Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die Kindererziehung unentbehrlich sei? Ich glaube im Sinne von taufenden
gebildeter christlicher Eltern zu sprechen, wenn ich vielmehr behaupte, daß hier
der Weizen mit einer ganz ungebührlichen Menge von Spreu belastet ist, und
daß es ein Segen für die Kinder wie eine Herzeuserleichterung für die Eltern
wäre, wenn man sich endlich dazu entschließen könnte, solche Unterrichtsbücher
einer gründlichen Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen, wobei alles aus¬
zumerzen wäre, was nicht zur Bildung des Kindes in geschichtlicher, religiöser
oder sittlicher Richtung beiträgt. Für den Nest würde sich dann freilich dringend
eine Form empfehlen, welche sich nicht nur durch die neue Orthographie, sondern
im ganzen sprachlichen Ausdruck, in Grammatik und Satzbildung mehr als jetzt
der im übrigen Leben anerkannten Denk- und Sprechweise näherte, sodaß nicht
mehr eine eben der biblischen Geschichte entnommene Konstruktion in dem
darauf folgenden deutschen Unterrichte als Fehler gerügt zu werden brauchte.
Oder meint man, auch an diesem Widerspruche im kirchlichen Interesse festhalten
zu müssen? Wie die Dinge jetzt liegen, bleiben die biblischen Geschichten den
Kindern seitenlang ein völlig unverstandenes und unverständliches Gedächtnis¬
werk. Bei der öffentlichen Prüfung wissen sie freilich auf bestimmte Fragen
des Lehrers die ihnen in den Mund gelegte Antwort zu geben. Daheim aber
merken die Eltern, wie die Sache steht. Der Junge soll das Kapitel "Abra¬
hams Berufung" durchlesen und am nächsten Tage in der Klasse erzählen
können. Er kommt zum Überhöre" zu mir und erzählt, ist aber nicht imstande,
mit seinen eignen Worten zu erzählen, sondern verfällt ungeachtet wiederholter
Mahnungen immer wieder in ein wörtliches Aussagen des Gelesenen. Er
lernt eben leichter und lieber seitenlang auswendig, als daß er den Inhalt sich
so zu eigen machte, daß er ihn wiedergeben könnte wie irgend eine andre Ge¬
schichte aus seinem Lesebuch.

Das einfache Gefühl sträubt sich dermaßen gegen diese ganze Art des
Unterrichts, daß von der Beaufsichtigung der häuslichen Arbeiten die biblischen
Geschichten der unerquicklichste Teil bleiben, welchen die Eltern sich am liebsten
gegenseitig zuschieben, wenn nicht ganz abwälzen möchten. Die Lehrer denken
zum Teil ähnlich. In dem genannten Buche, welches eigens für die betreffende
Klasse bestimmt ist, klammern sie einzelne Stellen und anstößige Ausdrücke mit
Bleistift ein, wodurch sie doch stillschweigend zugeben, daß das gar nicht erst
hätte gedruckt werden sollen. Aber wie lange kann solches Feigenblatt für
Kinderaugen undurchsichtig bleiben? Lehrer, mit denen ich darüber sprach,
sagten mir achselzuckend, sie selbst wären in einer Zwangslage, das Provinzial-
schulkollegium wache mit Strenge über dem starren Festhalten an der gegebenen
Norm. Dich also, hohes Provinzialschulkollegium, bitten wir in dem drückenden
Gefühl einer gewissen Vergewaltigung inständigst, Fühlung zu gewinnen mit
der ehrlichen Anschauung so vieler Eltern, die doch auch, sozusagen, Menschen
sind und gern etwas mehr Einfluß auf die Ausbildung ihrer Kinder haben


Grenzboten III. 1837. 47

die Kindererziehung unentbehrlich sei? Ich glaube im Sinne von taufenden
gebildeter christlicher Eltern zu sprechen, wenn ich vielmehr behaupte, daß hier
der Weizen mit einer ganz ungebührlichen Menge von Spreu belastet ist, und
daß es ein Segen für die Kinder wie eine Herzeuserleichterung für die Eltern
wäre, wenn man sich endlich dazu entschließen könnte, solche Unterrichtsbücher
einer gründlichen Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen, wobei alles aus¬
zumerzen wäre, was nicht zur Bildung des Kindes in geschichtlicher, religiöser
oder sittlicher Richtung beiträgt. Für den Nest würde sich dann freilich dringend
eine Form empfehlen, welche sich nicht nur durch die neue Orthographie, sondern
im ganzen sprachlichen Ausdruck, in Grammatik und Satzbildung mehr als jetzt
der im übrigen Leben anerkannten Denk- und Sprechweise näherte, sodaß nicht
mehr eine eben der biblischen Geschichte entnommene Konstruktion in dem
darauf folgenden deutschen Unterrichte als Fehler gerügt zu werden brauchte.
Oder meint man, auch an diesem Widerspruche im kirchlichen Interesse festhalten
zu müssen? Wie die Dinge jetzt liegen, bleiben die biblischen Geschichten den
Kindern seitenlang ein völlig unverstandenes und unverständliches Gedächtnis¬
werk. Bei der öffentlichen Prüfung wissen sie freilich auf bestimmte Fragen
des Lehrers die ihnen in den Mund gelegte Antwort zu geben. Daheim aber
merken die Eltern, wie die Sache steht. Der Junge soll das Kapitel „Abra¬
hams Berufung" durchlesen und am nächsten Tage in der Klasse erzählen
können. Er kommt zum Überhöre» zu mir und erzählt, ist aber nicht imstande,
mit seinen eignen Worten zu erzählen, sondern verfällt ungeachtet wiederholter
Mahnungen immer wieder in ein wörtliches Aussagen des Gelesenen. Er
lernt eben leichter und lieber seitenlang auswendig, als daß er den Inhalt sich
so zu eigen machte, daß er ihn wiedergeben könnte wie irgend eine andre Ge¬
schichte aus seinem Lesebuch.

Das einfache Gefühl sträubt sich dermaßen gegen diese ganze Art des
Unterrichts, daß von der Beaufsichtigung der häuslichen Arbeiten die biblischen
Geschichten der unerquicklichste Teil bleiben, welchen die Eltern sich am liebsten
gegenseitig zuschieben, wenn nicht ganz abwälzen möchten. Die Lehrer denken
zum Teil ähnlich. In dem genannten Buche, welches eigens für die betreffende
Klasse bestimmt ist, klammern sie einzelne Stellen und anstößige Ausdrücke mit
Bleistift ein, wodurch sie doch stillschweigend zugeben, daß das gar nicht erst
hätte gedruckt werden sollen. Aber wie lange kann solches Feigenblatt für
Kinderaugen undurchsichtig bleiben? Lehrer, mit denen ich darüber sprach,
sagten mir achselzuckend, sie selbst wären in einer Zwangslage, das Provinzial-
schulkollegium wache mit Strenge über dem starren Festhalten an der gegebenen
Norm. Dich also, hohes Provinzialschulkollegium, bitten wir in dem drückenden
Gefühl einer gewissen Vergewaltigung inständigst, Fühlung zu gewinnen mit
der ehrlichen Anschauung so vieler Eltern, die doch auch, sozusagen, Menschen
sind und gern etwas mehr Einfluß auf die Ausbildung ihrer Kinder haben


Grenzboten III. 1837. 47
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0377" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201156"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1147" prev="#ID_1146"> die Kindererziehung unentbehrlich sei? Ich glaube im Sinne von taufenden<lb/>
gebildeter christlicher Eltern zu sprechen, wenn ich vielmehr behaupte, daß hier<lb/>
der Weizen mit einer ganz ungebührlichen Menge von Spreu belastet ist, und<lb/>
daß es ein Segen für die Kinder wie eine Herzeuserleichterung für die Eltern<lb/>
wäre, wenn man sich endlich dazu entschließen könnte, solche Unterrichtsbücher<lb/>
einer gründlichen Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen, wobei alles aus¬<lb/>
zumerzen wäre, was nicht zur Bildung des Kindes in geschichtlicher, religiöser<lb/>
oder sittlicher Richtung beiträgt. Für den Nest würde sich dann freilich dringend<lb/>
eine Form empfehlen, welche sich nicht nur durch die neue Orthographie, sondern<lb/>
im ganzen sprachlichen Ausdruck, in Grammatik und Satzbildung mehr als jetzt<lb/>
der im übrigen Leben anerkannten Denk- und Sprechweise näherte, sodaß nicht<lb/>
mehr eine eben der biblischen Geschichte entnommene Konstruktion in dem<lb/>
darauf folgenden deutschen Unterrichte als Fehler gerügt zu werden brauchte.<lb/>
Oder meint man, auch an diesem Widerspruche im kirchlichen Interesse festhalten<lb/>
zu müssen? Wie die Dinge jetzt liegen, bleiben die biblischen Geschichten den<lb/>
Kindern seitenlang ein völlig unverstandenes und unverständliches Gedächtnis¬<lb/>
werk. Bei der öffentlichen Prüfung wissen sie freilich auf bestimmte Fragen<lb/>
des Lehrers die ihnen in den Mund gelegte Antwort zu geben. Daheim aber<lb/>
merken die Eltern, wie die Sache steht. Der Junge soll das Kapitel &#x201E;Abra¬<lb/>
hams Berufung" durchlesen und am nächsten Tage in der Klasse erzählen<lb/>
können. Er kommt zum Überhöre» zu mir und erzählt, ist aber nicht imstande,<lb/>
mit seinen eignen Worten zu erzählen, sondern verfällt ungeachtet wiederholter<lb/>
Mahnungen immer wieder in ein wörtliches Aussagen des Gelesenen. Er<lb/>
lernt eben leichter und lieber seitenlang auswendig, als daß er den Inhalt sich<lb/>
so zu eigen machte, daß er ihn wiedergeben könnte wie irgend eine andre Ge¬<lb/>
schichte aus seinem Lesebuch.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1148" next="#ID_1149"> Das einfache Gefühl sträubt sich dermaßen gegen diese ganze Art des<lb/>
Unterrichts, daß von der Beaufsichtigung der häuslichen Arbeiten die biblischen<lb/>
Geschichten der unerquicklichste Teil bleiben, welchen die Eltern sich am liebsten<lb/>
gegenseitig zuschieben, wenn nicht ganz abwälzen möchten. Die Lehrer denken<lb/>
zum Teil ähnlich. In dem genannten Buche, welches eigens für die betreffende<lb/>
Klasse bestimmt ist, klammern sie einzelne Stellen und anstößige Ausdrücke mit<lb/>
Bleistift ein, wodurch sie doch stillschweigend zugeben, daß das gar nicht erst<lb/>
hätte gedruckt werden sollen. Aber wie lange kann solches Feigenblatt für<lb/>
Kinderaugen undurchsichtig bleiben? Lehrer, mit denen ich darüber sprach,<lb/>
sagten mir achselzuckend, sie selbst wären in einer Zwangslage, das Provinzial-<lb/>
schulkollegium wache mit Strenge über dem starren Festhalten an der gegebenen<lb/>
Norm. Dich also, hohes Provinzialschulkollegium, bitten wir in dem drückenden<lb/>
Gefühl einer gewissen Vergewaltigung inständigst, Fühlung zu gewinnen mit<lb/>
der ehrlichen Anschauung so vieler Eltern, die doch auch, sozusagen, Menschen<lb/>
sind und gern etwas mehr Einfluß auf die Ausbildung ihrer Kinder haben</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1837. 47</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0377] die Kindererziehung unentbehrlich sei? Ich glaube im Sinne von taufenden gebildeter christlicher Eltern zu sprechen, wenn ich vielmehr behaupte, daß hier der Weizen mit einer ganz ungebührlichen Menge von Spreu belastet ist, und daß es ein Segen für die Kinder wie eine Herzeuserleichterung für die Eltern wäre, wenn man sich endlich dazu entschließen könnte, solche Unterrichtsbücher einer gründlichen Durchsicht und Verbesserung zu unterwerfen, wobei alles aus¬ zumerzen wäre, was nicht zur Bildung des Kindes in geschichtlicher, religiöser oder sittlicher Richtung beiträgt. Für den Nest würde sich dann freilich dringend eine Form empfehlen, welche sich nicht nur durch die neue Orthographie, sondern im ganzen sprachlichen Ausdruck, in Grammatik und Satzbildung mehr als jetzt der im übrigen Leben anerkannten Denk- und Sprechweise näherte, sodaß nicht mehr eine eben der biblischen Geschichte entnommene Konstruktion in dem darauf folgenden deutschen Unterrichte als Fehler gerügt zu werden brauchte. Oder meint man, auch an diesem Widerspruche im kirchlichen Interesse festhalten zu müssen? Wie die Dinge jetzt liegen, bleiben die biblischen Geschichten den Kindern seitenlang ein völlig unverstandenes und unverständliches Gedächtnis¬ werk. Bei der öffentlichen Prüfung wissen sie freilich auf bestimmte Fragen des Lehrers die ihnen in den Mund gelegte Antwort zu geben. Daheim aber merken die Eltern, wie die Sache steht. Der Junge soll das Kapitel „Abra¬ hams Berufung" durchlesen und am nächsten Tage in der Klasse erzählen können. Er kommt zum Überhöre» zu mir und erzählt, ist aber nicht imstande, mit seinen eignen Worten zu erzählen, sondern verfällt ungeachtet wiederholter Mahnungen immer wieder in ein wörtliches Aussagen des Gelesenen. Er lernt eben leichter und lieber seitenlang auswendig, als daß er den Inhalt sich so zu eigen machte, daß er ihn wiedergeben könnte wie irgend eine andre Ge¬ schichte aus seinem Lesebuch. Das einfache Gefühl sträubt sich dermaßen gegen diese ganze Art des Unterrichts, daß von der Beaufsichtigung der häuslichen Arbeiten die biblischen Geschichten der unerquicklichste Teil bleiben, welchen die Eltern sich am liebsten gegenseitig zuschieben, wenn nicht ganz abwälzen möchten. Die Lehrer denken zum Teil ähnlich. In dem genannten Buche, welches eigens für die betreffende Klasse bestimmt ist, klammern sie einzelne Stellen und anstößige Ausdrücke mit Bleistift ein, wodurch sie doch stillschweigend zugeben, daß das gar nicht erst hätte gedruckt werden sollen. Aber wie lange kann solches Feigenblatt für Kinderaugen undurchsichtig bleiben? Lehrer, mit denen ich darüber sprach, sagten mir achselzuckend, sie selbst wären in einer Zwangslage, das Provinzial- schulkollegium wache mit Strenge über dem starren Festhalten an der gegebenen Norm. Dich also, hohes Provinzialschulkollegium, bitten wir in dem drückenden Gefühl einer gewissen Vergewaltigung inständigst, Fühlung zu gewinnen mit der ehrlichen Anschauung so vieler Eltern, die doch auch, sozusagen, Menschen sind und gern etwas mehr Einfluß auf die Ausbildung ihrer Kinder haben Grenzboten III. 1837. 47

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/377
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/377>, abgerufen am 23.07.2024.