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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

diesem erlebt und seien darin von Nußland beschützt worden, seien mit Rußland
aufgeblüht und aller Vorteile eines sich entwickelnden großen Staatswesens teil¬
haftig geworden. Heute, angesichts einer Bewegung, welche Rußland zu einem
gewaltigen, auf eignen und eigenartigen Ideen sich aufbauenden Nationalstaate
zu machen gedenke, könne es unmöglich zulässig sein, daß diese Leute sich
weigerten, hieran teilzunehmen, und daß sie ihre fremde Sprache und Sitte
mitten unter russischem Wesen forterhalten wollten. Das Höchste, was sie für
diese Sprache und Sitte beanspruchen dürften, sei Duldung. In allem, was
das Staats- und das Kulturleben betreffe, müßten sie sich einfügen lassen nicht
nnr in die äußern Erscheinungsformen, sondern auch in den Geist des russischen
Volkes und Staates; was sie diesem zu bringen hätten, wolle man dankbar
annehmen, aber es dürfe nichts geben, was innerhalb des russischen Volks¬
körpers ein Sonderleben führe, sonder", was ein Glied desselben sein wolle,
das müsse auch vollständig darin aufgehen. Übrigens, fügt man derartigen
Gedanken stets etwas spöttisch hinzu, andre Völker und Staaten, Deutschland
voran, machte" es ja gegenüber den auf ihrem Gebiete lebenden Angehörigen
andrer Völker genau so, und wenn es einerseits kein vertragsmäßiges Recht
irgend eines Staates gebe, sich in diese innern russischen Verhältnisse einzumischen,
so bestehe also anderseits auch kein moralisches Recht hierzu.

Ohne weiteres als haltlos bezeichnen kann man diesen Standpunkt nicht.
Es ist wahr: für jedes Staatswesen ist sein eignes Bestehen und seine eigne
Entwicklung höchstes Gesetz, und man muß ihm vom Standpunkte des heutigen
Staatsrechtcs aus das Recht zugestehen, sich um dieses höchsten Gesetzes willen
selbst über nicht minder wohlbegründete Ansprüche, die ein Teil des jetzigen
Stacitsganzen erheben könnte, hinwegzusetzen. Die Umstände und Bedingungen,
unter denen dies geschehen darf, können mannichfaltiger Art sein. Die Starke
der öffentlichen Meinung, die handgreifliche Notwendigkeit, zwischen Hemmnissen
der einheitlichen Staatsgewalt ein Ende zu machen, die unvcrhältnismcißige
Geringfügigkeit des im Wege stehenden Einzelrechts und der daran sich knüpfenden
Interessen -- das alles kann maßgebend sein; keinesfalls wird der allgemeine
Satz, daß ein Staat nicht unbedingt an die Berücksichtigung innerhalb seines
Gebietes bestehender Sonderrechte gebunden sei, große Anfechtung finden können.
Ebensowenig wird es sich bestreiten lassen, daß es für die Russen ein berechtigter
Standpunkt sein mag, das deutsche Sondcrvolkstum nicht nur an weiterer Aus¬
breitung zu hindern, sondern ihm auch für den Fortbestand in den seit sechs¬
hundert Jahren von ihm beherrschten Gebiete die Adern zu unterbinden. Die
Hauptstadt Rußlands ist Se. Petersburg geworden, nud es läßt sich unmöglich
bestreiten, daß aus der Lage dieser Stadt in der Nähe deutscher Ostseeprovinzen
dem russischen Staatswesen große Gefahren erwachsen könnten; dann mögen
die Ballen sich mit noch so großem Rechte ihrer stets an den Tag gelegten
loyalen Gesinnung rühmen: daß in ihnen eine starke Hinneigung zu Deutsch-


staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands.

diesem erlebt und seien darin von Nußland beschützt worden, seien mit Rußland
aufgeblüht und aller Vorteile eines sich entwickelnden großen Staatswesens teil¬
haftig geworden. Heute, angesichts einer Bewegung, welche Rußland zu einem
gewaltigen, auf eignen und eigenartigen Ideen sich aufbauenden Nationalstaate
zu machen gedenke, könne es unmöglich zulässig sein, daß diese Leute sich
weigerten, hieran teilzunehmen, und daß sie ihre fremde Sprache und Sitte
mitten unter russischem Wesen forterhalten wollten. Das Höchste, was sie für
diese Sprache und Sitte beanspruchen dürften, sei Duldung. In allem, was
das Staats- und das Kulturleben betreffe, müßten sie sich einfügen lassen nicht
nnr in die äußern Erscheinungsformen, sondern auch in den Geist des russischen
Volkes und Staates; was sie diesem zu bringen hätten, wolle man dankbar
annehmen, aber es dürfe nichts geben, was innerhalb des russischen Volks¬
körpers ein Sonderleben führe, sonder», was ein Glied desselben sein wolle,
das müsse auch vollständig darin aufgehen. Übrigens, fügt man derartigen
Gedanken stets etwas spöttisch hinzu, andre Völker und Staaten, Deutschland
voran, machte» es ja gegenüber den auf ihrem Gebiete lebenden Angehörigen
andrer Völker genau so, und wenn es einerseits kein vertragsmäßiges Recht
irgend eines Staates gebe, sich in diese innern russischen Verhältnisse einzumischen,
so bestehe also anderseits auch kein moralisches Recht hierzu.

Ohne weiteres als haltlos bezeichnen kann man diesen Standpunkt nicht.
Es ist wahr: für jedes Staatswesen ist sein eignes Bestehen und seine eigne
Entwicklung höchstes Gesetz, und man muß ihm vom Standpunkte des heutigen
Staatsrechtcs aus das Recht zugestehen, sich um dieses höchsten Gesetzes willen
selbst über nicht minder wohlbegründete Ansprüche, die ein Teil des jetzigen
Stacitsganzen erheben könnte, hinwegzusetzen. Die Umstände und Bedingungen,
unter denen dies geschehen darf, können mannichfaltiger Art sein. Die Starke
der öffentlichen Meinung, die handgreifliche Notwendigkeit, zwischen Hemmnissen
der einheitlichen Staatsgewalt ein Ende zu machen, die unvcrhältnismcißige
Geringfügigkeit des im Wege stehenden Einzelrechts und der daran sich knüpfenden
Interessen — das alles kann maßgebend sein; keinesfalls wird der allgemeine
Satz, daß ein Staat nicht unbedingt an die Berücksichtigung innerhalb seines
Gebietes bestehender Sonderrechte gebunden sei, große Anfechtung finden können.
Ebensowenig wird es sich bestreiten lassen, daß es für die Russen ein berechtigter
Standpunkt sein mag, das deutsche Sondcrvolkstum nicht nur an weiterer Aus¬
breitung zu hindern, sondern ihm auch für den Fortbestand in den seit sechs¬
hundert Jahren von ihm beherrschten Gebiete die Adern zu unterbinden. Die
Hauptstadt Rußlands ist Se. Petersburg geworden, nud es läßt sich unmöglich
bestreiten, daß aus der Lage dieser Stadt in der Nähe deutscher Ostseeprovinzen
dem russischen Staatswesen große Gefahren erwachsen könnten; dann mögen
die Ballen sich mit noch so großem Rechte ihrer stets an den Tag gelegten
loyalen Gesinnung rühmen: daß in ihnen eine starke Hinneigung zu Deutsch-


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[0458] staatsrechtliche Zusagen an die deutschen Unterthanen Rußlands. diesem erlebt und seien darin von Nußland beschützt worden, seien mit Rußland aufgeblüht und aller Vorteile eines sich entwickelnden großen Staatswesens teil¬ haftig geworden. Heute, angesichts einer Bewegung, welche Rußland zu einem gewaltigen, auf eignen und eigenartigen Ideen sich aufbauenden Nationalstaate zu machen gedenke, könne es unmöglich zulässig sein, daß diese Leute sich weigerten, hieran teilzunehmen, und daß sie ihre fremde Sprache und Sitte mitten unter russischem Wesen forterhalten wollten. Das Höchste, was sie für diese Sprache und Sitte beanspruchen dürften, sei Duldung. In allem, was das Staats- und das Kulturleben betreffe, müßten sie sich einfügen lassen nicht nnr in die äußern Erscheinungsformen, sondern auch in den Geist des russischen Volkes und Staates; was sie diesem zu bringen hätten, wolle man dankbar annehmen, aber es dürfe nichts geben, was innerhalb des russischen Volks¬ körpers ein Sonderleben führe, sonder», was ein Glied desselben sein wolle, das müsse auch vollständig darin aufgehen. Übrigens, fügt man derartigen Gedanken stets etwas spöttisch hinzu, andre Völker und Staaten, Deutschland voran, machte» es ja gegenüber den auf ihrem Gebiete lebenden Angehörigen andrer Völker genau so, und wenn es einerseits kein vertragsmäßiges Recht irgend eines Staates gebe, sich in diese innern russischen Verhältnisse einzumischen, so bestehe also anderseits auch kein moralisches Recht hierzu. Ohne weiteres als haltlos bezeichnen kann man diesen Standpunkt nicht. Es ist wahr: für jedes Staatswesen ist sein eignes Bestehen und seine eigne Entwicklung höchstes Gesetz, und man muß ihm vom Standpunkte des heutigen Staatsrechtcs aus das Recht zugestehen, sich um dieses höchsten Gesetzes willen selbst über nicht minder wohlbegründete Ansprüche, die ein Teil des jetzigen Stacitsganzen erheben könnte, hinwegzusetzen. Die Umstände und Bedingungen, unter denen dies geschehen darf, können mannichfaltiger Art sein. Die Starke der öffentlichen Meinung, die handgreifliche Notwendigkeit, zwischen Hemmnissen der einheitlichen Staatsgewalt ein Ende zu machen, die unvcrhältnismcißige Geringfügigkeit des im Wege stehenden Einzelrechts und der daran sich knüpfenden Interessen — das alles kann maßgebend sein; keinesfalls wird der allgemeine Satz, daß ein Staat nicht unbedingt an die Berücksichtigung innerhalb seines Gebietes bestehender Sonderrechte gebunden sei, große Anfechtung finden können. Ebensowenig wird es sich bestreiten lassen, daß es für die Russen ein berechtigter Standpunkt sein mag, das deutsche Sondcrvolkstum nicht nur an weiterer Aus¬ breitung zu hindern, sondern ihm auch für den Fortbestand in den seit sechs¬ hundert Jahren von ihm beherrschten Gebiete die Adern zu unterbinden. Die Hauptstadt Rußlands ist Se. Petersburg geworden, nud es läßt sich unmöglich bestreiten, daß aus der Lage dieser Stadt in der Nähe deutscher Ostseeprovinzen dem russischen Staatswesen große Gefahren erwachsen könnten; dann mögen die Ballen sich mit noch so großem Rechte ihrer stets an den Tag gelegten loyalen Gesinnung rühmen: daß in ihnen eine starke Hinneigung zu Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/458>, abgerufen am 23.07.2024.