Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Briefe aus Italien.

treuen Augen im Vaterlande hat wachsen sehen, was ihm in Mannesjahren die
Phantasie als Ideal ausgebildet hat. Ein Künstler, der mit seinem Volke nicht
mehr zusammenlebt, der aus der Seele des Volkes nicht seine tägliche Nahrung
ziehen kann, ist wie ein Fisch ohne Wasser, wenn er nicht wie ein glatter
Salamander ist, der sich in jedem Elemente zurecht findet. Ausführung und
Gegenstand hingen bisher notwendig zusammen, Bemühen mußte man sich um
die technischen Mittel, die Bewältigung der Formen lernte der Schüler. Aber
niemals bemühte sich ein Künstler um die Gegenstände. Die waren da, sie
erzeugte der Tag. Die Vorstellungen, deren die allgewaltige Kirche, deren
die Frömmigkeit oder die Prachtliebe des Einzelnen bedürfte, sie riefen nur
nach dem Künstler, damit er sie verkörpere. Niemand hatte bisher noch so
niedrig von der Kunst gedacht, daß er an ihrer Kraft gezweifelt Hütte, die auf¬
gegebenen Stoffe zu bewältigen. Es war eine gute Zeit, in der überall das
Bedürfnis nach Kunst früher da war, als das Kunstwerk, das es be¬
friedigen sollte.

Diese Zeit war nun vorbei, der natürliche Zusammenhang von Poesie und
Religion des Volkes mit der bildenden Kunst war schnell vergessen, man hatte
die Kunst gleichsam abgezogen, sie als besondere köstliche Drogue für seltenen
Gebrauch beiseite gestellt. Die Kunst war erschöpft, und man glaubte, nicht
das Alter, sondern schlechte Nahrung habe sie auf den Tod gebracht. Durch
erlesene Krankenkost wollte man ihr wieder aufhelfen. Es beginnt das Suchen
nach fruchtbaren Gegenständen für die Kunst. Goethe selbst hat manche schöne
Tage mit Nachsinnen über neue Aufgaben verdorben. Das allgemeine Heil¬
mittel glaubte man in Stoffen aus der antiken Poesie in Nachbildung antiker
Kunstwerke zu finden.

Inzwischen war nämlich ein weittragendes Ereignis eingetreten. Eben als
sich die Kunst ausgelebt hatte, trat ein Pfadfinder auf, der das Interesse für
sie in andrer Weise neu zu beleben wußte. Winkelmann hatte die Kunstgeschichte
begründet. Weil er aber mit antiker Kunst begonnen hatte, in ihr mit Weitsicht
aus beschränktem Material eine geschichtliche Entwicklung entdeckt, auf die
Mannichfaltigkeit und das Besondere ihrer Gegenstände aufmerksam gemacht
hatte, meinte man mit leicht begreiflicher Verwechslung in der Nachahmung
dieser Kunst, vor allen in der Inspiration durch dieselben Gegenstände, die
Rettung aus Zuständen der Schwäche zu finden, und vergaß, daß jene Gegen¬
stände und Formen des Wichtigsten ermangelten, was sie zu ihrer Zeit aus¬
gezeichnet hatte, der Gemeinverständlichkeit.

Noch andre Umstünde wirkten zusammen, das Interesse ausschließlich auf
die klassische Kunst zu beschränken. Die Aufklärung, kirchenfeindlich, war voll
Scheu vor jenen märchenhaften oder pomphaften Darstellungen aus dem christ¬
lichen Mythenkreise, die bald zwei Jahrtausende lang die Kunst fast ausschließlich
beschäftigt hatten, und wies zum Ersatze auf die olympischen Götter, die harmlos


Goethes Briefe aus Italien.

treuen Augen im Vaterlande hat wachsen sehen, was ihm in Mannesjahren die
Phantasie als Ideal ausgebildet hat. Ein Künstler, der mit seinem Volke nicht
mehr zusammenlebt, der aus der Seele des Volkes nicht seine tägliche Nahrung
ziehen kann, ist wie ein Fisch ohne Wasser, wenn er nicht wie ein glatter
Salamander ist, der sich in jedem Elemente zurecht findet. Ausführung und
Gegenstand hingen bisher notwendig zusammen, Bemühen mußte man sich um
die technischen Mittel, die Bewältigung der Formen lernte der Schüler. Aber
niemals bemühte sich ein Künstler um die Gegenstände. Die waren da, sie
erzeugte der Tag. Die Vorstellungen, deren die allgewaltige Kirche, deren
die Frömmigkeit oder die Prachtliebe des Einzelnen bedürfte, sie riefen nur
nach dem Künstler, damit er sie verkörpere. Niemand hatte bisher noch so
niedrig von der Kunst gedacht, daß er an ihrer Kraft gezweifelt Hütte, die auf¬
gegebenen Stoffe zu bewältigen. Es war eine gute Zeit, in der überall das
Bedürfnis nach Kunst früher da war, als das Kunstwerk, das es be¬
friedigen sollte.

Diese Zeit war nun vorbei, der natürliche Zusammenhang von Poesie und
Religion des Volkes mit der bildenden Kunst war schnell vergessen, man hatte
die Kunst gleichsam abgezogen, sie als besondere köstliche Drogue für seltenen
Gebrauch beiseite gestellt. Die Kunst war erschöpft, und man glaubte, nicht
das Alter, sondern schlechte Nahrung habe sie auf den Tod gebracht. Durch
erlesene Krankenkost wollte man ihr wieder aufhelfen. Es beginnt das Suchen
nach fruchtbaren Gegenständen für die Kunst. Goethe selbst hat manche schöne
Tage mit Nachsinnen über neue Aufgaben verdorben. Das allgemeine Heil¬
mittel glaubte man in Stoffen aus der antiken Poesie in Nachbildung antiker
Kunstwerke zu finden.

Inzwischen war nämlich ein weittragendes Ereignis eingetreten. Eben als
sich die Kunst ausgelebt hatte, trat ein Pfadfinder auf, der das Interesse für
sie in andrer Weise neu zu beleben wußte. Winkelmann hatte die Kunstgeschichte
begründet. Weil er aber mit antiker Kunst begonnen hatte, in ihr mit Weitsicht
aus beschränktem Material eine geschichtliche Entwicklung entdeckt, auf die
Mannichfaltigkeit und das Besondere ihrer Gegenstände aufmerksam gemacht
hatte, meinte man mit leicht begreiflicher Verwechslung in der Nachahmung
dieser Kunst, vor allen in der Inspiration durch dieselben Gegenstände, die
Rettung aus Zuständen der Schwäche zu finden, und vergaß, daß jene Gegen¬
stände und Formen des Wichtigsten ermangelten, was sie zu ihrer Zeit aus¬
gezeichnet hatte, der Gemeinverständlichkeit.

Noch andre Umstünde wirkten zusammen, das Interesse ausschließlich auf
die klassische Kunst zu beschränken. Die Aufklärung, kirchenfeindlich, war voll
Scheu vor jenen märchenhaften oder pomphaften Darstellungen aus dem christ¬
lichen Mythenkreise, die bald zwei Jahrtausende lang die Kunst fast ausschließlich
beschäftigt hatten, und wies zum Ersatze auf die olympischen Götter, die harmlos


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0339" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201118"/>
            <fw type="header" place="top"> Goethes Briefe aus Italien.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_992" prev="#ID_991"> treuen Augen im Vaterlande hat wachsen sehen, was ihm in Mannesjahren die<lb/>
Phantasie als Ideal ausgebildet hat. Ein Künstler, der mit seinem Volke nicht<lb/>
mehr zusammenlebt, der aus der Seele des Volkes nicht seine tägliche Nahrung<lb/>
ziehen kann, ist wie ein Fisch ohne Wasser, wenn er nicht wie ein glatter<lb/>
Salamander ist, der sich in jedem Elemente zurecht findet. Ausführung und<lb/>
Gegenstand hingen bisher notwendig zusammen, Bemühen mußte man sich um<lb/>
die technischen Mittel, die Bewältigung der Formen lernte der Schüler. Aber<lb/>
niemals bemühte sich ein Künstler um die Gegenstände. Die waren da, sie<lb/>
erzeugte der Tag. Die Vorstellungen, deren die allgewaltige Kirche, deren<lb/>
die Frömmigkeit oder die Prachtliebe des Einzelnen bedürfte, sie riefen nur<lb/>
nach dem Künstler, damit er sie verkörpere. Niemand hatte bisher noch so<lb/>
niedrig von der Kunst gedacht, daß er an ihrer Kraft gezweifelt Hütte, die auf¬<lb/>
gegebenen Stoffe zu bewältigen. Es war eine gute Zeit, in der überall das<lb/>
Bedürfnis nach Kunst früher da war, als das Kunstwerk, das es be¬<lb/>
friedigen sollte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_993"> Diese Zeit war nun vorbei, der natürliche Zusammenhang von Poesie und<lb/>
Religion des Volkes mit der bildenden Kunst war schnell vergessen, man hatte<lb/>
die Kunst gleichsam abgezogen, sie als besondere köstliche Drogue für seltenen<lb/>
Gebrauch beiseite gestellt. Die Kunst war erschöpft, und man glaubte, nicht<lb/>
das Alter, sondern schlechte Nahrung habe sie auf den Tod gebracht. Durch<lb/>
erlesene Krankenkost wollte man ihr wieder aufhelfen. Es beginnt das Suchen<lb/>
nach fruchtbaren Gegenständen für die Kunst. Goethe selbst hat manche schöne<lb/>
Tage mit Nachsinnen über neue Aufgaben verdorben. Das allgemeine Heil¬<lb/>
mittel glaubte man in Stoffen aus der antiken Poesie in Nachbildung antiker<lb/>
Kunstwerke zu finden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_994"> Inzwischen war nämlich ein weittragendes Ereignis eingetreten. Eben als<lb/>
sich die Kunst ausgelebt hatte, trat ein Pfadfinder auf, der das Interesse für<lb/>
sie in andrer Weise neu zu beleben wußte. Winkelmann hatte die Kunstgeschichte<lb/>
begründet. Weil er aber mit antiker Kunst begonnen hatte, in ihr mit Weitsicht<lb/>
aus beschränktem Material eine geschichtliche Entwicklung entdeckt, auf die<lb/>
Mannichfaltigkeit und das Besondere ihrer Gegenstände aufmerksam gemacht<lb/>
hatte, meinte man mit leicht begreiflicher Verwechslung in der Nachahmung<lb/>
dieser Kunst, vor allen in der Inspiration durch dieselben Gegenstände, die<lb/>
Rettung aus Zuständen der Schwäche zu finden, und vergaß, daß jene Gegen¬<lb/>
stände und Formen des Wichtigsten ermangelten, was sie zu ihrer Zeit aus¬<lb/>
gezeichnet hatte, der Gemeinverständlichkeit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_995" next="#ID_996"> Noch andre Umstünde wirkten zusammen, das Interesse ausschließlich auf<lb/>
die klassische Kunst zu beschränken. Die Aufklärung, kirchenfeindlich, war voll<lb/>
Scheu vor jenen märchenhaften oder pomphaften Darstellungen aus dem christ¬<lb/>
lichen Mythenkreise, die bald zwei Jahrtausende lang die Kunst fast ausschließlich<lb/>
beschäftigt hatten, und wies zum Ersatze auf die olympischen Götter, die harmlos</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0339] Goethes Briefe aus Italien. treuen Augen im Vaterlande hat wachsen sehen, was ihm in Mannesjahren die Phantasie als Ideal ausgebildet hat. Ein Künstler, der mit seinem Volke nicht mehr zusammenlebt, der aus der Seele des Volkes nicht seine tägliche Nahrung ziehen kann, ist wie ein Fisch ohne Wasser, wenn er nicht wie ein glatter Salamander ist, der sich in jedem Elemente zurecht findet. Ausführung und Gegenstand hingen bisher notwendig zusammen, Bemühen mußte man sich um die technischen Mittel, die Bewältigung der Formen lernte der Schüler. Aber niemals bemühte sich ein Künstler um die Gegenstände. Die waren da, sie erzeugte der Tag. Die Vorstellungen, deren die allgewaltige Kirche, deren die Frömmigkeit oder die Prachtliebe des Einzelnen bedürfte, sie riefen nur nach dem Künstler, damit er sie verkörpere. Niemand hatte bisher noch so niedrig von der Kunst gedacht, daß er an ihrer Kraft gezweifelt Hütte, die auf¬ gegebenen Stoffe zu bewältigen. Es war eine gute Zeit, in der überall das Bedürfnis nach Kunst früher da war, als das Kunstwerk, das es be¬ friedigen sollte. Diese Zeit war nun vorbei, der natürliche Zusammenhang von Poesie und Religion des Volkes mit der bildenden Kunst war schnell vergessen, man hatte die Kunst gleichsam abgezogen, sie als besondere köstliche Drogue für seltenen Gebrauch beiseite gestellt. Die Kunst war erschöpft, und man glaubte, nicht das Alter, sondern schlechte Nahrung habe sie auf den Tod gebracht. Durch erlesene Krankenkost wollte man ihr wieder aufhelfen. Es beginnt das Suchen nach fruchtbaren Gegenständen für die Kunst. Goethe selbst hat manche schöne Tage mit Nachsinnen über neue Aufgaben verdorben. Das allgemeine Heil¬ mittel glaubte man in Stoffen aus der antiken Poesie in Nachbildung antiker Kunstwerke zu finden. Inzwischen war nämlich ein weittragendes Ereignis eingetreten. Eben als sich die Kunst ausgelebt hatte, trat ein Pfadfinder auf, der das Interesse für sie in andrer Weise neu zu beleben wußte. Winkelmann hatte die Kunstgeschichte begründet. Weil er aber mit antiker Kunst begonnen hatte, in ihr mit Weitsicht aus beschränktem Material eine geschichtliche Entwicklung entdeckt, auf die Mannichfaltigkeit und das Besondere ihrer Gegenstände aufmerksam gemacht hatte, meinte man mit leicht begreiflicher Verwechslung in der Nachahmung dieser Kunst, vor allen in der Inspiration durch dieselben Gegenstände, die Rettung aus Zuständen der Schwäche zu finden, und vergaß, daß jene Gegen¬ stände und Formen des Wichtigsten ermangelten, was sie zu ihrer Zeit aus¬ gezeichnet hatte, der Gemeinverständlichkeit. Noch andre Umstünde wirkten zusammen, das Interesse ausschließlich auf die klassische Kunst zu beschränken. Die Aufklärung, kirchenfeindlich, war voll Scheu vor jenen märchenhaften oder pomphaften Darstellungen aus dem christ¬ lichen Mythenkreise, die bald zwei Jahrtausende lang die Kunst fast ausschließlich beschäftigt hatten, und wies zum Ersatze auf die olympischen Götter, die harmlos

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/339
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/339>, abgerufen am 23.07.2024.