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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

land halb unbewußt vorhanden ist, und daß der Drang, in Deutschland den
eigentlichen Schwerpunkt für ihr politisches und nationales Empfinden zu sehen,
selbst in ihren Zeitungen einen sehr deutlichen Ausdruck findet, das läßt sich
unmöglich in Abrede stellen. Wer weiß, welche Zeitverhältnisse eintreten können,
unter deren Einfluß diese Stimmung der baltischen Deutschen vielleicht eine
größere Bedeutung gewönne? Dazu kommt die ungeheure Wichtigkeit, welche
die baltischen Häfen als solche für Nußland besitzen. Se. Petersburg könnte
kein so wirksames und für Rußland so nützliches Organ für die Berührung des
russischen Staates und Volkstums mit dem Westen sein, wenn nicht in seiner
Nähe eine gewaltige Handelsbewegung sich vollzöge, für welche Nußland selbst
das Hinterland bildet; und mögen die baltischen Handelsstädte noch so viele
Klagen haben, so können sie doch schließlich nicht bestreiten, daß Rußland sich
bemüht hat und noch fortwährend bemüht, durch Eisenbahnbauten (deren gegen¬
wärtig wieder eine im Bau und eine zweite beabsichtigt ist), Hafenanlagen u. tgi.
den Handel der baltischen Städte, mit andern Worten seinen eignen Handel, zu
fördern. Die baltischen Städte können nicht gedacht werden ohne das innere
Rußland, und ebenso sind sie für dieses von höchster Bedeutung. Wenn nun
schon der einzelne Mensch immer sich selbst der nächste ist, so noch mehr ein
Volk. Der Einzelne kann großmütig auf seinen Vorteil verzichten, ein Volk
kaun und darf dies nicht, und es ist von einem geschichtsphilosophischen Stand¬
punkte aus immer nur zu loben, wenn ein Volk entschlossen ist, um jeden Preis
die seinein Staatswesen drohenden Gefahren aus dem Wege zu räumen oder
schou im Keime zu ersticken. Endlich ist auch das nicht zu leugnen, daß die
Russen in andern europäischen Staaten Beispiele für ihr Verfahren die Hülle
und Fülle finden. Die edeln Magyaren mit ihrem Vorgehen gegen die Deutschen
und insbesondre gegen die siebenbürger Sachsen, der von der heutigen öster¬
reichischen Negierung begünstigte Ansturm der Tschechen, Polen, Slowenen ze.
gegen die deutscheu Mitbewohner der betreffenden Provinzen, die langjährige,
jetzt freilich in ihr Gegenteil umschlagende Unterdrückung der Flamänder in
Belgien durch die wallonisch-französische Minderheit, die frühere, in ihren Wir¬
kungen noch lange nicht wieder gut gemachte Behandlung Irlands -- das alles
sind Dinge, die Nußland gegenüber der österreichischen oder englischen Negierung
durchaus rechtfertigen würden, wenn es Vorstellungen derselben mit dem Rate
begegnete, sich doch um ihre eignen Angelegenheiten zu bekümmern. In Dentsch-
land, denkt wohl mancher gute Reichsbürger, käme etwas derartiges nicht vor,
lind es ist ja gewiß wahr, daß Gewaltsamkeiten, Sprachenzwang und ähnliches
von uns niemals ausgeübt worden sind und nicht in unsrer Natur liegen.
Dennoch sind wir gegenwärtig an der Arbeit, zu dem bewußten Zwecke der
Germanisirung einen großartigen Enteignungsprvzeß in gewissen Provinzen
durchzuführen, und auch das ist richtig, daß für Deutschland oder Preußen
dem Polentum gegenüber wirklich internationale Verpflichtungen bestehen, die


staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

land halb unbewußt vorhanden ist, und daß der Drang, in Deutschland den
eigentlichen Schwerpunkt für ihr politisches und nationales Empfinden zu sehen,
selbst in ihren Zeitungen einen sehr deutlichen Ausdruck findet, das läßt sich
unmöglich in Abrede stellen. Wer weiß, welche Zeitverhältnisse eintreten können,
unter deren Einfluß diese Stimmung der baltischen Deutschen vielleicht eine
größere Bedeutung gewönne? Dazu kommt die ungeheure Wichtigkeit, welche
die baltischen Häfen als solche für Nußland besitzen. Se. Petersburg könnte
kein so wirksames und für Rußland so nützliches Organ für die Berührung des
russischen Staates und Volkstums mit dem Westen sein, wenn nicht in seiner
Nähe eine gewaltige Handelsbewegung sich vollzöge, für welche Nußland selbst
das Hinterland bildet; und mögen die baltischen Handelsstädte noch so viele
Klagen haben, so können sie doch schließlich nicht bestreiten, daß Rußland sich
bemüht hat und noch fortwährend bemüht, durch Eisenbahnbauten (deren gegen¬
wärtig wieder eine im Bau und eine zweite beabsichtigt ist), Hafenanlagen u. tgi.
den Handel der baltischen Städte, mit andern Worten seinen eignen Handel, zu
fördern. Die baltischen Städte können nicht gedacht werden ohne das innere
Rußland, und ebenso sind sie für dieses von höchster Bedeutung. Wenn nun
schon der einzelne Mensch immer sich selbst der nächste ist, so noch mehr ein
Volk. Der Einzelne kann großmütig auf seinen Vorteil verzichten, ein Volk
kaun und darf dies nicht, und es ist von einem geschichtsphilosophischen Stand¬
punkte aus immer nur zu loben, wenn ein Volk entschlossen ist, um jeden Preis
die seinein Staatswesen drohenden Gefahren aus dem Wege zu räumen oder
schou im Keime zu ersticken. Endlich ist auch das nicht zu leugnen, daß die
Russen in andern europäischen Staaten Beispiele für ihr Verfahren die Hülle
und Fülle finden. Die edeln Magyaren mit ihrem Vorgehen gegen die Deutschen
und insbesondre gegen die siebenbürger Sachsen, der von der heutigen öster¬
reichischen Negierung begünstigte Ansturm der Tschechen, Polen, Slowenen ze.
gegen die deutscheu Mitbewohner der betreffenden Provinzen, die langjährige,
jetzt freilich in ihr Gegenteil umschlagende Unterdrückung der Flamänder in
Belgien durch die wallonisch-französische Minderheit, die frühere, in ihren Wir¬
kungen noch lange nicht wieder gut gemachte Behandlung Irlands — das alles
sind Dinge, die Nußland gegenüber der österreichischen oder englischen Negierung
durchaus rechtfertigen würden, wenn es Vorstellungen derselben mit dem Rate
begegnete, sich doch um ihre eignen Angelegenheiten zu bekümmern. In Dentsch-
land, denkt wohl mancher gute Reichsbürger, käme etwas derartiges nicht vor,
lind es ist ja gewiß wahr, daß Gewaltsamkeiten, Sprachenzwang und ähnliches
von uns niemals ausgeübt worden sind und nicht in unsrer Natur liegen.
Dennoch sind wir gegenwärtig an der Arbeit, zu dem bewußten Zwecke der
Germanisirung einen großartigen Enteignungsprvzeß in gewissen Provinzen
durchzuführen, und auch das ist richtig, daß für Deutschland oder Preußen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/459>, abgerufen am 23.07.2024.