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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

worden, jedenfalls hat die moderne Wissenschaft Dinge ergründet, von denen
Shakespeare und Goethe vielleicht etwas geahnt, sicher nichts "gewußt" haben.
Der Verfasser folgert daraus fröhlich, daß die Wissenschaft vorangegangen, die
Literatur zurückgeblieben sei. Obgleich er weiß, daß das poetische Talent von
der wissenschaftlichen Begabung so charakteristisch verschieden ist, daß, wenn sich
beide Anlagen in ein und derselben Menschennatur vorfinden, die geistige Arbeit
beider eine so getrennte sein muß, als die Ergebnisse verschiedne sind, obgleich
er zugesteht, daß in all den Dingen, welche dem Dichter nützen können, die
moderne Naturwissenschaft der Dichtung noch herzlich wenig geboten hat, ob¬
gleich er wissen müßte, daß beinahe jedes Drama und jeder Roman wirklich
gestaltungskräftiger Dichtung, uach den strengsten Forderungen seiner natur¬
wissenschaftlichen realistischen Ästhetik durchkorrigirt, nur gewisse einzelne Züge,
einzelne Sätze verlieren könnte, obgleich er nicht verschweigt, daß die wissen¬
schaftliche Psychologie und Physiologie durch Gründe, die jedermann kennt, ge¬
zwungen sind, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen,
sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie decken und die psychia¬
trischen und pathologischen Gaben an die Dichtung selbst für Danaergeschenke
erklärt, zieht er frischweg gegen das zu Felde, was er idealistische Poesie tauft
und was in neun Füllen unter zehn lebendiger, natürlicher, gesetzmäßiger, also
dem, womit die Poesie am meisten zu thun hat, entsprechender ist, als jene
äußersten Krankheitsfälle, welche die Wissenschaft wohlweislich als äußerste Kon¬
sequenzen, als seltene, abnorme Erscheinungen betrachtet und bespricht und welche
durch die neueste naturalistische Dichtung mit einemmale zu Typen des Mensch¬
lichen gemacht werden sollen. Er selbst räumt ein, daß durch die Welt, die
Natur wie ein roter Faden "der fortwirkende Hang zum Glück und zur Ge¬
sundheit" hindurchgeht, "an allem Vorhandenen haftet"; mit dieser unbestrittenen
Wahrheit aber ist die Poesie gerechtfertigt, welche diesem fortwirkenden Hange
folgt und auf ihre uralten Gerechtsame, Menschenglück und -Leid unmittelbar nach
lebendigen Eindrücken darzustellen, nicht verzichtet. Daß sie bei innerlich wahr¬
hafter Darstellung, der lebendige Anschauung und lebendige Empfindung zu
Grunde liegt, mit den wahren Erkenntnissen der Naturwissenschaft gar nicht in
Widerspruch geraten kann, ist für uns ebenso gewiß, als daß sie, mit aller ge¬
bührenden Hochachtung vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, tausend
Dinge nicht brauchen kann, welche für die Wissenschaft sehr wichtig sind. Wenn
der Verfasser der "Prolegomena" sagt, daß Wasser für jeden vernünftigen Menschen
"das Produkt zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, bleibt,"
so hat er natürlich Recht. Aber er soll erst beweisen, welcher Unterschied sich
für die dichterische Darstellung der Erquickung eines brennend Durstigen nach
langer Wanderung daraus ergiebt, daß an dem einen Quell ein verschmachtender
Mensch trinkt, der nie eine Ahnung davon hatte, daß man das Wasser noch
wieder in seine Elemente teilt, und am andern Quell ein verschmachtender junger

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

worden, jedenfalls hat die moderne Wissenschaft Dinge ergründet, von denen
Shakespeare und Goethe vielleicht etwas geahnt, sicher nichts „gewußt" haben.
Der Verfasser folgert daraus fröhlich, daß die Wissenschaft vorangegangen, die
Literatur zurückgeblieben sei. Obgleich er weiß, daß das poetische Talent von
der wissenschaftlichen Begabung so charakteristisch verschieden ist, daß, wenn sich
beide Anlagen in ein und derselben Menschennatur vorfinden, die geistige Arbeit
beider eine so getrennte sein muß, als die Ergebnisse verschiedne sind, obgleich
er zugesteht, daß in all den Dingen, welche dem Dichter nützen können, die
moderne Naturwissenschaft der Dichtung noch herzlich wenig geboten hat, ob¬
gleich er wissen müßte, daß beinahe jedes Drama und jeder Roman wirklich
gestaltungskräftiger Dichtung, uach den strengsten Forderungen seiner natur¬
wissenschaftlichen realistischen Ästhetik durchkorrigirt, nur gewisse einzelne Züge,
einzelne Sätze verlieren könnte, obgleich er nicht verschweigt, daß die wissen¬
schaftliche Psychologie und Physiologie durch Gründe, die jedermann kennt, ge¬
zwungen sind, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen,
sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie decken und die psychia¬
trischen und pathologischen Gaben an die Dichtung selbst für Danaergeschenke
erklärt, zieht er frischweg gegen das zu Felde, was er idealistische Poesie tauft
und was in neun Füllen unter zehn lebendiger, natürlicher, gesetzmäßiger, also
dem, womit die Poesie am meisten zu thun hat, entsprechender ist, als jene
äußersten Krankheitsfälle, welche die Wissenschaft wohlweislich als äußerste Kon¬
sequenzen, als seltene, abnorme Erscheinungen betrachtet und bespricht und welche
durch die neueste naturalistische Dichtung mit einemmale zu Typen des Mensch¬
lichen gemacht werden sollen. Er selbst räumt ein, daß durch die Welt, die
Natur wie ein roter Faden „der fortwirkende Hang zum Glück und zur Ge¬
sundheit" hindurchgeht, „an allem Vorhandenen haftet"; mit dieser unbestrittenen
Wahrheit aber ist die Poesie gerechtfertigt, welche diesem fortwirkenden Hange
folgt und auf ihre uralten Gerechtsame, Menschenglück und -Leid unmittelbar nach
lebendigen Eindrücken darzustellen, nicht verzichtet. Daß sie bei innerlich wahr¬
hafter Darstellung, der lebendige Anschauung und lebendige Empfindung zu
Grunde liegt, mit den wahren Erkenntnissen der Naturwissenschaft gar nicht in
Widerspruch geraten kann, ist für uns ebenso gewiß, als daß sie, mit aller ge¬
bührenden Hochachtung vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, tausend
Dinge nicht brauchen kann, welche für die Wissenschaft sehr wichtig sind. Wenn
der Verfasser der „Prolegomena" sagt, daß Wasser für jeden vernünftigen Menschen
„das Produkt zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, bleibt,"
so hat er natürlich Recht. Aber er soll erst beweisen, welcher Unterschied sich
für die dichterische Darstellung der Erquickung eines brennend Durstigen nach
langer Wanderung daraus ergiebt, daß an dem einen Quell ein verschmachtender
Mensch trinkt, der nie eine Ahnung davon hatte, daß man das Wasser noch
wieder in seine Elemente teilt, und am andern Quell ein verschmachtender junger

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[0384] Zur Ästhetik des Naturalismus. worden, jedenfalls hat die moderne Wissenschaft Dinge ergründet, von denen Shakespeare und Goethe vielleicht etwas geahnt, sicher nichts „gewußt" haben. Der Verfasser folgert daraus fröhlich, daß die Wissenschaft vorangegangen, die Literatur zurückgeblieben sei. Obgleich er weiß, daß das poetische Talent von der wissenschaftlichen Begabung so charakteristisch verschieden ist, daß, wenn sich beide Anlagen in ein und derselben Menschennatur vorfinden, die geistige Arbeit beider eine so getrennte sein muß, als die Ergebnisse verschiedne sind, obgleich er zugesteht, daß in all den Dingen, welche dem Dichter nützen können, die moderne Naturwissenschaft der Dichtung noch herzlich wenig geboten hat, ob¬ gleich er wissen müßte, daß beinahe jedes Drama und jeder Roman wirklich gestaltungskräftiger Dichtung, uach den strengsten Forderungen seiner natur¬ wissenschaftlichen realistischen Ästhetik durchkorrigirt, nur gewisse einzelne Züge, einzelne Sätze verlieren könnte, obgleich er nicht verschweigt, daß die wissen¬ schaftliche Psychologie und Physiologie durch Gründe, die jedermann kennt, ge¬ zwungen sind, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen, sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie decken und die psychia¬ trischen und pathologischen Gaben an die Dichtung selbst für Danaergeschenke erklärt, zieht er frischweg gegen das zu Felde, was er idealistische Poesie tauft und was in neun Füllen unter zehn lebendiger, natürlicher, gesetzmäßiger, also dem, womit die Poesie am meisten zu thun hat, entsprechender ist, als jene äußersten Krankheitsfälle, welche die Wissenschaft wohlweislich als äußerste Kon¬ sequenzen, als seltene, abnorme Erscheinungen betrachtet und bespricht und welche durch die neueste naturalistische Dichtung mit einemmale zu Typen des Mensch¬ lichen gemacht werden sollen. Er selbst räumt ein, daß durch die Welt, die Natur wie ein roter Faden „der fortwirkende Hang zum Glück und zur Ge¬ sundheit" hindurchgeht, „an allem Vorhandenen haftet"; mit dieser unbestrittenen Wahrheit aber ist die Poesie gerechtfertigt, welche diesem fortwirkenden Hange folgt und auf ihre uralten Gerechtsame, Menschenglück und -Leid unmittelbar nach lebendigen Eindrücken darzustellen, nicht verzichtet. Daß sie bei innerlich wahr¬ hafter Darstellung, der lebendige Anschauung und lebendige Empfindung zu Grunde liegt, mit den wahren Erkenntnissen der Naturwissenschaft gar nicht in Widerspruch geraten kann, ist für uns ebenso gewiß, als daß sie, mit aller ge¬ bührenden Hochachtung vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, tausend Dinge nicht brauchen kann, welche für die Wissenschaft sehr wichtig sind. Wenn der Verfasser der „Prolegomena" sagt, daß Wasser für jeden vernünftigen Menschen „das Produkt zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, bleibt," so hat er natürlich Recht. Aber er soll erst beweisen, welcher Unterschied sich für die dichterische Darstellung der Erquickung eines brennend Durstigen nach langer Wanderung daraus ergiebt, daß an dem einen Quell ein verschmachtender Mensch trinkt, der nie eine Ahnung davon hatte, daß man das Wasser noch wieder in seine Elemente teilt, und am andern Quell ein verschmachtender junger /

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/384>, abgerufen am 23.07.2024.