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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Kleine und große Schulplagen.

Puttkamer vorkommen. Umso mehr Verstöße finden sich darin gegen den ge¬
sunden Menschenverstand, gegen den guten Geschmack und gegen meine päda¬
gogische Anschauung. Da drängt sich gleich in der Geschichte vom Paradiese
die für achtjährige Kinder gewiß recht entbehrliche Belehrung auf, daß die vier
Hauptwasser im Paradiese "Pison, Gihon, Hidekel und Phrat" hießen. Ferner
erfährt das Kind, daß mitten im Garten der Baum des Lebens stand. Auf
der nächsten Seite aber wird es darin wieder schwankend gemacht, denn bei
der Erzählung des Sündenfalls heißt es, daß der Baum der Erkenntnis und
nicht der Baum des Lebens den oben bezeichneten Platz inne gehabt habe. Wer
eine Ahnung davon hat, wie feinfühlig gerade Kinder im Auffinden von selbst
scheinbaren Widersprüchen zu sein pflegen, dem wird ein Widerspruch in diesem
Punkte umso bedenklicher sein, als der Erzähler bei weniger wichtigen Gegen¬
ständen, z. B. bei der Beschreibung der Arche Noahs, durch peinliche Genauig¬
keit dem Bedürfnisse eines kindlichen Gemütes über und über Genüge leistet.
Durch den Druck ganz besonders hervorgehoben und außerdem noch durch eine
ausgestreckte Hand gekennzeichnet ist folgende Stelle: "Und ich will Feindschaft
setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem
Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse
stechen." Ich frage: Was soll sich ein Kind bei diesem Ausspruch denken, der
doch entschieden weit über sein Verständnis hinausgeht, und über dessen Sinn
selbst die Theologen vielleicht heute noch nicht im klaren sind? Ich meine, es
kann sich eben gar nichts dabei denken, und das wird am Ende noch das Beste
sein. Dasselbe gilt wohl auch von den bekannten Worten: "Du sollst mit
Schmerzen Kinder gebären." Oder erwartet Herr Zahn etwa, daß die Mutter
ihrem kleinen Sprößling zu diesem Text einige nähere Erläuterungen geben
werde? Ferner heißt es: "Und Moses ward gelehrt in aller Weisheit der
Ägypter und ward mächtig in Werken und Worten. Aber durch den Glauben
wollte er uicht mehr ein Sohn heißen der Tochter Pharao, und erwählte viel
lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung
der Sünde zu haben." Ein Geistlicher mag hieran im Konfirmandenunterricht
oder auf der Kanzel erbauliche Erörterungen knüpfen, aber ich frage immer
wieder: Was soll das einem Kinde?

Ich will hier nicht weitere Beispiele häufen, obwohl sich deren noch mehrere
von jeder Seite des Buches hinzufügen ließen. Ich will einmal annehmen, daß
das alles Wort für Wort in der Bibel stehe, und daß die Bibel Wort für
Wort objektive Wahrheit enthalte. Ich kenne aber auch eine gute Regel, die
freilich nicht gerade in der Bibel steht: "Alles, was du sagst, soll wahr sein,
aber du sollst nicht alles sagen, was wahr ist." Wird man behaupten wollen,
daß eine wortgetreue Wiedergabe aller dieser Geschichten aus dem Alten Testa¬
ment mit ihren sittlich doch oft wenig hochstehenden Helden, mit ihren An¬
stößigkeiten, ihrem Wust von unvermittelter und widerspruchsvollen Sätzen für


Kleine und große Schulplagen.

Puttkamer vorkommen. Umso mehr Verstöße finden sich darin gegen den ge¬
sunden Menschenverstand, gegen den guten Geschmack und gegen meine päda¬
gogische Anschauung. Da drängt sich gleich in der Geschichte vom Paradiese
die für achtjährige Kinder gewiß recht entbehrliche Belehrung auf, daß die vier
Hauptwasser im Paradiese „Pison, Gihon, Hidekel und Phrat" hießen. Ferner
erfährt das Kind, daß mitten im Garten der Baum des Lebens stand. Auf
der nächsten Seite aber wird es darin wieder schwankend gemacht, denn bei
der Erzählung des Sündenfalls heißt es, daß der Baum der Erkenntnis und
nicht der Baum des Lebens den oben bezeichneten Platz inne gehabt habe. Wer
eine Ahnung davon hat, wie feinfühlig gerade Kinder im Auffinden von selbst
scheinbaren Widersprüchen zu sein pflegen, dem wird ein Widerspruch in diesem
Punkte umso bedenklicher sein, als der Erzähler bei weniger wichtigen Gegen¬
ständen, z. B. bei der Beschreibung der Arche Noahs, durch peinliche Genauig¬
keit dem Bedürfnisse eines kindlichen Gemütes über und über Genüge leistet.
Durch den Druck ganz besonders hervorgehoben und außerdem noch durch eine
ausgestreckte Hand gekennzeichnet ist folgende Stelle: „Und ich will Feindschaft
setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem
Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse
stechen." Ich frage: Was soll sich ein Kind bei diesem Ausspruch denken, der
doch entschieden weit über sein Verständnis hinausgeht, und über dessen Sinn
selbst die Theologen vielleicht heute noch nicht im klaren sind? Ich meine, es
kann sich eben gar nichts dabei denken, und das wird am Ende noch das Beste
sein. Dasselbe gilt wohl auch von den bekannten Worten: „Du sollst mit
Schmerzen Kinder gebären." Oder erwartet Herr Zahn etwa, daß die Mutter
ihrem kleinen Sprößling zu diesem Text einige nähere Erläuterungen geben
werde? Ferner heißt es: „Und Moses ward gelehrt in aller Weisheit der
Ägypter und ward mächtig in Werken und Worten. Aber durch den Glauben
wollte er uicht mehr ein Sohn heißen der Tochter Pharao, und erwählte viel
lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung
der Sünde zu haben." Ein Geistlicher mag hieran im Konfirmandenunterricht
oder auf der Kanzel erbauliche Erörterungen knüpfen, aber ich frage immer
wieder: Was soll das einem Kinde?

Ich will hier nicht weitere Beispiele häufen, obwohl sich deren noch mehrere
von jeder Seite des Buches hinzufügen ließen. Ich will einmal annehmen, daß
das alles Wort für Wort in der Bibel stehe, und daß die Bibel Wort für
Wort objektive Wahrheit enthalte. Ich kenne aber auch eine gute Regel, die
freilich nicht gerade in der Bibel steht: „Alles, was du sagst, soll wahr sein,
aber du sollst nicht alles sagen, was wahr ist." Wird man behaupten wollen,
daß eine wortgetreue Wiedergabe aller dieser Geschichten aus dem Alten Testa¬
ment mit ihren sittlich doch oft wenig hochstehenden Helden, mit ihren An¬
stößigkeiten, ihrem Wust von unvermittelter und widerspruchsvollen Sätzen für


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[0376] Kleine und große Schulplagen. Puttkamer vorkommen. Umso mehr Verstöße finden sich darin gegen den ge¬ sunden Menschenverstand, gegen den guten Geschmack und gegen meine päda¬ gogische Anschauung. Da drängt sich gleich in der Geschichte vom Paradiese die für achtjährige Kinder gewiß recht entbehrliche Belehrung auf, daß die vier Hauptwasser im Paradiese „Pison, Gihon, Hidekel und Phrat" hießen. Ferner erfährt das Kind, daß mitten im Garten der Baum des Lebens stand. Auf der nächsten Seite aber wird es darin wieder schwankend gemacht, denn bei der Erzählung des Sündenfalls heißt es, daß der Baum der Erkenntnis und nicht der Baum des Lebens den oben bezeichneten Platz inne gehabt habe. Wer eine Ahnung davon hat, wie feinfühlig gerade Kinder im Auffinden von selbst scheinbaren Widersprüchen zu sein pflegen, dem wird ein Widerspruch in diesem Punkte umso bedenklicher sein, als der Erzähler bei weniger wichtigen Gegen¬ ständen, z. B. bei der Beschreibung der Arche Noahs, durch peinliche Genauig¬ keit dem Bedürfnisse eines kindlichen Gemütes über und über Genüge leistet. Durch den Druck ganz besonders hervorgehoben und außerdem noch durch eine ausgestreckte Hand gekennzeichnet ist folgende Stelle: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen." Ich frage: Was soll sich ein Kind bei diesem Ausspruch denken, der doch entschieden weit über sein Verständnis hinausgeht, und über dessen Sinn selbst die Theologen vielleicht heute noch nicht im klaren sind? Ich meine, es kann sich eben gar nichts dabei denken, und das wird am Ende noch das Beste sein. Dasselbe gilt wohl auch von den bekannten Worten: „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären." Oder erwartet Herr Zahn etwa, daß die Mutter ihrem kleinen Sprößling zu diesem Text einige nähere Erläuterungen geben werde? Ferner heißt es: „Und Moses ward gelehrt in aller Weisheit der Ägypter und ward mächtig in Werken und Worten. Aber durch den Glauben wollte er uicht mehr ein Sohn heißen der Tochter Pharao, und erwählte viel lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben." Ein Geistlicher mag hieran im Konfirmandenunterricht oder auf der Kanzel erbauliche Erörterungen knüpfen, aber ich frage immer wieder: Was soll das einem Kinde? Ich will hier nicht weitere Beispiele häufen, obwohl sich deren noch mehrere von jeder Seite des Buches hinzufügen ließen. Ich will einmal annehmen, daß das alles Wort für Wort in der Bibel stehe, und daß die Bibel Wort für Wort objektive Wahrheit enthalte. Ich kenne aber auch eine gute Regel, die freilich nicht gerade in der Bibel steht: „Alles, was du sagst, soll wahr sein, aber du sollst nicht alles sagen, was wahr ist." Wird man behaupten wollen, daß eine wortgetreue Wiedergabe aller dieser Geschichten aus dem Alten Testa¬ ment mit ihren sittlich doch oft wenig hochstehenden Helden, mit ihren An¬ stößigkeiten, ihrem Wust von unvermittelter und widerspruchsvollen Sätzen für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/376>, abgerufen am 23.07.2024.