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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Naturforscherveisammlung und das Gymnasium.

124

Plato: a^ceo^^^rox co/rc,, in Ehren halten; aber Thatsache ist es,
daß die Pforten der Mathematik wohl verschlossen sind, und daß nicht jedem
der Sterblichen das "Scham, öffne dich" gegeben ist. An der vorgeblichen
Überbürdung würde aber auch der Religionsunterricht einen nicht unerheblichen
Anteil haben. Wenigstens sind die Ansprüche, die hier an das Gedächtnis
gestellt werden, groß genug; in den Unterklassen wird es von Katechismus, Bibel¬
sprüchen und .Kirchenliedern, in den obern von tausend unnützen Einzelheiten der
Kirchengeschichte unausgesetzt bestürmt. Die Forderung billig denkender Schul¬
männer, daß die Konfirmanden von dem Religionsunterrichte befreit und die
Konfirmandenstunden womöglich mit dem Religionsunterrichte in der Schule
zusammenfallen sollen, ist bis jetzt noch immer ans Widerstand gestoßen und
hat vor der Hand noch keine Aussicht, erfüllt zu werden.

"Die Abiturienten der Gymnasien -- sagt Preyer -- können ihre Sinne
nicht gebrauchen, trauen ihrem eignen Urteile nicht, haben manuelle Geschicklich-
keit nicht erworben." Dem ist schwer zu widersprechen, nicht allein weil der
etwaigen Oppvsitionslust die Erfahrung fehlt, sondern auch weil sich bei der
Dehnbarkeit der Begriffe die Grenzen des notwendigen schwer ziehen lassen.
Aber Unterschiede giebt es doch auch hier. Von den zahlreichen Bücherwürmern,
den Schlachtopfern des Fleißes, wie Schiller sie nennt, und den Stubenhockern
wird Preyers Urteil ohne weiteres gelten müssen. Aber es wandert doch auch
manches gesunde Naturkind vom Lande durch die Dcnterzellc" des Gymnasiums,
und unter dem Nachwuchs unsrer Großstädte giebt es aufgeweckte, praktische
Jungen, die Auge und Ohr zu gebrnnchen wissen und oft mehr, als gut ist,
dem eignen Urteil trauen. Thatsache ist es, daß ein ansehnlicher Bruchteil der
Reserveoffiziere aus den Zöglingen der Gymnasien hervorgeht. Thatsache ist
es, daß die letzteren alljährlich eine Anzahl ihrer Abiturienten dem aktiven
Offizicrsstande zuführen. Daß diese in einem Berufe, der doch in hervor¬
ragendem Maße alle jene von Preyer vermißten Eigenschaften verlangt und
voraussetzt, den Zöglingen der Kadettenhäuser oder andrer Anstalten gegenüber
im Nachteil wären, ist bis jetzt, so viel wir wissen, noch nie behauptet worden.
Im Gegenteil ist es eine weitverbreitete und nicht ganz unbegründete Meinung,
daß die Heeresverwaltung gerade für Gymnasialabiturienten eine gewisse Vor¬
liebe habe. Und verdankt nicht schließlich die Naturwissenschaft, die jetzt liberal!
zu dem Kreuzzuge wider das Gymnasium rüstet, diesem ihre gefeiertsten Namen?
Männer wie Virchow, Dubois, Billroth, Häckel sind doch auf deutschen Gym¬
nasien gebildet worden, und wenn wir uns auch vor dem Trugschluß des xost
lloo, ergo M'oxtvr lioo in Acht nehmen wollen, so steht doch soviel fest, daß
die humanistische Schulung ihre Entwicklung nicht geschädigt hat. Was freilich
aus ihnen und andern geworden wäre, wenn sie ein Realgymnasium oder die
Znknnftsschulc ohne Latein und Griechisch besucht hätten, wird sich nachträglich
nicht ausmachen lassen.


Die Naturforscherveisammlung und das Gymnasium.

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Plato: a^ceo^^^rox co/rc,, in Ehren halten; aber Thatsache ist es,
daß die Pforten der Mathematik wohl verschlossen sind, und daß nicht jedem
der Sterblichen das „Scham, öffne dich" gegeben ist. An der vorgeblichen
Überbürdung würde aber auch der Religionsunterricht einen nicht unerheblichen
Anteil haben. Wenigstens sind die Ansprüche, die hier an das Gedächtnis
gestellt werden, groß genug; in den Unterklassen wird es von Katechismus, Bibel¬
sprüchen und .Kirchenliedern, in den obern von tausend unnützen Einzelheiten der
Kirchengeschichte unausgesetzt bestürmt. Die Forderung billig denkender Schul¬
männer, daß die Konfirmanden von dem Religionsunterrichte befreit und die
Konfirmandenstunden womöglich mit dem Religionsunterrichte in der Schule
zusammenfallen sollen, ist bis jetzt noch immer ans Widerstand gestoßen und
hat vor der Hand noch keine Aussicht, erfüllt zu werden.

„Die Abiturienten der Gymnasien — sagt Preyer — können ihre Sinne
nicht gebrauchen, trauen ihrem eignen Urteile nicht, haben manuelle Geschicklich-
keit nicht erworben." Dem ist schwer zu widersprechen, nicht allein weil der
etwaigen Oppvsitionslust die Erfahrung fehlt, sondern auch weil sich bei der
Dehnbarkeit der Begriffe die Grenzen des notwendigen schwer ziehen lassen.
Aber Unterschiede giebt es doch auch hier. Von den zahlreichen Bücherwürmern,
den Schlachtopfern des Fleißes, wie Schiller sie nennt, und den Stubenhockern
wird Preyers Urteil ohne weiteres gelten müssen. Aber es wandert doch auch
manches gesunde Naturkind vom Lande durch die Dcnterzellc» des Gymnasiums,
und unter dem Nachwuchs unsrer Großstädte giebt es aufgeweckte, praktische
Jungen, die Auge und Ohr zu gebrnnchen wissen und oft mehr, als gut ist,
dem eignen Urteil trauen. Thatsache ist es, daß ein ansehnlicher Bruchteil der
Reserveoffiziere aus den Zöglingen der Gymnasien hervorgeht. Thatsache ist
es, daß die letzteren alljährlich eine Anzahl ihrer Abiturienten dem aktiven
Offizicrsstande zuführen. Daß diese in einem Berufe, der doch in hervor¬
ragendem Maße alle jene von Preyer vermißten Eigenschaften verlangt und
voraussetzt, den Zöglingen der Kadettenhäuser oder andrer Anstalten gegenüber
im Nachteil wären, ist bis jetzt, so viel wir wissen, noch nie behauptet worden.
Im Gegenteil ist es eine weitverbreitete und nicht ganz unbegründete Meinung,
daß die Heeresverwaltung gerade für Gymnasialabiturienten eine gewisse Vor¬
liebe habe. Und verdankt nicht schließlich die Naturwissenschaft, die jetzt liberal!
zu dem Kreuzzuge wider das Gymnasium rüstet, diesem ihre gefeiertsten Namen?
Männer wie Virchow, Dubois, Billroth, Häckel sind doch auf deutschen Gym¬
nasien gebildet worden, und wenn wir uns auch vor dem Trugschluß des xost
lloo, ergo M'oxtvr lioo in Acht nehmen wollen, so steht doch soviel fest, daß
die humanistische Schulung ihre Entwicklung nicht geschädigt hat. Was freilich
aus ihnen und andern geworden wäre, wenn sie ein Realgymnasium oder die
Znknnftsschulc ohne Latein und Griechisch besucht hätten, wird sich nachträglich
nicht ausmachen lassen.


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[0132] Die Naturforscherveisammlung und das Gymnasium. 124 Plato: a^ceo^^^rox co/rc,, in Ehren halten; aber Thatsache ist es, daß die Pforten der Mathematik wohl verschlossen sind, und daß nicht jedem der Sterblichen das „Scham, öffne dich" gegeben ist. An der vorgeblichen Überbürdung würde aber auch der Religionsunterricht einen nicht unerheblichen Anteil haben. Wenigstens sind die Ansprüche, die hier an das Gedächtnis gestellt werden, groß genug; in den Unterklassen wird es von Katechismus, Bibel¬ sprüchen und .Kirchenliedern, in den obern von tausend unnützen Einzelheiten der Kirchengeschichte unausgesetzt bestürmt. Die Forderung billig denkender Schul¬ männer, daß die Konfirmanden von dem Religionsunterrichte befreit und die Konfirmandenstunden womöglich mit dem Religionsunterrichte in der Schule zusammenfallen sollen, ist bis jetzt noch immer ans Widerstand gestoßen und hat vor der Hand noch keine Aussicht, erfüllt zu werden. „Die Abiturienten der Gymnasien — sagt Preyer — können ihre Sinne nicht gebrauchen, trauen ihrem eignen Urteile nicht, haben manuelle Geschicklich- keit nicht erworben." Dem ist schwer zu widersprechen, nicht allein weil der etwaigen Oppvsitionslust die Erfahrung fehlt, sondern auch weil sich bei der Dehnbarkeit der Begriffe die Grenzen des notwendigen schwer ziehen lassen. Aber Unterschiede giebt es doch auch hier. Von den zahlreichen Bücherwürmern, den Schlachtopfern des Fleißes, wie Schiller sie nennt, und den Stubenhockern wird Preyers Urteil ohne weiteres gelten müssen. Aber es wandert doch auch manches gesunde Naturkind vom Lande durch die Dcnterzellc» des Gymnasiums, und unter dem Nachwuchs unsrer Großstädte giebt es aufgeweckte, praktische Jungen, die Auge und Ohr zu gebrnnchen wissen und oft mehr, als gut ist, dem eignen Urteil trauen. Thatsache ist es, daß ein ansehnlicher Bruchteil der Reserveoffiziere aus den Zöglingen der Gymnasien hervorgeht. Thatsache ist es, daß die letzteren alljährlich eine Anzahl ihrer Abiturienten dem aktiven Offizicrsstande zuführen. Daß diese in einem Berufe, der doch in hervor¬ ragendem Maße alle jene von Preyer vermißten Eigenschaften verlangt und voraussetzt, den Zöglingen der Kadettenhäuser oder andrer Anstalten gegenüber im Nachteil wären, ist bis jetzt, so viel wir wissen, noch nie behauptet worden. Im Gegenteil ist es eine weitverbreitete und nicht ganz unbegründete Meinung, daß die Heeresverwaltung gerade für Gymnasialabiturienten eine gewisse Vor¬ liebe habe. Und verdankt nicht schließlich die Naturwissenschaft, die jetzt liberal! zu dem Kreuzzuge wider das Gymnasium rüstet, diesem ihre gefeiertsten Namen? Männer wie Virchow, Dubois, Billroth, Häckel sind doch auf deutschen Gym¬ nasien gebildet worden, und wenn wir uns auch vor dem Trugschluß des xost lloo, ergo M'oxtvr lioo in Acht nehmen wollen, so steht doch soviel fest, daß die humanistische Schulung ihre Entwicklung nicht geschädigt hat. Was freilich aus ihnen und andern geworden wäre, wenn sie ein Realgymnasium oder die Znknnftsschulc ohne Latein und Griechisch besucht hätten, wird sich nachträglich nicht ausmachen lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/132>, abgerufen am 22.07.2024.