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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums.

achtet. Denn auch das letztere thut er. Ich ging einmal, ehe das Sozialisten¬
gesetz die Wut der Geister gebändigt hatte, ich glaube, es war im Jahre 1873,
an einem Bau vorüber, um meine Schulstunde, griechische Formenlehre, zu
geben. Da wollte eben ein Steinträger mit seiner Schicht Ziegelsteine die
Leiter betreten; das Gesicht voll Verbissenheit nach mir gewendet sprach er laut:
"Vieharbeit!" Gewiß wollte er mir, dem Lehrer mit den Büchern unter dem
Arme, zu verstehen geben, welch großer, nicht von Gerechtigkeit in der gesell¬
schaftlichen Ordnung zeugender und darum zu beseitigender Unterschied zwischen
meiner und seiner Thätigkeit sei. Ob der Mann Wohl nicht zufriedener gewesen
wäre, wenn er begriffen hätte, daß es der Sinn ist, der die Arbeit adelt, und
daß mit dem entsprechenden Sinne auch das Steinetragen eine edle Arbeit,
umgekehrt auch die griechische Formenlehre, ja auch Homer und Sophokles
"Vieharbeit" werden kann! Wer diesen Sinn hat, nach protestantisch-evangelischer
Lehre kann ich auch sagen: wer den Glauben hat, der darf auch in jedem Beruf
und bei jeder Arbeit "den Trotz behalten," wie Luther sagt, und soll wissen,
"daß die noch so heiligen . . . Werke der Mönche und Priester in den Augen
Gottes gar nicht höher stehen als die Werke eines auf dem Felde arbeitenden
Bauern oder einer in ihrem Hause arbeitenden, sorgenden Frau, sondern daß
bei ihm alles nur nach dem Glauben gemessen wird." (Luther, Von der baby¬
lonischen Gefangenschaft der Kirche.) Diesen, alle Arbeit adelnden und den
Menschen erst beglückenden Sinn giebt allein das Evangelium, den Sinn, zu
welchem der Apostel die Korinther auffordert mit dem Worte: "Mnrret nicht,
gleichwie jener etliche murrten," und den Jesus selbst verlangt, wenn er zu
den Mühseligen und Beladenen sagt: "Nehmet auf euch mein Joch und lernet
von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr
Ruhe finden für eure Seelen." Es giebt also keinen beliebigen Weg durch
diese Welt.

Es giebt auch keine beliebige Wahrheit, das Wort in seiner höchsten, uns
über Gott und das eigne Menschenwesen aufklärenden Bedeutung genommen;
da giebt es keine beliebige Wahrheit, etwa des oder jenes philosophischen
Systems, des oder jenes sozialistischen Schriftstellers und Zeitungsliteraten,
sondern die eine Wahrheit, daß "Gott war in Christo," d. h., wenn wir wissen
wollen, was Gottes Wesen ist, sein Wille, seine Stellung zu uns, sein Nat-
schlvß mit uns, den von ihm Getrennten und doch zu ihm Bestimmter, so müssen
wir uns zu den Füßen dessen setzen und in sein Angesicht schauen, von dem
das Johannesevangclium, dieses Evangelium, das, mag es verfaßt sein von wem
es will, dem Bewußtsein der Erlösten seinen angemessenen Ausdruck giebt, den
Satz aussagt: "In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen."

Und auch vom Leben haben wir uns nicht diesen oder jenen beliebigen Be¬
griff zu machen, dies oder jenes Leben für gut und wertvoll oder für elend und


Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums.

achtet. Denn auch das letztere thut er. Ich ging einmal, ehe das Sozialisten¬
gesetz die Wut der Geister gebändigt hatte, ich glaube, es war im Jahre 1873,
an einem Bau vorüber, um meine Schulstunde, griechische Formenlehre, zu
geben. Da wollte eben ein Steinträger mit seiner Schicht Ziegelsteine die
Leiter betreten; das Gesicht voll Verbissenheit nach mir gewendet sprach er laut:
„Vieharbeit!" Gewiß wollte er mir, dem Lehrer mit den Büchern unter dem
Arme, zu verstehen geben, welch großer, nicht von Gerechtigkeit in der gesell¬
schaftlichen Ordnung zeugender und darum zu beseitigender Unterschied zwischen
meiner und seiner Thätigkeit sei. Ob der Mann Wohl nicht zufriedener gewesen
wäre, wenn er begriffen hätte, daß es der Sinn ist, der die Arbeit adelt, und
daß mit dem entsprechenden Sinne auch das Steinetragen eine edle Arbeit,
umgekehrt auch die griechische Formenlehre, ja auch Homer und Sophokles
„Vieharbeit" werden kann! Wer diesen Sinn hat, nach protestantisch-evangelischer
Lehre kann ich auch sagen: wer den Glauben hat, der darf auch in jedem Beruf
und bei jeder Arbeit „den Trotz behalten," wie Luther sagt, und soll wissen,
„daß die noch so heiligen . . . Werke der Mönche und Priester in den Augen
Gottes gar nicht höher stehen als die Werke eines auf dem Felde arbeitenden
Bauern oder einer in ihrem Hause arbeitenden, sorgenden Frau, sondern daß
bei ihm alles nur nach dem Glauben gemessen wird." (Luther, Von der baby¬
lonischen Gefangenschaft der Kirche.) Diesen, alle Arbeit adelnden und den
Menschen erst beglückenden Sinn giebt allein das Evangelium, den Sinn, zu
welchem der Apostel die Korinther auffordert mit dem Worte: „Mnrret nicht,
gleichwie jener etliche murrten," und den Jesus selbst verlangt, wenn er zu
den Mühseligen und Beladenen sagt: „Nehmet auf euch mein Joch und lernet
von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr
Ruhe finden für eure Seelen." Es giebt also keinen beliebigen Weg durch
diese Welt.

Es giebt auch keine beliebige Wahrheit, das Wort in seiner höchsten, uns
über Gott und das eigne Menschenwesen aufklärenden Bedeutung genommen;
da giebt es keine beliebige Wahrheit, etwa des oder jenes philosophischen
Systems, des oder jenes sozialistischen Schriftstellers und Zeitungsliteraten,
sondern die eine Wahrheit, daß „Gott war in Christo," d. h., wenn wir wissen
wollen, was Gottes Wesen ist, sein Wille, seine Stellung zu uns, sein Nat-
schlvß mit uns, den von ihm Getrennten und doch zu ihm Bestimmter, so müssen
wir uns zu den Füßen dessen setzen und in sein Angesicht schauen, von dem
das Johannesevangclium, dieses Evangelium, das, mag es verfaßt sein von wem
es will, dem Bewußtsein der Erlösten seinen angemessenen Ausdruck giebt, den
Satz aussagt: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen."

Und auch vom Leben haben wir uns nicht diesen oder jenen beliebigen Be¬
griff zu machen, dies oder jenes Leben für gut und wertvoll oder für elend und


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[0418] Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums. achtet. Denn auch das letztere thut er. Ich ging einmal, ehe das Sozialisten¬ gesetz die Wut der Geister gebändigt hatte, ich glaube, es war im Jahre 1873, an einem Bau vorüber, um meine Schulstunde, griechische Formenlehre, zu geben. Da wollte eben ein Steinträger mit seiner Schicht Ziegelsteine die Leiter betreten; das Gesicht voll Verbissenheit nach mir gewendet sprach er laut: „Vieharbeit!" Gewiß wollte er mir, dem Lehrer mit den Büchern unter dem Arme, zu verstehen geben, welch großer, nicht von Gerechtigkeit in der gesell¬ schaftlichen Ordnung zeugender und darum zu beseitigender Unterschied zwischen meiner und seiner Thätigkeit sei. Ob der Mann Wohl nicht zufriedener gewesen wäre, wenn er begriffen hätte, daß es der Sinn ist, der die Arbeit adelt, und daß mit dem entsprechenden Sinne auch das Steinetragen eine edle Arbeit, umgekehrt auch die griechische Formenlehre, ja auch Homer und Sophokles „Vieharbeit" werden kann! Wer diesen Sinn hat, nach protestantisch-evangelischer Lehre kann ich auch sagen: wer den Glauben hat, der darf auch in jedem Beruf und bei jeder Arbeit „den Trotz behalten," wie Luther sagt, und soll wissen, „daß die noch so heiligen . . . Werke der Mönche und Priester in den Augen Gottes gar nicht höher stehen als die Werke eines auf dem Felde arbeitenden Bauern oder einer in ihrem Hause arbeitenden, sorgenden Frau, sondern daß bei ihm alles nur nach dem Glauben gemessen wird." (Luther, Von der baby¬ lonischen Gefangenschaft der Kirche.) Diesen, alle Arbeit adelnden und den Menschen erst beglückenden Sinn giebt allein das Evangelium, den Sinn, zu welchem der Apostel die Korinther auffordert mit dem Worte: „Mnrret nicht, gleichwie jener etliche murrten," und den Jesus selbst verlangt, wenn er zu den Mühseligen und Beladenen sagt: „Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen." Es giebt also keinen beliebigen Weg durch diese Welt. Es giebt auch keine beliebige Wahrheit, das Wort in seiner höchsten, uns über Gott und das eigne Menschenwesen aufklärenden Bedeutung genommen; da giebt es keine beliebige Wahrheit, etwa des oder jenes philosophischen Systems, des oder jenes sozialistischen Schriftstellers und Zeitungsliteraten, sondern die eine Wahrheit, daß „Gott war in Christo," d. h., wenn wir wissen wollen, was Gottes Wesen ist, sein Wille, seine Stellung zu uns, sein Nat- schlvß mit uns, den von ihm Getrennten und doch zu ihm Bestimmter, so müssen wir uns zu den Füßen dessen setzen und in sein Angesicht schauen, von dem das Johannesevangclium, dieses Evangelium, das, mag es verfaßt sein von wem es will, dem Bewußtsein der Erlösten seinen angemessenen Ausdruck giebt, den Satz aussagt: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen." Und auch vom Leben haben wir uns nicht diesen oder jenen beliebigen Be¬ griff zu machen, dies oder jenes Leben für gut und wertvoll oder für elend und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/418>, abgerufen am 23.07.2024.