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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik^des Naturalismus.

Doktor der Philosophie, der bei Dubois-Reymond in Berlin und bei Haeckel
in Jena gründlichst Naturwissenschaft studirt hat.

Denn, um gleich das letzte zu sagen, auch dieser formvolle und scheinbar
besonnene Vorfechter einer realistischen Ästhetik bedient sich des alten Kunstgriffs,
den Dichter zu treffen, indem man seinen Narren, den hohlen Dichterling, an
seiner Statt dem Publikum borführt. Wenn Herr Bölsche ausruft: "Eine echte
realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, 's ist eine harte Arbeit. Einen
Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum
Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, daß er imstande ist, uns zu
interessiren aus mehr als einem Gesichtspunkte, das ist zugleich das Höchste
und das Schwerste, was der Genius schaffen kann," wer wird ihm widersprechen
wollen? Die echte Dichtung, die wahre Menschenschöpfung, das literarische
Kunstwerk waren nie ein Scherz, der wahre Dichter, nicht bloß der große, sondern
jeder wirkliche, der wahren dramatischen oder epischen Darstellung fähige Dichter
hat den Ernst der Arbeit erfahren. Was Herr Bölsche "die ungeheure Masse
der kleinen Dichter" nennt, ist der Hauptsache nach die Masse der Dilettanten,
der bloßen Nachstammler vorgestammelter Phrasen, der überlieferten Wieder¬
holung abgestandener Redensarten. Was geht das die Literatur im höheren
Sinne an? Und glaubt unser Realist wirklich, die Herren würden verschwinden,
wenn die Poesie in seinem Sinne umgestaltet wäre? So viel sich jetzt über¬
sehen läßt, würde an die Stelle einer blöden, verhältnismäßig aber harmlosen
Wiederküuuug für poetisch geltender Situationen und Phrasen eine blöde und
unter Umständen gefährliche Wiederholung für realistisch geltender häßlicher
Situationen und halbverstandener Kraftworte aus dem anatomisch-physiologischen
Lexikon treten.

Wie dem auch sei: wir Protestiren aufs schärfste wider Gegenüberstellungen
wie die folgende: "Der stillvergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von
Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kennt¬
nisse davon, welcher Riesenarbeit sich der dichtende Genius unterzieht, der im
treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im ge¬
bräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt." Der also verherrlichte
naturalistische Poet steht in Wahrheit nicht dem harmlos pfeifenden Minnelyriker
gegenüber, sondern dem lebendigen, schaffenden Dichter, der aber die Freude am
jungen Leben, den "Trieb nach Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben
des Zuerkannten" noch nicht verachten gelernt hat, weil er nicht roh sensationell ist.
Mit dem Wahrheitsdrange des Dichters, der tief ins Leben eindringen, aus
dem Leben herausschaffen will, hat die rohe Effektlust, welche die Gier nach
dem um jeden Preis Neuen, und dabei doch nur scheinbar Neuen, befriedigen
will, nichts, gar nichts zu schaffen. Wir Protestiren ferner gegen die falschen
Konsequenzen, die der Herr Verfasser der "Prolegomena" aus an sich richtigen
Prämissen zieht. Wenn er dem Publikum erzählt, daß die Dichter den Begriff


Grenzboten III. 1887. 43
Zur Ästhetik^des Naturalismus.

Doktor der Philosophie, der bei Dubois-Reymond in Berlin und bei Haeckel
in Jena gründlichst Naturwissenschaft studirt hat.

Denn, um gleich das letzte zu sagen, auch dieser formvolle und scheinbar
besonnene Vorfechter einer realistischen Ästhetik bedient sich des alten Kunstgriffs,
den Dichter zu treffen, indem man seinen Narren, den hohlen Dichterling, an
seiner Statt dem Publikum borführt. Wenn Herr Bölsche ausruft: „Eine echte
realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, 's ist eine harte Arbeit. Einen
Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum
Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, daß er imstande ist, uns zu
interessiren aus mehr als einem Gesichtspunkte, das ist zugleich das Höchste
und das Schwerste, was der Genius schaffen kann," wer wird ihm widersprechen
wollen? Die echte Dichtung, die wahre Menschenschöpfung, das literarische
Kunstwerk waren nie ein Scherz, der wahre Dichter, nicht bloß der große, sondern
jeder wirkliche, der wahren dramatischen oder epischen Darstellung fähige Dichter
hat den Ernst der Arbeit erfahren. Was Herr Bölsche „die ungeheure Masse
der kleinen Dichter" nennt, ist der Hauptsache nach die Masse der Dilettanten,
der bloßen Nachstammler vorgestammelter Phrasen, der überlieferten Wieder¬
holung abgestandener Redensarten. Was geht das die Literatur im höheren
Sinne an? Und glaubt unser Realist wirklich, die Herren würden verschwinden,
wenn die Poesie in seinem Sinne umgestaltet wäre? So viel sich jetzt über¬
sehen läßt, würde an die Stelle einer blöden, verhältnismäßig aber harmlosen
Wiederküuuug für poetisch geltender Situationen und Phrasen eine blöde und
unter Umständen gefährliche Wiederholung für realistisch geltender häßlicher
Situationen und halbverstandener Kraftworte aus dem anatomisch-physiologischen
Lexikon treten.

Wie dem auch sei: wir Protestiren aufs schärfste wider Gegenüberstellungen
wie die folgende: „Der stillvergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von
Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kennt¬
nisse davon, welcher Riesenarbeit sich der dichtende Genius unterzieht, der im
treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im ge¬
bräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt." Der also verherrlichte
naturalistische Poet steht in Wahrheit nicht dem harmlos pfeifenden Minnelyriker
gegenüber, sondern dem lebendigen, schaffenden Dichter, der aber die Freude am
jungen Leben, den „Trieb nach Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben
des Zuerkannten" noch nicht verachten gelernt hat, weil er nicht roh sensationell ist.
Mit dem Wahrheitsdrange des Dichters, der tief ins Leben eindringen, aus
dem Leben herausschaffen will, hat die rohe Effektlust, welche die Gier nach
dem um jeden Preis Neuen, und dabei doch nur scheinbar Neuen, befriedigen
will, nichts, gar nichts zu schaffen. Wir Protestiren ferner gegen die falschen
Konsequenzen, die der Herr Verfasser der „Prolegomena" aus an sich richtigen
Prämissen zieht. Wenn er dem Publikum erzählt, daß die Dichter den Begriff


Grenzboten III. 1887. 43
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[0385] Zur Ästhetik^des Naturalismus. Doktor der Philosophie, der bei Dubois-Reymond in Berlin und bei Haeckel in Jena gründlichst Naturwissenschaft studirt hat. Denn, um gleich das letzte zu sagen, auch dieser formvolle und scheinbar besonnene Vorfechter einer realistischen Ästhetik bedient sich des alten Kunstgriffs, den Dichter zu treffen, indem man seinen Narren, den hohlen Dichterling, an seiner Statt dem Publikum borführt. Wenn Herr Bölsche ausruft: „Eine echte realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, 's ist eine harte Arbeit. Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, daß er imstande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspunkte, das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann," wer wird ihm widersprechen wollen? Die echte Dichtung, die wahre Menschenschöpfung, das literarische Kunstwerk waren nie ein Scherz, der wahre Dichter, nicht bloß der große, sondern jeder wirkliche, der wahren dramatischen oder epischen Darstellung fähige Dichter hat den Ernst der Arbeit erfahren. Was Herr Bölsche „die ungeheure Masse der kleinen Dichter" nennt, ist der Hauptsache nach die Masse der Dilettanten, der bloßen Nachstammler vorgestammelter Phrasen, der überlieferten Wieder¬ holung abgestandener Redensarten. Was geht das die Literatur im höheren Sinne an? Und glaubt unser Realist wirklich, die Herren würden verschwinden, wenn die Poesie in seinem Sinne umgestaltet wäre? So viel sich jetzt über¬ sehen läßt, würde an die Stelle einer blöden, verhältnismäßig aber harmlosen Wiederküuuug für poetisch geltender Situationen und Phrasen eine blöde und unter Umständen gefährliche Wiederholung für realistisch geltender häßlicher Situationen und halbverstandener Kraftworte aus dem anatomisch-physiologischen Lexikon treten. Wie dem auch sei: wir Protestiren aufs schärfste wider Gegenüberstellungen wie die folgende: „Der stillvergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kennt¬ nisse davon, welcher Riesenarbeit sich der dichtende Genius unterzieht, der im treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im ge¬ bräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt." Der also verherrlichte naturalistische Poet steht in Wahrheit nicht dem harmlos pfeifenden Minnelyriker gegenüber, sondern dem lebendigen, schaffenden Dichter, der aber die Freude am jungen Leben, den „Trieb nach Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben des Zuerkannten" noch nicht verachten gelernt hat, weil er nicht roh sensationell ist. Mit dem Wahrheitsdrange des Dichters, der tief ins Leben eindringen, aus dem Leben herausschaffen will, hat die rohe Effektlust, welche die Gier nach dem um jeden Preis Neuen, und dabei doch nur scheinbar Neuen, befriedigen will, nichts, gar nichts zu schaffen. Wir Protestiren ferner gegen die falschen Konsequenzen, die der Herr Verfasser der „Prolegomena" aus an sich richtigen Prämissen zieht. Wenn er dem Publikum erzählt, daß die Dichter den Begriff Grenzboten III. 1887. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/385>, abgerufen am 23.07.2024.