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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Line Berliner Faustanffiihrung.

Wegs schmachtende Verhandlung über "Beschaffung der Dirne" beginnt. Im
Deutschen Theater rauscht der Vorhang über dem bekannten Kircheuportale auf,
welches die ganze Breite des Raumes einnimmt. Der Gottesdienst scheint aus
zu sein, die Kirchgänger strömen heraus wie vom Hochamt. Soll das etwa
das "von der Beichte Kommen" Gretchens andeuten, dann zeigt sich das Deutsche
Theater über katholisches Ritual schlecht unterrichtete Aber nichts davon. Es
ist überhaupt nur Staffage für Rai-AULriw, die schon weit im Hintergrunde
sichtbar wird und dann noch im Vordergrunde durch ein Gespräch mit einem
alten Weibe den Operngläsern Gelegenheit geben muß, sich über sie zu "orien-
tiren." Während dieser ganzen stummen Szene sitzt "wie ein Bild aus Erz
gegossen" -- der arme Mephistopheles im Vordergrunde und scheint "seines
Opfers zu harren." Da mit einem male -- die Bühne hat sich geleert --
stürzt, wie aus der Pistole geschossen, Faust aus der entferntesten Kulisse über
die ganze Bühne weg auf Gretchen zu: "Mein schönes Fräulein" u. s. w. Also
so ein Kerl ist dieser Faust! Nicht etwa im Vorübergehen handelt er mit dem
schönen Mädchen an, was man ihm "mit dein Trank im Leibe" wohl zu Gute
halten könnte, nein, wie einer jener Herrchen, die man im Französischen mit
dem technischen Ausdruck suiveurs bezeichnet, stürzt er, wie von der Tarantel
gestochen, jeder schönen Figur einfach nach, die ihn von ferne reizt. Pfui!
Allein wenn wir auch gern annehmen wollen, daß das Deutsche Theater diese
häßliche Situation nicht gefühlt habe, der Gedanke, der ihr zu Grunde liegt,
ist jedenfalls unrichtig. Faust geht nicht an Gretchen vorüber und wird wie
Romeo von ihr festgehalten; das ist eben der Widerspruch. Der ganze Handel
ist ihm im Anfange sehr wenig bedeutend. "Was kannst du armer Teufel
geben?" Das ist ja der ganze Gegensatz zwischen der faustischen Liebe und der
des Petrarkaschülers Romeo, daß sie ansteigt, daß sie vom Äußerlichsten zum
Inneren fortschreitet, daß der weltunerfahrene Büchermensch mit all seinem
Wissen nun mit höchster Verwunderung diese ganze Seite des Menschlichen mit
ihrer Lust und ihrem Leide von Schritt zu Schritt erst entdeckt. Man beobachte
doch einmal daraufhin die drei auf einander folgenden Gespräche in Marthas
Garten mit dem gleichsam symphonischen Anschwellen ihrer seelischen Jnstrumen¬
tation. Und ferner, das ist gerade das Philosophische, das Notwendige in
Fausts sonst rein zufälliger Gretchenepisode, daß dieser erste Ansatz zum Teufels¬
leben ihm gleich so verteufelt schlecht ausschlägt, daß er in den leichten Genuß
gleich wieder die ganze Schwere seines Lebensernstes hineinlegt, daß er zu
Mephistos Ärger aus dem leichtfertigen Schwank alsbald eine Tragödie macht.
Aber keine Liebestragödie, keine neue Strophe zu dem alten Liede von den
beiden Königskindcrn, die nicht zusammen kommen konnten, "das Wasser war
^el zu tief." Gerade Gretchens Liebe, gerade ihre fromme, duldende, selbst¬
verständliche Hingabe machen ja Faust unglücklich, und er bereut, wie der tiefere
Mensch stets, lange vor und mitten in der That, deren Folgenschwere er, nicht


Grenzboten 111. 18L7. 79
Line Berliner Faustanffiihrung.

Wegs schmachtende Verhandlung über „Beschaffung der Dirne" beginnt. Im
Deutschen Theater rauscht der Vorhang über dem bekannten Kircheuportale auf,
welches die ganze Breite des Raumes einnimmt. Der Gottesdienst scheint aus
zu sein, die Kirchgänger strömen heraus wie vom Hochamt. Soll das etwa
das „von der Beichte Kommen" Gretchens andeuten, dann zeigt sich das Deutsche
Theater über katholisches Ritual schlecht unterrichtete Aber nichts davon. Es
ist überhaupt nur Staffage für Rai-AULriw, die schon weit im Hintergrunde
sichtbar wird und dann noch im Vordergrunde durch ein Gespräch mit einem
alten Weibe den Operngläsern Gelegenheit geben muß, sich über sie zu „orien-
tiren." Während dieser ganzen stummen Szene sitzt „wie ein Bild aus Erz
gegossen" — der arme Mephistopheles im Vordergrunde und scheint „seines
Opfers zu harren." Da mit einem male — die Bühne hat sich geleert —
stürzt, wie aus der Pistole geschossen, Faust aus der entferntesten Kulisse über
die ganze Bühne weg auf Gretchen zu: „Mein schönes Fräulein" u. s. w. Also
so ein Kerl ist dieser Faust! Nicht etwa im Vorübergehen handelt er mit dem
schönen Mädchen an, was man ihm „mit dein Trank im Leibe" wohl zu Gute
halten könnte, nein, wie einer jener Herrchen, die man im Französischen mit
dem technischen Ausdruck suiveurs bezeichnet, stürzt er, wie von der Tarantel
gestochen, jeder schönen Figur einfach nach, die ihn von ferne reizt. Pfui!
Allein wenn wir auch gern annehmen wollen, daß das Deutsche Theater diese
häßliche Situation nicht gefühlt habe, der Gedanke, der ihr zu Grunde liegt,
ist jedenfalls unrichtig. Faust geht nicht an Gretchen vorüber und wird wie
Romeo von ihr festgehalten; das ist eben der Widerspruch. Der ganze Handel
ist ihm im Anfange sehr wenig bedeutend. „Was kannst du armer Teufel
geben?" Das ist ja der ganze Gegensatz zwischen der faustischen Liebe und der
des Petrarkaschülers Romeo, daß sie ansteigt, daß sie vom Äußerlichsten zum
Inneren fortschreitet, daß der weltunerfahrene Büchermensch mit all seinem
Wissen nun mit höchster Verwunderung diese ganze Seite des Menschlichen mit
ihrer Lust und ihrem Leide von Schritt zu Schritt erst entdeckt. Man beobachte
doch einmal daraufhin die drei auf einander folgenden Gespräche in Marthas
Garten mit dem gleichsam symphonischen Anschwellen ihrer seelischen Jnstrumen¬
tation. Und ferner, das ist gerade das Philosophische, das Notwendige in
Fausts sonst rein zufälliger Gretchenepisode, daß dieser erste Ansatz zum Teufels¬
leben ihm gleich so verteufelt schlecht ausschlägt, daß er in den leichten Genuß
gleich wieder die ganze Schwere seines Lebensernstes hineinlegt, daß er zu
Mephistos Ärger aus dem leichtfertigen Schwank alsbald eine Tragödie macht.
Aber keine Liebestragödie, keine neue Strophe zu dem alten Liede von den
beiden Königskindcrn, die nicht zusammen kommen konnten, „das Wasser war
^el zu tief." Gerade Gretchens Liebe, gerade ihre fromme, duldende, selbst¬
verständliche Hingabe machen ja Faust unglücklich, und er bereut, wie der tiefere
Mensch stets, lange vor und mitten in der That, deren Folgenschwere er, nicht


Grenzboten 111. 18L7. 79
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/633>, abgerufen am 23.07.2024.