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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die katholische Kirche und die soziale Frage.

vernichten, der schon einen so ehrenvollen und so allgemein geachteten Platz im
politischen Leben einnimmt, so würde dies, offen gesagt, in den Angen des
amerikanischen Volkes ebenso lächerlich als unklug sein. Man muß es aner¬
kennen: in unserm Jahrhundert und in unserm Lande kann der Gehorsam nicht
blind sein. Einen solchen zu erwarten, wäre eine arge Täuschung. Unsre katho¬
lischen Arbeiter glauben aufrichtig, daß sie nur Gerechtigkeit verlangen, und
zwar auf gesetzlichem Wege. Eine Verdammung gälte als falsch und ungerecht
und würde nicht ruhig hingenommen werden. Wir könnten ihnen wohl Gehorsam
und Vertrauen zur Kirche vorpredigen; aber dies wäre vergeblich. Sie lieben
die Kirche und wollen ihre Seelen bewahren; aber sie müssen auch ihr tägliches
Brot verdienen; und die Arbeit ist jetzt so organisirt, daß man, wenn man
nicht zur Organisation gehört, sehr geringe Aussichten hat, sein tägliches Brot
zu verdienen."

Dies sind die Hauptgedanken der Denkschrift des Kardinals Gibbons, wie
sie Eugen Melchior de Vogue in einem Artikel der Revue- clW cieux rncmckkL
vom 15. Juni 1887: ^Mirss as RorQö wiedergiebt.

Diese Denkschrift hat den Ausschlag gegeben. Der Ausschuß des Kardinal-
kollegiums, die "Propaganda," hat nicht nur die Verdammung der "Ritter der
Arbeit" abgelehnt, sondern sie hat auch den Erzbischof von Quebec aufgefordert,
die Kirchenstrafen, welche den Orden in Kanada bereits getroffen hatten, wieder
aufzuheben.

Diese Entscheidung ist von großer Wichtigkeit: die soziale Frage hat damit
in allen katholischen Ländern einen bedeutenden Fortschritt gemacht. Die katho¬
lischen Bischöfe Englands haben hinter ihren amerikanischen Brüdern nicht
zurückbleiben wollen. Der Erzbischof von Westminster, Kardinal Manning, hat
offen seine Zustimmung zu der Denkschrift in einem Briefe ausgesprochen, der
dann veröffentlicht worden ist: "Ich habe mit vollem Beifall die Denkschrift
des Kardinal Gibbons über die "Ritter der Arbeit" gelesen. Der heilige Stuhl
wird gewiß von der Richtigkeit der vorgetragenen Ansichten überzeugt sein, und
dieser Bericht über die Verhältnisse der neuen Welt wird hoffentlich dem Ge¬
danken und der Thätigkeit ein neues Feld eröffnen. Wie unser Herr und
Heiland unter den Leuten des niederen Volkes lebte, gerade so lebt seine Kirche.
Bis jetzt ist die Welt durch Herrschergeschlechter geleitet worden; in Zukunft
hat der heilige Stuhl mit dem Volke zu verhandeln, und er hat zu diesem
Zwecke seine Bischöfe, die in engen, täglichen und persönlichen Beziehungen zum
Volke stehen. Je klarer und vollständiger man dies erkennen wird, desto stärker
wird der Einfluß der geistlichen Autorität werden." In einem spätern Zeitungs¬
artikel spricht sich Kardinal Manning folgendermaßen aus: "Die Macht des
Kapitals kann man an der Thatsache abmessen, daß es auf hundert Arbeits¬
einstellungen höchstens fünf bis sechs giebt, die zu Gunsten der Arbeiter aus¬
schlagen. Ihre Abhängigkeit ist so vollständig, der Hunger und die Entbehrungen


Die katholische Kirche und die soziale Frage.

vernichten, der schon einen so ehrenvollen und so allgemein geachteten Platz im
politischen Leben einnimmt, so würde dies, offen gesagt, in den Angen des
amerikanischen Volkes ebenso lächerlich als unklug sein. Man muß es aner¬
kennen: in unserm Jahrhundert und in unserm Lande kann der Gehorsam nicht
blind sein. Einen solchen zu erwarten, wäre eine arge Täuschung. Unsre katho¬
lischen Arbeiter glauben aufrichtig, daß sie nur Gerechtigkeit verlangen, und
zwar auf gesetzlichem Wege. Eine Verdammung gälte als falsch und ungerecht
und würde nicht ruhig hingenommen werden. Wir könnten ihnen wohl Gehorsam
und Vertrauen zur Kirche vorpredigen; aber dies wäre vergeblich. Sie lieben
die Kirche und wollen ihre Seelen bewahren; aber sie müssen auch ihr tägliches
Brot verdienen; und die Arbeit ist jetzt so organisirt, daß man, wenn man
nicht zur Organisation gehört, sehr geringe Aussichten hat, sein tägliches Brot
zu verdienen."

Dies sind die Hauptgedanken der Denkschrift des Kardinals Gibbons, wie
sie Eugen Melchior de Vogue in einem Artikel der Revue- clW cieux rncmckkL
vom 15. Juni 1887: ^Mirss as RorQö wiedergiebt.

Diese Denkschrift hat den Ausschlag gegeben. Der Ausschuß des Kardinal-
kollegiums, die „Propaganda," hat nicht nur die Verdammung der „Ritter der
Arbeit" abgelehnt, sondern sie hat auch den Erzbischof von Quebec aufgefordert,
die Kirchenstrafen, welche den Orden in Kanada bereits getroffen hatten, wieder
aufzuheben.

Diese Entscheidung ist von großer Wichtigkeit: die soziale Frage hat damit
in allen katholischen Ländern einen bedeutenden Fortschritt gemacht. Die katho¬
lischen Bischöfe Englands haben hinter ihren amerikanischen Brüdern nicht
zurückbleiben wollen. Der Erzbischof von Westminster, Kardinal Manning, hat
offen seine Zustimmung zu der Denkschrift in einem Briefe ausgesprochen, der
dann veröffentlicht worden ist: „Ich habe mit vollem Beifall die Denkschrift
des Kardinal Gibbons über die »Ritter der Arbeit« gelesen. Der heilige Stuhl
wird gewiß von der Richtigkeit der vorgetragenen Ansichten überzeugt sein, und
dieser Bericht über die Verhältnisse der neuen Welt wird hoffentlich dem Ge¬
danken und der Thätigkeit ein neues Feld eröffnen. Wie unser Herr und
Heiland unter den Leuten des niederen Volkes lebte, gerade so lebt seine Kirche.
Bis jetzt ist die Welt durch Herrschergeschlechter geleitet worden; in Zukunft
hat der heilige Stuhl mit dem Volke zu verhandeln, und er hat zu diesem
Zwecke seine Bischöfe, die in engen, täglichen und persönlichen Beziehungen zum
Volke stehen. Je klarer und vollständiger man dies erkennen wird, desto stärker
wird der Einfluß der geistlichen Autorität werden." In einem spätern Zeitungs¬
artikel spricht sich Kardinal Manning folgendermaßen aus: „Die Macht des
Kapitals kann man an der Thatsache abmessen, daß es auf hundert Arbeits¬
einstellungen höchstens fünf bis sechs giebt, die zu Gunsten der Arbeiter aus¬
schlagen. Ihre Abhängigkeit ist so vollständig, der Hunger und die Entbehrungen


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[0128] Die katholische Kirche und die soziale Frage. vernichten, der schon einen so ehrenvollen und so allgemein geachteten Platz im politischen Leben einnimmt, so würde dies, offen gesagt, in den Angen des amerikanischen Volkes ebenso lächerlich als unklug sein. Man muß es aner¬ kennen: in unserm Jahrhundert und in unserm Lande kann der Gehorsam nicht blind sein. Einen solchen zu erwarten, wäre eine arge Täuschung. Unsre katho¬ lischen Arbeiter glauben aufrichtig, daß sie nur Gerechtigkeit verlangen, und zwar auf gesetzlichem Wege. Eine Verdammung gälte als falsch und ungerecht und würde nicht ruhig hingenommen werden. Wir könnten ihnen wohl Gehorsam und Vertrauen zur Kirche vorpredigen; aber dies wäre vergeblich. Sie lieben die Kirche und wollen ihre Seelen bewahren; aber sie müssen auch ihr tägliches Brot verdienen; und die Arbeit ist jetzt so organisirt, daß man, wenn man nicht zur Organisation gehört, sehr geringe Aussichten hat, sein tägliches Brot zu verdienen." Dies sind die Hauptgedanken der Denkschrift des Kardinals Gibbons, wie sie Eugen Melchior de Vogue in einem Artikel der Revue- clW cieux rncmckkL vom 15. Juni 1887: ^Mirss as RorQö wiedergiebt. Diese Denkschrift hat den Ausschlag gegeben. Der Ausschuß des Kardinal- kollegiums, die „Propaganda," hat nicht nur die Verdammung der „Ritter der Arbeit" abgelehnt, sondern sie hat auch den Erzbischof von Quebec aufgefordert, die Kirchenstrafen, welche den Orden in Kanada bereits getroffen hatten, wieder aufzuheben. Diese Entscheidung ist von großer Wichtigkeit: die soziale Frage hat damit in allen katholischen Ländern einen bedeutenden Fortschritt gemacht. Die katho¬ lischen Bischöfe Englands haben hinter ihren amerikanischen Brüdern nicht zurückbleiben wollen. Der Erzbischof von Westminster, Kardinal Manning, hat offen seine Zustimmung zu der Denkschrift in einem Briefe ausgesprochen, der dann veröffentlicht worden ist: „Ich habe mit vollem Beifall die Denkschrift des Kardinal Gibbons über die »Ritter der Arbeit« gelesen. Der heilige Stuhl wird gewiß von der Richtigkeit der vorgetragenen Ansichten überzeugt sein, und dieser Bericht über die Verhältnisse der neuen Welt wird hoffentlich dem Ge¬ danken und der Thätigkeit ein neues Feld eröffnen. Wie unser Herr und Heiland unter den Leuten des niederen Volkes lebte, gerade so lebt seine Kirche. Bis jetzt ist die Welt durch Herrschergeschlechter geleitet worden; in Zukunft hat der heilige Stuhl mit dem Volke zu verhandeln, und er hat zu diesem Zwecke seine Bischöfe, die in engen, täglichen und persönlichen Beziehungen zum Volke stehen. Je klarer und vollständiger man dies erkennen wird, desto stärker wird der Einfluß der geistlichen Autorität werden." In einem spätern Zeitungs¬ artikel spricht sich Kardinal Manning folgendermaßen aus: „Die Macht des Kapitals kann man an der Thatsache abmessen, daß es auf hundert Arbeits¬ einstellungen höchstens fünf bis sechs giebt, die zu Gunsten der Arbeiter aus¬ schlagen. Ihre Abhängigkeit ist so vollständig, der Hunger und die Entbehrungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/128>, abgerufen am 22.07.2024.