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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Elisabeths Erinnerungen.

In wie anderm Lichte erschien mir jetzt aber manches, was ich in dem
Buche der Bücher fand! So das Lazarus-Evangelium. War es bisher nur
für mich ein Histörchen von dreizehn Versen mit guter Moral gewesen: so er¬
kannte ich jetzt darin die Flammenschrift der göttlichen Weltordnung. Gott ist
die Liebe, und seine Liebe verlangt, daß wir Menschen uns untereinander lieben.
Statt dessen gehen wir teilnahmlos an einander vorüber und kümmern
uns nicht um einander. Mancher blickt sogar über den Kopf seines Neben¬
menschen kaltblütig hinweg, obgleich dessen Elend ihm unmittelbar vor Augen
liegt. So ist es bei dem reichen Manne im Evangelium der Fall. Der arme
Lazarus war eigens von mitleidigen Menschen, die außer stände waren, selbst
zu helfen, vor die Thür des reichen Mannes gelegt worden, damit dieser ihn
beachte. Trotzdem bekümmerte sich der Reiche gar nicht um ihn. Das ist
frevelhafte Auflehnung gegen des Allmächtigen unzweideutiges Gebot und ver¬
langt Sühne, denn Gott ist die Liebe, aber auch die ewige Gerechtigkeit. Wegen
seines Ungehorsams wird der Reiche den Höllenqualen überliefert. Ein fürchter¬
licher Ernst leuchtet aus dieser Erzählung hervor. Überhaupt läßt unser Heiland
es an Deutlichkeit nie fehlen, wenn von den Pflichten der Besitzenden die Rede
ist. Sagt er doch, daß ein Kameel leichter durch ein Nadelöhr gehe, als daß
ein Reicher ins Reich Gottes komme. Würde der Herr wohl diesen großartigen
Vergleich gewählt haben, wenn er nicht die ganze Schwere des Gedankens auch
durch die Wucht des Ausdrucks hätte zur Geltung bringen wollen?

Je mehr ich mich in alles dies vertiefte, desto entschiedner verlangte mein
Gewissen, mich in irgend einer Weise an der Linderung des sozialen Elends zu
beteiligen.

Eine Unterbrechung meines Lebens bildete eine Reise in die sächsische
Schweiz, die mich körperlich erfrischte. Anderseits fühlte ich mich aber auch,
während die schönsten Naturbilder an mir vorüberglitten, oft wieder innerlich
beunruhigt. Beim Nachdenken über die Pflichten der Wohlhabenden gegen die
Armen malte ich mir aus, welche Verbesserung in der Lage der Armen ein¬
treten würde, wenn alle unverheirateten oder verwitweten Frauen den Überfluß
ihrer Zeit und Kräfte der Armenpflege widmeten.

Im Zusammenhange mit diesen Vorstellungen kam mir der Wunsch, einen
neuen Stand berufsmäßiger Armenpflegerinnen ins Leben zu rufen. Diese
sollten in ihren häuslichen Verhältnissen bleiben, aber dauernde Anlehnung an
eine Behörde finden, die ihnen allgemeine Verhaltungsregeln und Unterweisung
über die besondern örtlichen Verhältnisse erteilte. Ich stellte mir vor, daß
Tausende von deutschen Frauen und Jungfrauen sich glücklich schätzen würden,
plötzlich in einen menschenfreundlichen Wirkungskreis und einen ehrenvollen
Beruf eintreten zu können.

Zunächst handelte es sich darum, eine Persönlichkeit zu finden, welche die
Welt sür diese Idee einzunehmen und zu gewinnen verstünde. Daß ich selbst


Elisabeths Erinnerungen.

In wie anderm Lichte erschien mir jetzt aber manches, was ich in dem
Buche der Bücher fand! So das Lazarus-Evangelium. War es bisher nur
für mich ein Histörchen von dreizehn Versen mit guter Moral gewesen: so er¬
kannte ich jetzt darin die Flammenschrift der göttlichen Weltordnung. Gott ist
die Liebe, und seine Liebe verlangt, daß wir Menschen uns untereinander lieben.
Statt dessen gehen wir teilnahmlos an einander vorüber und kümmern
uns nicht um einander. Mancher blickt sogar über den Kopf seines Neben¬
menschen kaltblütig hinweg, obgleich dessen Elend ihm unmittelbar vor Augen
liegt. So ist es bei dem reichen Manne im Evangelium der Fall. Der arme
Lazarus war eigens von mitleidigen Menschen, die außer stände waren, selbst
zu helfen, vor die Thür des reichen Mannes gelegt worden, damit dieser ihn
beachte. Trotzdem bekümmerte sich der Reiche gar nicht um ihn. Das ist
frevelhafte Auflehnung gegen des Allmächtigen unzweideutiges Gebot und ver¬
langt Sühne, denn Gott ist die Liebe, aber auch die ewige Gerechtigkeit. Wegen
seines Ungehorsams wird der Reiche den Höllenqualen überliefert. Ein fürchter¬
licher Ernst leuchtet aus dieser Erzählung hervor. Überhaupt läßt unser Heiland
es an Deutlichkeit nie fehlen, wenn von den Pflichten der Besitzenden die Rede
ist. Sagt er doch, daß ein Kameel leichter durch ein Nadelöhr gehe, als daß
ein Reicher ins Reich Gottes komme. Würde der Herr wohl diesen großartigen
Vergleich gewählt haben, wenn er nicht die ganze Schwere des Gedankens auch
durch die Wucht des Ausdrucks hätte zur Geltung bringen wollen?

Je mehr ich mich in alles dies vertiefte, desto entschiedner verlangte mein
Gewissen, mich in irgend einer Weise an der Linderung des sozialen Elends zu
beteiligen.

Eine Unterbrechung meines Lebens bildete eine Reise in die sächsische
Schweiz, die mich körperlich erfrischte. Anderseits fühlte ich mich aber auch,
während die schönsten Naturbilder an mir vorüberglitten, oft wieder innerlich
beunruhigt. Beim Nachdenken über die Pflichten der Wohlhabenden gegen die
Armen malte ich mir aus, welche Verbesserung in der Lage der Armen ein¬
treten würde, wenn alle unverheirateten oder verwitweten Frauen den Überfluß
ihrer Zeit und Kräfte der Armenpflege widmeten.

Im Zusammenhange mit diesen Vorstellungen kam mir der Wunsch, einen
neuen Stand berufsmäßiger Armenpflegerinnen ins Leben zu rufen. Diese
sollten in ihren häuslichen Verhältnissen bleiben, aber dauernde Anlehnung an
eine Behörde finden, die ihnen allgemeine Verhaltungsregeln und Unterweisung
über die besondern örtlichen Verhältnisse erteilte. Ich stellte mir vor, daß
Tausende von deutschen Frauen und Jungfrauen sich glücklich schätzen würden,
plötzlich in einen menschenfreundlichen Wirkungskreis und einen ehrenvollen
Beruf eintreten zu können.

Zunächst handelte es sich darum, eine Persönlichkeit zu finden, welche die
Welt sür diese Idee einzunehmen und zu gewinnen verstünde. Daß ich selbst


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[0357] Elisabeths Erinnerungen. In wie anderm Lichte erschien mir jetzt aber manches, was ich in dem Buche der Bücher fand! So das Lazarus-Evangelium. War es bisher nur für mich ein Histörchen von dreizehn Versen mit guter Moral gewesen: so er¬ kannte ich jetzt darin die Flammenschrift der göttlichen Weltordnung. Gott ist die Liebe, und seine Liebe verlangt, daß wir Menschen uns untereinander lieben. Statt dessen gehen wir teilnahmlos an einander vorüber und kümmern uns nicht um einander. Mancher blickt sogar über den Kopf seines Neben¬ menschen kaltblütig hinweg, obgleich dessen Elend ihm unmittelbar vor Augen liegt. So ist es bei dem reichen Manne im Evangelium der Fall. Der arme Lazarus war eigens von mitleidigen Menschen, die außer stände waren, selbst zu helfen, vor die Thür des reichen Mannes gelegt worden, damit dieser ihn beachte. Trotzdem bekümmerte sich der Reiche gar nicht um ihn. Das ist frevelhafte Auflehnung gegen des Allmächtigen unzweideutiges Gebot und ver¬ langt Sühne, denn Gott ist die Liebe, aber auch die ewige Gerechtigkeit. Wegen seines Ungehorsams wird der Reiche den Höllenqualen überliefert. Ein fürchter¬ licher Ernst leuchtet aus dieser Erzählung hervor. Überhaupt läßt unser Heiland es an Deutlichkeit nie fehlen, wenn von den Pflichten der Besitzenden die Rede ist. Sagt er doch, daß ein Kameel leichter durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Würde der Herr wohl diesen großartigen Vergleich gewählt haben, wenn er nicht die ganze Schwere des Gedankens auch durch die Wucht des Ausdrucks hätte zur Geltung bringen wollen? Je mehr ich mich in alles dies vertiefte, desto entschiedner verlangte mein Gewissen, mich in irgend einer Weise an der Linderung des sozialen Elends zu beteiligen. Eine Unterbrechung meines Lebens bildete eine Reise in die sächsische Schweiz, die mich körperlich erfrischte. Anderseits fühlte ich mich aber auch, während die schönsten Naturbilder an mir vorüberglitten, oft wieder innerlich beunruhigt. Beim Nachdenken über die Pflichten der Wohlhabenden gegen die Armen malte ich mir aus, welche Verbesserung in der Lage der Armen ein¬ treten würde, wenn alle unverheirateten oder verwitweten Frauen den Überfluß ihrer Zeit und Kräfte der Armenpflege widmeten. Im Zusammenhange mit diesen Vorstellungen kam mir der Wunsch, einen neuen Stand berufsmäßiger Armenpflegerinnen ins Leben zu rufen. Diese sollten in ihren häuslichen Verhältnissen bleiben, aber dauernde Anlehnung an eine Behörde finden, die ihnen allgemeine Verhaltungsregeln und Unterweisung über die besondern örtlichen Verhältnisse erteilte. Ich stellte mir vor, daß Tausende von deutschen Frauen und Jungfrauen sich glücklich schätzen würden, plötzlich in einen menschenfreundlichen Wirkungskreis und einen ehrenvollen Beruf eintreten zu können. Zunächst handelte es sich darum, eine Persönlichkeit zu finden, welche die Welt sür diese Idee einzunehmen und zu gewinnen verstünde. Daß ich selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/357>, abgerufen am 23.07.2024.