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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Ans den hinterlassenen Papieren eines preußischen Staatsminisrers.

in der Richtung nach Luzern über den Vierwaldstcitter See. Bei heiterm
Himmel und völliger Windstille hatten wir unser Fahrzeug bestiegen. Wir
sprachen gerade über den Wechsel der Witterung und daß doch wohl ein ur¬
plötzlicher Orkan kaum zu erwarten sei, als unsre Schiffer erschreckt riefen:
"Der Föhn von Uri kommt!" Wir entdeckten denn auch sofort, anfänglich noch
in großer Entfernung, mächtig aufgetürmte Wellen, welche durch einen ans den
Schluchten des Rigi kommenden Orkan aufgepeitscht und uns immer näher ge¬
trieben wurden. Schon hatte" sie unser Fahrzeug erreicht, als wir dasselbe erst
näher betrachteten und von seiner Zerbrechlichkeit eine etwas beängstigende Über¬
zeugung gewannen. Selbst die Besitzer des Bootes erklärten, daß es einen
besonders heftigen Wellenstoß nicht aushalten könne. Keiner von uns glaubte
mehr an die Möglichkeit eiuer Rettung. Der Schiffsführer lag der Länge nach
auf dem Fußboden und geberdete sich wie ein Verzweifelnder. Auf der Bank
mir gegenüber saß Graf Goltz; obgleich er so korpulent war, daß man ihn in
der Paulskirche scherzhaft den "Ncichsschwerpunkt" nannte, konnte er doch nicht
schwimmen. Er klammerte sich daher an meine Kniee und drückte dabei seine
Finger mir mit solcher Kraft ins Fleisch, daß ich noch lange die Erinnerung
an jene Szene in Gestalt bläulicher Flecke am Leibe getragen habe. Wir
drängten zum Landen. Die Ruderer fürchteten zwar die felsigen Ufcrhöhcn,
doch endlich gelang es uns, auf der Westküste, nördlich vom Pilatus, eine Bucht
zu gewinnen, wo dann ein jeder von uus durch einen kühnen Tellssprung den
festen Erd- oder Steinboden erreichte. Wir eilten nach Luzern und unterhielten
uns dort des Abends beim Schoppen sehr gemütlich über das eben überstandene
Abenteuer. Dasselbe kam uus so merkwürdig vor, daß wir verabredeten, so
lange noch zwei von uns lebten, alljährlich an diesem Gedenktage zusammen¬
zukommen und uns mit Dank gegen Gott der wunderbaren Errettung ans Ge¬
fahr zu erinnern. Dieser schöne Vorsatz ist denn anch in der That nicht ein
einzigesmal zur Ausführung gekommen.

Nach achttägiger Abwesenheit trafen wir wieder in Frankfurt ein, wo die
alte Melodie unverdrossen weiter gesungen wurde; es war entsetzlich langweilig.

Im Laufe des Sommers überzeugte sich die Versammlung von der Not¬
wendigkeit, dem deutscheu Reiche ein Oberhaupt zu geben. Es wurde der Erz¬
herzog Johann von Österreich zum "Reichsverweser" gewählt. Man war auf
diesen hohen Herrn gekommen, weil er bei Gelegenheit einer größern Festtafel
am Rhein, der auch unser König beigewohnt hatte und die mit verschiednen
Toasten auf Preußen und Österreich gewürzt worden war. ausgerufen haben
sollte: "Nicht Preußen, nicht Österreich. Deutschland sei unser Panier!" Dies
war also unser Mann. Er zog mit seiner Gemahlin, die er aus niederm
Stande gewählt hatte, in Frankfurt ein und fing an, dort zu regieren. Dies
Regiment war aber ein kläglich schwaches und gab zu allerlei geflügelten
Worten Veranlassung, in denen sich die Unzufriedenheit und die Enttäuschung


Ans den hinterlassenen Papieren eines preußischen Staatsminisrers.

in der Richtung nach Luzern über den Vierwaldstcitter See. Bei heiterm
Himmel und völliger Windstille hatten wir unser Fahrzeug bestiegen. Wir
sprachen gerade über den Wechsel der Witterung und daß doch wohl ein ur¬
plötzlicher Orkan kaum zu erwarten sei, als unsre Schiffer erschreckt riefen:
„Der Föhn von Uri kommt!" Wir entdeckten denn auch sofort, anfänglich noch
in großer Entfernung, mächtig aufgetürmte Wellen, welche durch einen ans den
Schluchten des Rigi kommenden Orkan aufgepeitscht und uns immer näher ge¬
trieben wurden. Schon hatte» sie unser Fahrzeug erreicht, als wir dasselbe erst
näher betrachteten und von seiner Zerbrechlichkeit eine etwas beängstigende Über¬
zeugung gewannen. Selbst die Besitzer des Bootes erklärten, daß es einen
besonders heftigen Wellenstoß nicht aushalten könne. Keiner von uns glaubte
mehr an die Möglichkeit eiuer Rettung. Der Schiffsführer lag der Länge nach
auf dem Fußboden und geberdete sich wie ein Verzweifelnder. Auf der Bank
mir gegenüber saß Graf Goltz; obgleich er so korpulent war, daß man ihn in
der Paulskirche scherzhaft den „Ncichsschwerpunkt" nannte, konnte er doch nicht
schwimmen. Er klammerte sich daher an meine Kniee und drückte dabei seine
Finger mir mit solcher Kraft ins Fleisch, daß ich noch lange die Erinnerung
an jene Szene in Gestalt bläulicher Flecke am Leibe getragen habe. Wir
drängten zum Landen. Die Ruderer fürchteten zwar die felsigen Ufcrhöhcn,
doch endlich gelang es uns, auf der Westküste, nördlich vom Pilatus, eine Bucht
zu gewinnen, wo dann ein jeder von uus durch einen kühnen Tellssprung den
festen Erd- oder Steinboden erreichte. Wir eilten nach Luzern und unterhielten
uns dort des Abends beim Schoppen sehr gemütlich über das eben überstandene
Abenteuer. Dasselbe kam uus so merkwürdig vor, daß wir verabredeten, so
lange noch zwei von uns lebten, alljährlich an diesem Gedenktage zusammen¬
zukommen und uns mit Dank gegen Gott der wunderbaren Errettung ans Ge¬
fahr zu erinnern. Dieser schöne Vorsatz ist denn anch in der That nicht ein
einzigesmal zur Ausführung gekommen.

Nach achttägiger Abwesenheit trafen wir wieder in Frankfurt ein, wo die
alte Melodie unverdrossen weiter gesungen wurde; es war entsetzlich langweilig.

Im Laufe des Sommers überzeugte sich die Versammlung von der Not¬
wendigkeit, dem deutscheu Reiche ein Oberhaupt zu geben. Es wurde der Erz¬
herzog Johann von Österreich zum „Reichsverweser" gewählt. Man war auf
diesen hohen Herrn gekommen, weil er bei Gelegenheit einer größern Festtafel
am Rhein, der auch unser König beigewohnt hatte und die mit verschiednen
Toasten auf Preußen und Österreich gewürzt worden war. ausgerufen haben
sollte: „Nicht Preußen, nicht Österreich. Deutschland sei unser Panier!" Dies
war also unser Mann. Er zog mit seiner Gemahlin, die er aus niederm
Stande gewählt hatte, in Frankfurt ein und fing an, dort zu regieren. Dies
Regiment war aber ein kläglich schwaches und gab zu allerlei geflügelten
Worten Veranlassung, in denen sich die Unzufriedenheit und die Enttäuschung


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[0445] Ans den hinterlassenen Papieren eines preußischen Staatsminisrers. in der Richtung nach Luzern über den Vierwaldstcitter See. Bei heiterm Himmel und völliger Windstille hatten wir unser Fahrzeug bestiegen. Wir sprachen gerade über den Wechsel der Witterung und daß doch wohl ein ur¬ plötzlicher Orkan kaum zu erwarten sei, als unsre Schiffer erschreckt riefen: „Der Föhn von Uri kommt!" Wir entdeckten denn auch sofort, anfänglich noch in großer Entfernung, mächtig aufgetürmte Wellen, welche durch einen ans den Schluchten des Rigi kommenden Orkan aufgepeitscht und uns immer näher ge¬ trieben wurden. Schon hatte» sie unser Fahrzeug erreicht, als wir dasselbe erst näher betrachteten und von seiner Zerbrechlichkeit eine etwas beängstigende Über¬ zeugung gewannen. Selbst die Besitzer des Bootes erklärten, daß es einen besonders heftigen Wellenstoß nicht aushalten könne. Keiner von uns glaubte mehr an die Möglichkeit eiuer Rettung. Der Schiffsführer lag der Länge nach auf dem Fußboden und geberdete sich wie ein Verzweifelnder. Auf der Bank mir gegenüber saß Graf Goltz; obgleich er so korpulent war, daß man ihn in der Paulskirche scherzhaft den „Ncichsschwerpunkt" nannte, konnte er doch nicht schwimmen. Er klammerte sich daher an meine Kniee und drückte dabei seine Finger mir mit solcher Kraft ins Fleisch, daß ich noch lange die Erinnerung an jene Szene in Gestalt bläulicher Flecke am Leibe getragen habe. Wir drängten zum Landen. Die Ruderer fürchteten zwar die felsigen Ufcrhöhcn, doch endlich gelang es uns, auf der Westküste, nördlich vom Pilatus, eine Bucht zu gewinnen, wo dann ein jeder von uus durch einen kühnen Tellssprung den festen Erd- oder Steinboden erreichte. Wir eilten nach Luzern und unterhielten uns dort des Abends beim Schoppen sehr gemütlich über das eben überstandene Abenteuer. Dasselbe kam uus so merkwürdig vor, daß wir verabredeten, so lange noch zwei von uns lebten, alljährlich an diesem Gedenktage zusammen¬ zukommen und uns mit Dank gegen Gott der wunderbaren Errettung ans Ge¬ fahr zu erinnern. Dieser schöne Vorsatz ist denn anch in der That nicht ein einzigesmal zur Ausführung gekommen. Nach achttägiger Abwesenheit trafen wir wieder in Frankfurt ein, wo die alte Melodie unverdrossen weiter gesungen wurde; es war entsetzlich langweilig. Im Laufe des Sommers überzeugte sich die Versammlung von der Not¬ wendigkeit, dem deutscheu Reiche ein Oberhaupt zu geben. Es wurde der Erz¬ herzog Johann von Österreich zum „Reichsverweser" gewählt. Man war auf diesen hohen Herrn gekommen, weil er bei Gelegenheit einer größern Festtafel am Rhein, der auch unser König beigewohnt hatte und die mit verschiednen Toasten auf Preußen und Österreich gewürzt worden war. ausgerufen haben sollte: „Nicht Preußen, nicht Österreich. Deutschland sei unser Panier!" Dies war also unser Mann. Er zog mit seiner Gemahlin, die er aus niederm Stande gewählt hatte, in Frankfurt ein und fing an, dort zu regieren. Dies Regiment war aber ein kläglich schwaches und gab zu allerlei geflügelten Worten Veranlassung, in denen sich die Unzufriedenheit und die Enttäuschung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/445>, abgerufen am 03.07.2024.