb/>
hältnisse der lebendigen Gegenwart dergestalt hinein, daß wir es geradezu als<lb/>
eine Realität betrachten müssen, ein &#x201E;Rudiment" meinetwegen, das wir jedoch<lb/>
nicht ohne empfindlichen Schaden abstreifen würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Herr Preyer scheint aber noch weiter zu gehen. Er verwirft die klassische<lb/>
Bildung nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach. Er behauptet,<lb/>
daß der Zusammenhang der Gegenwart mit dem Geiste der Griechen und Römer<lb/>
längst unterbrochen sei. Er zeigt dabei &#x2014; ein charakteristisches Merkmal der<lb/>
herrschenden Wissenschaft &#x2014; einen bedauerliche» Mangel an historischem Sinn.<lb/>
Kopernikus, Galilei und Luther sollen die Trennung des modernen Geistes<lb/>
von der Weltanschauung des Altertums vollzogen haben. Kann man die That¬<lb/>
sachen der Geschichte gründlicher verkennen? Ist es doch klar wie der Tag.<lb/>
daß jene drei Männer, der eine wie der andre, nicht gegen den Geist des<lb/>
Altertums, sondern gegen die Weltanschauung des Mittelalters sich erhoben<lb/>
haben! Wie kann man die lateinische Bildung des Mittelalters mit der des<lb/>
Altertums verwechseln, die sich zu jener wie Renaissance zum Barock verhält?<lb/>
Weiß Herr Preyer wirklich nicht, daß neben Luther Erasmus und Reuchlin<lb/>
stehen, welche gleich jenem die Scholastik bekämpften, um die verlorene Ver¬<lb/>
bindung mit dem klassischen Altertum, insbesondre dem Hellenentum, wieder-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] der Fremde umsehen, heißt noch lange nicht die Heimat vergessen, und wenn man das klassische Altertum „mit seiner Sklaverei, seinem Aberglauben, seiner unglücklichen Moral" als ein ungeeignetes Bildungsmittel für die heranwachsende Jugend hinstellt, so hat der Vorwurf in dieser Einseitigkeit recht wenig zu be¬ deuten. Herr Preyer empfiehlt doch als einen vorzüglichen Unterrichtsgegen¬ stand die Geschichte des deutschen Mittelalters. Was würde er sagen, wenn jemand mit der Behauptung käme, die Kenntnis des Mittelalters müsse vom Lehrplan gestrichen werden, weil dieses mit seinem religiösen Fanatismus, seinen Kreuzzügen, seinem Aberglauben, seiner Rohheit, seiner absurden Romantik den Anschauungen der Gegenwart ins Gesicht schlage? Herr Preyer vergißt eben, daß neben dem Schatten auch Lichter sind. Er zuckt verächtlich die Achseln über die Erzählungen des Ovid und die Phrasen des Cicero. Für die Poesie des Homer und des Sophokles, den Idealismus Platos, den sittlichen Adel und die geläuterte Religiosität des Sokrates, für deu hohen Ernst und die glühende Vaterlandsliebe des Demosthenes hat er, wenn wir den vorliegenden Berichten trauen dürfen, ebenso wenig ein Wort der Anerkennung, als für die bildende Kunst der Hellenen. Mau könnte sagen, daß man alle diese Schätze auch ohne die Kenntnis der alten Sprachen haben könne. Für das Griechische mag das bei einer sehr nüchternen Auffassung der Dinge allenfalls gelten, man kann den Homer, den Sophokles in Übersetzungen lesen. Das Lateinische aber wird man aus andern Gründen nicht entbehren können: es ist die Mutter der romanischen Sprachen, es hat dem Englischen seinen Wortschatz zur Verfügung gestellt, es ist die Sprache des Mittelalters, der Kirche, es ragt in alle Ver¬ hältnisse der lebendigen Gegenwart dergestalt hinein, daß wir es geradezu als eine Realität betrachten müssen, ein „Rudiment" meinetwegen, das wir jedoch nicht ohne empfindlichen Schaden abstreifen würden. Herr Preyer scheint aber noch weiter zu gehen. Er verwirft die klassische Bildung nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach. Er behauptet, daß der Zusammenhang der Gegenwart mit dem Geiste der Griechen und Römer längst unterbrochen sei. Er zeigt dabei — ein charakteristisches Merkmal der herrschenden Wissenschaft — einen bedauerliche» Mangel an historischem Sinn. Kopernikus, Galilei und Luther sollen die Trennung des modernen Geistes von der Weltanschauung des Altertums vollzogen haben. Kann man die That¬ sachen der Geschichte gründlicher verkennen? Ist es doch klar wie der Tag. daß jene drei Männer, der eine wie der andre, nicht gegen den Geist des Altertums, sondern gegen die Weltanschauung des Mittelalters sich erhoben haben! Wie kann man die lateinische Bildung des Mittelalters mit der des Altertums verwechseln, die sich zu jener wie Renaissance zum Barock verhält? Weiß Herr Preyer wirklich nicht, daß neben Luther Erasmus und Reuchlin stehen, welche gleich jenem die Scholastik bekämpften, um die verlorene Ver¬ bindung mit dem klassischen Altertum, insbesondre dem Hellenentum, wieder-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/134
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/134>, abgerufen am 22.07.2024.