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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Elisabeths Erinnerungen.

Da saß ich nun wieder ohne Beruf und Wirkungskreis. Aber zwischen
nur jetzt und der Elisabeth vor ihrer zweiten Wallfahrt in die Residenz bestand
ein großer, gewaltiger Unterschied. Damals jagte ich dem vermeintlichen goldnen
Glücke nach -- und jetzt, ich wünschte nichts andres, als Gottes Willen zu
erfüllen.

Ich war reich an überflüssiger Zeit. Mein Gewissen verbot mir, diese
in den landläufigen Tändeleien zu vergeuden; aber es widerstrebte mir anch
jede Thätigkeit, durch die ich andern das Arbeitsfeld und dadurch das Brot
geschmälert hätte. Meine Mutter und ich besaßen, was wir zum Lebensunterhalt
bedurften. Früher kannte ich nur Menschen mit gegebenen Pflichten, und die
beneidete ich, oder Menschen ohne solche, und zu denen hatte ich mich gerechnet.
Ich war zu dieser Einteilung gelangt, weil ich nur an häusliche oder Berufs¬
pflichten gedacht und mich überhaupt mit meinen Gedanken nur in den engsten
Kreisen des menschlichen Daseins bewegt hatte. Durch Zeit und Erfahrungen
war mein Blick weiter geworden.

Die Bilder, die meine Seele jetzt bewegten, zeigten mir das Leben in
seiner ganzen nackten Wirklichkeit. Es waren meist nur Umrisse und' Skizzen,
aber auch packende Ausführungen in den grellsten Farben, und sie führten mir
insgesamt Arme, Kranke und Elende vor, deren Blicke gegen mich zu sprühen
schienen. Aber welche Ansprüche konnten sie an mich erheben, an mich, das
schwache Mädchen? Es giebt eine Lichtahnung, welche dem Durchbruch der
Sonne vorausgeht. In diesem Zustande befand sich jetzt meine Seele, als ihr
allmählich klar wurde, daß niemand ans Erden ohne Pflichten gegen die All¬
gemeinheit sei, und daß es ein Verbrechen gegen Gott und Menschen sei, wenn
jemand den Egoismus zum obersten Gesetz für sich erhebe. Tag und Nacht
befand ich mich in Sinnen und Gedankenspinnen; oft rang ich förmlich, "bis
die Morgenröte anbrach." Da erkannte ich, daß meine Gedanken sich gerade
um den Kernpunkt des ganzen Christentums bewegten und daß die von mir
gepriesenen "Pflichten gegen die Allgemeinheit" in der Liebe zu Gott und zum
Nächsten erst ihre rechte Gestalt und Beleuchtung erhielte".

Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß ich vou der Kanzel aus dem Munde
eines großen Gottesgelehrten begeisterte Worte vernahm, die mich tief erschüt¬
terten. "Geh hin und kümmere dich um die Armen!" -- hiermit schloß er
seine Predigt in bittendem Tone.

Ich sträubte mich in gewissem Sinne dagegen; meiner persönlichen Eigen¬
tümlichkeit widerstrebte alles, was nicht sauber, zierlich, blumcndnftig war. Aber
der Mahnruf ließ mir keine Ruhe, er hatte eine vollständige Umwälzung in
meinem Innern hervorgerufen, und was ich auch unternehmen mochte, er be¬
schäftigte mich immer wieder von neuem. Gleichzeitig forschte ich in der Bibel
und fand überall Bestätigungen meiner innersten Erlebnisse. In "Erlebnisse"
hatten sich meine anfänglich flüchtigen Gedanken allmählich umgewandelt.


Elisabeths Erinnerungen.

Da saß ich nun wieder ohne Beruf und Wirkungskreis. Aber zwischen
nur jetzt und der Elisabeth vor ihrer zweiten Wallfahrt in die Residenz bestand
ein großer, gewaltiger Unterschied. Damals jagte ich dem vermeintlichen goldnen
Glücke nach — und jetzt, ich wünschte nichts andres, als Gottes Willen zu
erfüllen.

Ich war reich an überflüssiger Zeit. Mein Gewissen verbot mir, diese
in den landläufigen Tändeleien zu vergeuden; aber es widerstrebte mir anch
jede Thätigkeit, durch die ich andern das Arbeitsfeld und dadurch das Brot
geschmälert hätte. Meine Mutter und ich besaßen, was wir zum Lebensunterhalt
bedurften. Früher kannte ich nur Menschen mit gegebenen Pflichten, und die
beneidete ich, oder Menschen ohne solche, und zu denen hatte ich mich gerechnet.
Ich war zu dieser Einteilung gelangt, weil ich nur an häusliche oder Berufs¬
pflichten gedacht und mich überhaupt mit meinen Gedanken nur in den engsten
Kreisen des menschlichen Daseins bewegt hatte. Durch Zeit und Erfahrungen
war mein Blick weiter geworden.

Die Bilder, die meine Seele jetzt bewegten, zeigten mir das Leben in
seiner ganzen nackten Wirklichkeit. Es waren meist nur Umrisse und' Skizzen,
aber auch packende Ausführungen in den grellsten Farben, und sie führten mir
insgesamt Arme, Kranke und Elende vor, deren Blicke gegen mich zu sprühen
schienen. Aber welche Ansprüche konnten sie an mich erheben, an mich, das
schwache Mädchen? Es giebt eine Lichtahnung, welche dem Durchbruch der
Sonne vorausgeht. In diesem Zustande befand sich jetzt meine Seele, als ihr
allmählich klar wurde, daß niemand ans Erden ohne Pflichten gegen die All¬
gemeinheit sei, und daß es ein Verbrechen gegen Gott und Menschen sei, wenn
jemand den Egoismus zum obersten Gesetz für sich erhebe. Tag und Nacht
befand ich mich in Sinnen und Gedankenspinnen; oft rang ich förmlich, „bis
die Morgenröte anbrach." Da erkannte ich, daß meine Gedanken sich gerade
um den Kernpunkt des ganzen Christentums bewegten und daß die von mir
gepriesenen „Pflichten gegen die Allgemeinheit" in der Liebe zu Gott und zum
Nächsten erst ihre rechte Gestalt und Beleuchtung erhielte».

Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß ich vou der Kanzel aus dem Munde
eines großen Gottesgelehrten begeisterte Worte vernahm, die mich tief erschüt¬
terten. „Geh hin und kümmere dich um die Armen!" — hiermit schloß er
seine Predigt in bittendem Tone.

Ich sträubte mich in gewissem Sinne dagegen; meiner persönlichen Eigen¬
tümlichkeit widerstrebte alles, was nicht sauber, zierlich, blumcndnftig war. Aber
der Mahnruf ließ mir keine Ruhe, er hatte eine vollständige Umwälzung in
meinem Innern hervorgerufen, und was ich auch unternehmen mochte, er be¬
schäftigte mich immer wieder von neuem. Gleichzeitig forschte ich in der Bibel
und fand überall Bestätigungen meiner innersten Erlebnisse. In „Erlebnisse"
hatten sich meine anfänglich flüchtigen Gedanken allmählich umgewandelt.


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[0356] Elisabeths Erinnerungen. Da saß ich nun wieder ohne Beruf und Wirkungskreis. Aber zwischen nur jetzt und der Elisabeth vor ihrer zweiten Wallfahrt in die Residenz bestand ein großer, gewaltiger Unterschied. Damals jagte ich dem vermeintlichen goldnen Glücke nach — und jetzt, ich wünschte nichts andres, als Gottes Willen zu erfüllen. Ich war reich an überflüssiger Zeit. Mein Gewissen verbot mir, diese in den landläufigen Tändeleien zu vergeuden; aber es widerstrebte mir anch jede Thätigkeit, durch die ich andern das Arbeitsfeld und dadurch das Brot geschmälert hätte. Meine Mutter und ich besaßen, was wir zum Lebensunterhalt bedurften. Früher kannte ich nur Menschen mit gegebenen Pflichten, und die beneidete ich, oder Menschen ohne solche, und zu denen hatte ich mich gerechnet. Ich war zu dieser Einteilung gelangt, weil ich nur an häusliche oder Berufs¬ pflichten gedacht und mich überhaupt mit meinen Gedanken nur in den engsten Kreisen des menschlichen Daseins bewegt hatte. Durch Zeit und Erfahrungen war mein Blick weiter geworden. Die Bilder, die meine Seele jetzt bewegten, zeigten mir das Leben in seiner ganzen nackten Wirklichkeit. Es waren meist nur Umrisse und' Skizzen, aber auch packende Ausführungen in den grellsten Farben, und sie führten mir insgesamt Arme, Kranke und Elende vor, deren Blicke gegen mich zu sprühen schienen. Aber welche Ansprüche konnten sie an mich erheben, an mich, das schwache Mädchen? Es giebt eine Lichtahnung, welche dem Durchbruch der Sonne vorausgeht. In diesem Zustande befand sich jetzt meine Seele, als ihr allmählich klar wurde, daß niemand ans Erden ohne Pflichten gegen die All¬ gemeinheit sei, und daß es ein Verbrechen gegen Gott und Menschen sei, wenn jemand den Egoismus zum obersten Gesetz für sich erhebe. Tag und Nacht befand ich mich in Sinnen und Gedankenspinnen; oft rang ich förmlich, „bis die Morgenröte anbrach." Da erkannte ich, daß meine Gedanken sich gerade um den Kernpunkt des ganzen Christentums bewegten und daß die von mir gepriesenen „Pflichten gegen die Allgemeinheit" in der Liebe zu Gott und zum Nächsten erst ihre rechte Gestalt und Beleuchtung erhielte». Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß ich vou der Kanzel aus dem Munde eines großen Gottesgelehrten begeisterte Worte vernahm, die mich tief erschüt¬ terten. „Geh hin und kümmere dich um die Armen!" — hiermit schloß er seine Predigt in bittendem Tone. Ich sträubte mich in gewissem Sinne dagegen; meiner persönlichen Eigen¬ tümlichkeit widerstrebte alles, was nicht sauber, zierlich, blumcndnftig war. Aber der Mahnruf ließ mir keine Ruhe, er hatte eine vollständige Umwälzung in meinem Innern hervorgerufen, und was ich auch unternehmen mochte, er be¬ schäftigte mich immer wieder von neuem. Gleichzeitig forschte ich in der Bibel und fand überall Bestätigungen meiner innersten Erlebnisse. In „Erlebnisse" hatten sich meine anfänglich flüchtigen Gedanken allmählich umgewandelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/356>, abgerufen am 23.07.2024.