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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage der Prozeßkostenfrage.

Konzept dem Gerichtspräsidenten zur Terminsbestimmung nicht vorlegen kann.
Nächst der Klagschrift sollen dann die Parteien weitere Schriften wechseln; und
die besseren Anwälte thun dies auch, schon um sich selbst genügend für die münd¬
liche Verhandlung vorzubereiten. Kommt es nun aber zu dieser Verhandlung,
so gelten alle diese Schriften nichts. Das Gericht braucht sie nicht zu lesen,
sondern kann sie ruhig beiseite legen. Wirklich verfahren auch manche Gerichte
so. Der Anwalt muß also bei der mündlichen Verhandlung alles so vortragen,
als hätte er gar nichts geschrieben. Versäumt er etwas dabei, so gilt es für
das Gericht nicht; und es braucht es auch nicht zu beachten, wenn vielleicht
das Versäumte in den Schriften klar vor Augen liegt. Natürlich vermehrt sich
dadurch wieder die Gefahr, welche die Partei zu tragen hat. Ist nun die
mündliche Verhandlung zu Ende, dann hat das Gericht auf Grund dessen, was
es aus der mündlichen Verhandlung im Gedächtnis behalten hat, den ganzen
Prozeß von neuem aufzuschreiben. Das nennt man den "Thatbestand des
Urteils." Das so Aufgeschriebene soll nun die eigentliche "Mündlichkeit" sein.
Natürlich ist es aber nichts andres, als eine vom Richter nachträglich an¬
gefertigte Schrift. Was die Parteien auf Grund ihrer unmittelbaren Kenntnis
der Thatsachen niedergeschrieben haben, gilt nichts und darf ums Leben nicht
beachtet werden. Was aber der Richter vom Hörensagen niederschreibe, das ist
der wahre Inhalt des Prozesses und gilt nicht allein für den zunächst erken¬
nenden Richter, sondern auch für die höheren Instanzen. Hat sich der Richter
dabei geirrt, was doch einer vorüberrauschenden Rede gegenüber leicht möglich
ist, so hängt die Partei daran fest. Die Mittel zur Abhilfe und Berichtigung
sind höchst kläglicher Natur und regelmäßig ohne Erfolg. Natürlich werden
nun auch, durch den hinzukommenden "Thatbestand," in welchen der Richter,
vielleicht schon aus Gewissenhaftigkeit, alles mögliche hineinschreibt, die Urteile
viel umfangreicher.

Früher wurde das ergangene Urteil beiden Teilen von Amtswegen durch
das Gericht behändigt. Damit begann die Frist für die Rechtskraft zu laufen.
Mit zwei Ausfertigungen war alles abgethan. Die Parteien hatten niemals
Not, durch Zustellungsurkunden die Zustellung nachweisen zu müssen; denn
diese war stets gerichtskundig. Das war für die Parteien eine große Wohlthat.
Aber zu den "Prinzipien" des neuen Prozesses paßte das nicht. Hat der Richter
sein Urteil mündlich verkündigt und schriftlich zu den Akten niedergelegt, so
kümmert er sich um nichts mehr. Die Parteien erhalten das Urteil nicht mehr
von Amts wegen zugestellt. Sie müssen bei der "Gerichtsschreiberei" um eine
Abschrift bitten. Da der Anwalt sich nicht auf mündliche Verhandlungen mit
der Gerichtsschreiberei einlassen kann, so schreibt er jedesmal einen Brief. Das
giebt jedesmal eine Abschriftsgebühr, wenn auch nur von zehn Pfennigen.
Die Gerichtsschreiberei fertigt nun jeder Partei auf ihre Bitte eine Abschrift
zu. Jede Partei läßt dann von der Abschrift wieder eine Abschrift machen und


Grenzboten III. 1837. 71
Die Lage der Prozeßkostenfrage.

Konzept dem Gerichtspräsidenten zur Terminsbestimmung nicht vorlegen kann.
Nächst der Klagschrift sollen dann die Parteien weitere Schriften wechseln; und
die besseren Anwälte thun dies auch, schon um sich selbst genügend für die münd¬
liche Verhandlung vorzubereiten. Kommt es nun aber zu dieser Verhandlung,
so gelten alle diese Schriften nichts. Das Gericht braucht sie nicht zu lesen,
sondern kann sie ruhig beiseite legen. Wirklich verfahren auch manche Gerichte
so. Der Anwalt muß also bei der mündlichen Verhandlung alles so vortragen,
als hätte er gar nichts geschrieben. Versäumt er etwas dabei, so gilt es für
das Gericht nicht; und es braucht es auch nicht zu beachten, wenn vielleicht
das Versäumte in den Schriften klar vor Augen liegt. Natürlich vermehrt sich
dadurch wieder die Gefahr, welche die Partei zu tragen hat. Ist nun die
mündliche Verhandlung zu Ende, dann hat das Gericht auf Grund dessen, was
es aus der mündlichen Verhandlung im Gedächtnis behalten hat, den ganzen
Prozeß von neuem aufzuschreiben. Das nennt man den „Thatbestand des
Urteils." Das so Aufgeschriebene soll nun die eigentliche „Mündlichkeit" sein.
Natürlich ist es aber nichts andres, als eine vom Richter nachträglich an¬
gefertigte Schrift. Was die Parteien auf Grund ihrer unmittelbaren Kenntnis
der Thatsachen niedergeschrieben haben, gilt nichts und darf ums Leben nicht
beachtet werden. Was aber der Richter vom Hörensagen niederschreibe, das ist
der wahre Inhalt des Prozesses und gilt nicht allein für den zunächst erken¬
nenden Richter, sondern auch für die höheren Instanzen. Hat sich der Richter
dabei geirrt, was doch einer vorüberrauschenden Rede gegenüber leicht möglich
ist, so hängt die Partei daran fest. Die Mittel zur Abhilfe und Berichtigung
sind höchst kläglicher Natur und regelmäßig ohne Erfolg. Natürlich werden
nun auch, durch den hinzukommenden „Thatbestand," in welchen der Richter,
vielleicht schon aus Gewissenhaftigkeit, alles mögliche hineinschreibt, die Urteile
viel umfangreicher.

Früher wurde das ergangene Urteil beiden Teilen von Amtswegen durch
das Gericht behändigt. Damit begann die Frist für die Rechtskraft zu laufen.
Mit zwei Ausfertigungen war alles abgethan. Die Parteien hatten niemals
Not, durch Zustellungsurkunden die Zustellung nachweisen zu müssen; denn
diese war stets gerichtskundig. Das war für die Parteien eine große Wohlthat.
Aber zu den „Prinzipien" des neuen Prozesses paßte das nicht. Hat der Richter
sein Urteil mündlich verkündigt und schriftlich zu den Akten niedergelegt, so
kümmert er sich um nichts mehr. Die Parteien erhalten das Urteil nicht mehr
von Amts wegen zugestellt. Sie müssen bei der „Gerichtsschreiberei" um eine
Abschrift bitten. Da der Anwalt sich nicht auf mündliche Verhandlungen mit
der Gerichtsschreiberei einlassen kann, so schreibt er jedesmal einen Brief. Das
giebt jedesmal eine Abschriftsgebühr, wenn auch nur von zehn Pfennigen.
Die Gerichtsschreiberei fertigt nun jeder Partei auf ihre Bitte eine Abschrift
zu. Jede Partei läßt dann von der Abschrift wieder eine Abschrift machen und


Grenzboten III. 1837. 71
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/569>, abgerufen am 23.07.2024.