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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Massen des Gymnasiums.

armselig zu halten; wir haben vielmehr einen ganz bestimmten Inhalt, dessen
Vergegenwärtigung allein das Leben wertvoll, dessen Mangel es allein elend
macht. In Gott leben, mit dem Herzen im Himmel sein und mit Kopf und
Händen auf Erde" schalten und walten, das ist es, was Menschenwerk segnet,
der Seele Freiheit bringt und ewigen Genuß. Denn hier giebt es keinen Tod.
Das Geheimnis des Sterbens wird offenbar als ein neues Werden, und damit
wird das Dunkel der Erde Licht. Im andern Falle gilt das Wort Goethes:


Und so lang du das nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunkeln Erde.

Das haben freilich schon die Alten in ihren edelsten Geistern gewußt. Was
Demokrit sagt: ^eov c/e ^c>,.^e^ "^rcw v^""-?"^,
"es wird dich Gottes würdig machen, wenn du nichts seiner Unwürdiges thust,"
das könnte mit so mancher Stelle aus Plato oder Epiktet auch im Evangelium
stehen. Die Lehre ist da. Aber deu selbst, der "nichts Gottes Unwürdiges"
gethan hat, an dem, wie der Apostel es meint, "keine Sünde erfunden" ward,
diesen einen Freien und sittlich Vollendeten unter den Menschenkindern, durch
dessen von ihm ausgehende Geisteskraft auch wir frei werden können von den
Banden eines gottentfremdeten Lebens, den haben sie nicht gekannt. Sie haben
ihn nur ersehnt, so viele ihrer in der Selbsterkenntnis standen, und ihre höchsten
Geister, die Propheten unter den Juden und unter den Heiden, haben ihn ge¬
ahnt. Man vergleiche nur, was Plato im zweiten Buche seiner Republik von
dem Gerechten, dem ä/xo-to^ sagt.

Dies, diese Bedeutung des Christentums wie für alle, so auch für unsre
Zeit, in einer dem Bildungsstande der Klasse entsprechenden Weise den Schülern
des oberen Gymnasiums klar zu machen und damit ihnen, wenn sie die Schule
verlassen und in die Welt eintreten, ein Urteil für die großen Fragen der
Gegenwart zu ermöglichen, das giebt auch dem Religionsunterrichte in den
oberen Klassen des Gymnasiums gerade heutzutage seine große Bedeutung.

Wie dieser Unterricht gestaltet sein müsse, das ist, wie gesagt, eine Frage
für sich. So viel steht fest, daß der, welcher ihn recht geben soll, nicht im
Sattel eines toten, archaistischen Systems sitzen darf; er würde damit nur ein
lahmes Roß vorreiten, was am wenigsten Eindruck macht bei jungen Leuten,
die sich die nächste Stunde schon im reinen Äther platonischer Schönheit oder
thukydideischer Wahrheitsstrenge baden. Der Lehrer für diesen Unterricht muß
einerseits in der Theologie historisch-kritisch gut geschult sein, um eine sichere und un¬
befangene Stellung gegenüber der heiligen Schrift und dem Bekenntnis behaupten
zu können, anderseits muß er die Höhe der philosophischen Bildung einnehmen,
die ihn zur Behandlung der höchsten Lebensfragen befähigt. Was den Unter¬
richt in diesem Fache besonders schwer macht, ist, daß die Stunde alles geben


Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Massen des Gymnasiums.

armselig zu halten; wir haben vielmehr einen ganz bestimmten Inhalt, dessen
Vergegenwärtigung allein das Leben wertvoll, dessen Mangel es allein elend
macht. In Gott leben, mit dem Herzen im Himmel sein und mit Kopf und
Händen auf Erde» schalten und walten, das ist es, was Menschenwerk segnet,
der Seele Freiheit bringt und ewigen Genuß. Denn hier giebt es keinen Tod.
Das Geheimnis des Sterbens wird offenbar als ein neues Werden, und damit
wird das Dunkel der Erde Licht. Im andern Falle gilt das Wort Goethes:


Und so lang du das nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunkeln Erde.

Das haben freilich schon die Alten in ihren edelsten Geistern gewußt. Was
Demokrit sagt: ^eov c/e ^c>,.^e^ «^rcw v^«»-?«^,
„es wird dich Gottes würdig machen, wenn du nichts seiner Unwürdiges thust,"
das könnte mit so mancher Stelle aus Plato oder Epiktet auch im Evangelium
stehen. Die Lehre ist da. Aber deu selbst, der „nichts Gottes Unwürdiges"
gethan hat, an dem, wie der Apostel es meint, „keine Sünde erfunden" ward,
diesen einen Freien und sittlich Vollendeten unter den Menschenkindern, durch
dessen von ihm ausgehende Geisteskraft auch wir frei werden können von den
Banden eines gottentfremdeten Lebens, den haben sie nicht gekannt. Sie haben
ihn nur ersehnt, so viele ihrer in der Selbsterkenntnis standen, und ihre höchsten
Geister, die Propheten unter den Juden und unter den Heiden, haben ihn ge¬
ahnt. Man vergleiche nur, was Plato im zweiten Buche seiner Republik von
dem Gerechten, dem ä/xo-to^ sagt.

Dies, diese Bedeutung des Christentums wie für alle, so auch für unsre
Zeit, in einer dem Bildungsstande der Klasse entsprechenden Weise den Schülern
des oberen Gymnasiums klar zu machen und damit ihnen, wenn sie die Schule
verlassen und in die Welt eintreten, ein Urteil für die großen Fragen der
Gegenwart zu ermöglichen, das giebt auch dem Religionsunterrichte in den
oberen Klassen des Gymnasiums gerade heutzutage seine große Bedeutung.

Wie dieser Unterricht gestaltet sein müsse, das ist, wie gesagt, eine Frage
für sich. So viel steht fest, daß der, welcher ihn recht geben soll, nicht im
Sattel eines toten, archaistischen Systems sitzen darf; er würde damit nur ein
lahmes Roß vorreiten, was am wenigsten Eindruck macht bei jungen Leuten,
die sich die nächste Stunde schon im reinen Äther platonischer Schönheit oder
thukydideischer Wahrheitsstrenge baden. Der Lehrer für diesen Unterricht muß
einerseits in der Theologie historisch-kritisch gut geschult sein, um eine sichere und un¬
befangene Stellung gegenüber der heiligen Schrift und dem Bekenntnis behaupten
zu können, anderseits muß er die Höhe der philosophischen Bildung einnehmen,
die ihn zur Behandlung der höchsten Lebensfragen befähigt. Was den Unter¬
richt in diesem Fache besonders schwer macht, ist, daß die Stunde alles geben


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[0419] Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Massen des Gymnasiums. armselig zu halten; wir haben vielmehr einen ganz bestimmten Inhalt, dessen Vergegenwärtigung allein das Leben wertvoll, dessen Mangel es allein elend macht. In Gott leben, mit dem Herzen im Himmel sein und mit Kopf und Händen auf Erde» schalten und walten, das ist es, was Menschenwerk segnet, der Seele Freiheit bringt und ewigen Genuß. Denn hier giebt es keinen Tod. Das Geheimnis des Sterbens wird offenbar als ein neues Werden, und damit wird das Dunkel der Erde Licht. Im andern Falle gilt das Wort Goethes: Und so lang du das nicht hast, Dieses Stirb und Werde, Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunkeln Erde. Das haben freilich schon die Alten in ihren edelsten Geistern gewußt. Was Demokrit sagt: ^eov c/e ^c>,.^e^ «^rcw v^«»-?«^, „es wird dich Gottes würdig machen, wenn du nichts seiner Unwürdiges thust," das könnte mit so mancher Stelle aus Plato oder Epiktet auch im Evangelium stehen. Die Lehre ist da. Aber deu selbst, der „nichts Gottes Unwürdiges" gethan hat, an dem, wie der Apostel es meint, „keine Sünde erfunden" ward, diesen einen Freien und sittlich Vollendeten unter den Menschenkindern, durch dessen von ihm ausgehende Geisteskraft auch wir frei werden können von den Banden eines gottentfremdeten Lebens, den haben sie nicht gekannt. Sie haben ihn nur ersehnt, so viele ihrer in der Selbsterkenntnis standen, und ihre höchsten Geister, die Propheten unter den Juden und unter den Heiden, haben ihn ge¬ ahnt. Man vergleiche nur, was Plato im zweiten Buche seiner Republik von dem Gerechten, dem ä/xo-to^ sagt. Dies, diese Bedeutung des Christentums wie für alle, so auch für unsre Zeit, in einer dem Bildungsstande der Klasse entsprechenden Weise den Schülern des oberen Gymnasiums klar zu machen und damit ihnen, wenn sie die Schule verlassen und in die Welt eintreten, ein Urteil für die großen Fragen der Gegenwart zu ermöglichen, das giebt auch dem Religionsunterrichte in den oberen Klassen des Gymnasiums gerade heutzutage seine große Bedeutung. Wie dieser Unterricht gestaltet sein müsse, das ist, wie gesagt, eine Frage für sich. So viel steht fest, daß der, welcher ihn recht geben soll, nicht im Sattel eines toten, archaistischen Systems sitzen darf; er würde damit nur ein lahmes Roß vorreiten, was am wenigsten Eindruck macht bei jungen Leuten, die sich die nächste Stunde schon im reinen Äther platonischer Schönheit oder thukydideischer Wahrheitsstrenge baden. Der Lehrer für diesen Unterricht muß einerseits in der Theologie historisch-kritisch gut geschult sein, um eine sichere und un¬ befangene Stellung gegenüber der heiligen Schrift und dem Bekenntnis behaupten zu können, anderseits muß er die Höhe der philosophischen Bildung einnehmen, die ihn zur Behandlung der höchsten Lebensfragen befähigt. Was den Unter¬ richt in diesem Fache besonders schwer macht, ist, daß die Stunde alles geben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/419>, abgerufen am 23.07.2024.