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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

Vollen Beschauer ein, und dieses Persönliche in der Darstellung giebt seinen
Erzählungen ihren eigentümlichen Charakter, den wir eben mit Stimmung be¬
zeichnen. Aus der nächsten Umgebung hat er dann nach und nach seine Kreise
bis in die Vergangenheit des siebzehnten Jahrhunderts gezogen und die wegen
ihres Kolorits vielbewunderten historischen Novellen (..Eekenhof," "Renate" :c.)
sind ihm organisch aus der Vertiefung ins Einzelne und Kleine erwachsen.
Auf die Darstellung des Zustündlichen, auf das Erschöpfen des Gefühles
vom einzelnen, woran ein Teil seiner Seele hängt, ist stets sein künstlerisches
Augenmerk gerichtet gewesen, und darum sind seine Novellen nur in vereinzelten
Fällen ("Schweigen") Problemstudien. Darum verfolgt er auch gern einen
Lebenslauf vom Anfang bis zum Ende, darum zieht er es vor, nicht stetig,
sondern stationsweise die Geschichte vorzutragen: eine Kunst des Helldunkels,
die so recht die Neigung, stimmungsvoll zu erzählen, ergänzt. Was Storm
durch diese Audacht für das Kleine erreicht hat, ist, daß man seine Geschichten
immer wieder von vorn lesen kann und in der emsigen Kleinmalerei stets neue
Striche entdeckt, und serner, weil die Stimmung immer frisch sich erzeugt, daß
das Interesse mit dem Ende der Geschichte nicht erschöpft wird. Wer, der die
Novelle "Waldwinkel" mit ihren wundersamen Waldbildern, ihrer Verherr¬
lichung des idyllischen Naturgenusses, gelesen hat, finge nicht immer wieder gern
an, sie von neuem zu lesen?

"Echte Storms" in dem Sinne wie die Kunstkenner von "echten Rem-
brandts" sprechen, sind auch seine neuesten, unter dem Titel "Bei kleinen Leuten,"
vereinigten Novellen*): geschrieben im neunundsechzigsten Lebensjahre, verraten
sie nicht die geringste Spur einer Abnahme der Kraft. "Bötjer Basch"
könnte man das schauspielmäßige Gegenstück zur Tragödie "Hans und Heinz
Kirch" (1883) nennen: hier und dort ein Sohn, der übers Meer geht, sein
Glück zu suchen; aber Vater Kirch erhält einen Brief vom fernen Sohne
und schickt ihn in seinem Geize uneröffnet zurück, weil er unfrankirt gekommen
ist; der Sohn geht zu Grunde. Der Fritz des Bötchers Basch ist unter
den liebe- und gemütvollen Augen seines frühverwitweteu Vaters besser ge¬
artet als Hinz Kirch; Fritz hat aus Kalifornien einen Brief an den Vater
geschrieben, der verloren gegangen ist; statt dessen kam die Nachricht, daß Fritz
von neidischen Goldgräbern erstochen worden sei. Dem vielgeprüften Vater
Basch wird schließlich noch sein einziges Gut aus der Zeit des Glücks, ein
Dompfaff, welcher die Melodie "Üb immer Treu und Redlichkeit" pfeifen kann,
geraubt, und damit jeder Zusammenhang mit der Welt. Er springt ins Meer,
wird gerettet, und Fritz kommt rechtzeitig zurück, um die Genesung des Alten
zu beschleunigen. So nackt erzählt, hat die Geschichte natürlich nicht die Hälfte
jenes Reizes, den ihr die poetische Ornamentik und der Vortrag des Dichters



*) Bei kleinen Leuten. Zwei Novellen vou Theodor Storm. Berlin, Paetel, 1837.
Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

Vollen Beschauer ein, und dieses Persönliche in der Darstellung giebt seinen
Erzählungen ihren eigentümlichen Charakter, den wir eben mit Stimmung be¬
zeichnen. Aus der nächsten Umgebung hat er dann nach und nach seine Kreise
bis in die Vergangenheit des siebzehnten Jahrhunderts gezogen und die wegen
ihres Kolorits vielbewunderten historischen Novellen (..Eekenhof," „Renate" :c.)
sind ihm organisch aus der Vertiefung ins Einzelne und Kleine erwachsen.
Auf die Darstellung des Zustündlichen, auf das Erschöpfen des Gefühles
vom einzelnen, woran ein Teil seiner Seele hängt, ist stets sein künstlerisches
Augenmerk gerichtet gewesen, und darum sind seine Novellen nur in vereinzelten
Fällen („Schweigen") Problemstudien. Darum verfolgt er auch gern einen
Lebenslauf vom Anfang bis zum Ende, darum zieht er es vor, nicht stetig,
sondern stationsweise die Geschichte vorzutragen: eine Kunst des Helldunkels,
die so recht die Neigung, stimmungsvoll zu erzählen, ergänzt. Was Storm
durch diese Audacht für das Kleine erreicht hat, ist, daß man seine Geschichten
immer wieder von vorn lesen kann und in der emsigen Kleinmalerei stets neue
Striche entdeckt, und serner, weil die Stimmung immer frisch sich erzeugt, daß
das Interesse mit dem Ende der Geschichte nicht erschöpft wird. Wer, der die
Novelle „Waldwinkel" mit ihren wundersamen Waldbildern, ihrer Verherr¬
lichung des idyllischen Naturgenusses, gelesen hat, finge nicht immer wieder gern
an, sie von neuem zu lesen?

„Echte Storms" in dem Sinne wie die Kunstkenner von „echten Rem-
brandts" sprechen, sind auch seine neuesten, unter dem Titel „Bei kleinen Leuten,"
vereinigten Novellen*): geschrieben im neunundsechzigsten Lebensjahre, verraten
sie nicht die geringste Spur einer Abnahme der Kraft. „Bötjer Basch"
könnte man das schauspielmäßige Gegenstück zur Tragödie „Hans und Heinz
Kirch" (1883) nennen: hier und dort ein Sohn, der übers Meer geht, sein
Glück zu suchen; aber Vater Kirch erhält einen Brief vom fernen Sohne
und schickt ihn in seinem Geize uneröffnet zurück, weil er unfrankirt gekommen
ist; der Sohn geht zu Grunde. Der Fritz des Bötchers Basch ist unter
den liebe- und gemütvollen Augen seines frühverwitweteu Vaters besser ge¬
artet als Hinz Kirch; Fritz hat aus Kalifornien einen Brief an den Vater
geschrieben, der verloren gegangen ist; statt dessen kam die Nachricht, daß Fritz
von neidischen Goldgräbern erstochen worden sei. Dem vielgeprüften Vater
Basch wird schließlich noch sein einziges Gut aus der Zeit des Glücks, ein
Dompfaff, welcher die Melodie „Üb immer Treu und Redlichkeit" pfeifen kann,
geraubt, und damit jeder Zusammenhang mit der Welt. Er springt ins Meer,
wird gerettet, und Fritz kommt rechtzeitig zurück, um die Genesung des Alten
zu beschleunigen. So nackt erzählt, hat die Geschichte natürlich nicht die Hälfte
jenes Reizes, den ihr die poetische Ornamentik und der Vortrag des Dichters



*) Bei kleinen Leuten. Zwei Novellen vou Theodor Storm. Berlin, Paetel, 1837.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/584>, abgerufen am 23.07.2024.