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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

Verfassung unsers eilten Reiches in weiteren Kreisen so gut wie gänzlich un¬
bekannt. Es dürfte daher nicht bloß nicht überflüssig, sondern namentlich unter
den heutigen Verhältnissen recht zeitgemäß und anziehend sein, dem Leser
einmal ein etwas eingehenderes Bild der Zustände im alten Reiche vor Augen
zu führen.

Das heilige römische Reich deutscher Nation, sacrum Iinxorwm, Ronrg.no-
Llsrnmniouin, war eigentlich nicht, wie man nach der landläufigen Überlieferung
Wohl sagt, von Karl dem Großen gegründet worden, sondern von jenen beiden
gewaltigen Heidenfürsten sächsischen Stammes, Heinrich I. und Otto I. Von
letzterem Kaiser rührt auch der Name her, der in späteren Jahrhunderten zu
so vielfachem Spotte Veranlassung gab; man Pflegte ja zu sagen, es heiße
heiliges römisches Reich, weil es weder heilig sei, noch römisch, noch Reich
(oder reich, was ebenso richtig war). Jenes heilige Reich war eigentlich und
thatsächlich aufgelöst durch den westfälischen Frieden, und jene beiden ivstrn-
nröQw of-vis NonWtsi'iousis und OsnaornAsnÄs waren gewissermaßen die
Todesurkunden, durch welche die gelahrten und wohlfürsichtigen diplomatischen
Giftküche der damaligen Zeit beglaubigten, daß jenes mächtige Reich der
Ottonen, der Heinriche und Friedriche unter den Trümmern und der Asche
seiner Städte und Dörfer, unter den Leichen vieler Tausende seiner Einwohner,
unter Blut und Thränen der wenigen und heruntergekommenen Überlebenden
abgeschieden sei aus der Reihe der lebendigen Staaten. Und wahrlich, wie ein
Toter nnter Lebenden, wie ein Gespenst, behängen mit prunkenden, aber faden¬
scheinigen und mottenzerfressenem Flitterkram, stand das alte Reich da unter
den lebenskräftigen Staatenbildungen der Neuzeit.

Der westfälische Friede hatte aus dem Reiche ein buntes, fast unüberseh¬
bares Gemisch größerer, kleiner und kleinster Staaten gemacht, die in Wahrheit
selbständig und fast unabhängig von der Reichsgewalt waren. Sogar das
Mg toeäsruin war durch jenen Frieden jedem Reichsstände gewährleistet, d. h.
das Recht, nicht bloß unter einander, sondern auch mit dem Auslande Bündnisse
abzuschließen, allerdings mit dem klugen Vorbehalte, daß solche Bündnisse niemals
gegen Kaiser und Reich gerichtet sein dürften. Was dieser Vorbehalt wert ge¬
wesen ist, zeigt die Geschichte. Aber die Rcichspublizisten, alle Partikularistischen
und zentrifugalen Elemente im Reiche konnten nicht genug des Lobes finden
für diesen Frieden, durch den die sogenannte livsrtg.8 AvrmMieg,, die deutsche
Libertüt, begründet und gesichert sei. Das edle Wort "Freiheit" für diesen
Zustand anzuwenden, wäre grober Mißbrauch. Denn in Wirklichkeit bestand
jene Libertüt darin, daß jeder kleine und kleinste Winkeltyrann gegen seine
unglücklichen Unterthanen sich die schamlosesten Willkürlichkeiten und Ungesetzlich¬
keiten erlauben konnte, ohne daß Kaiser und Reich dem drangsalirtcn Volke
.Hilfe schaffen konnten; sie bestand darin, daß jedes noch so kleine Territorium,
jede noch so verrottete Reichsstadt die thörichtsten und widersinnigsten Gesetze


Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert.

Verfassung unsers eilten Reiches in weiteren Kreisen so gut wie gänzlich un¬
bekannt. Es dürfte daher nicht bloß nicht überflüssig, sondern namentlich unter
den heutigen Verhältnissen recht zeitgemäß und anziehend sein, dem Leser
einmal ein etwas eingehenderes Bild der Zustände im alten Reiche vor Augen
zu führen.

Das heilige römische Reich deutscher Nation, sacrum Iinxorwm, Ronrg.no-
Llsrnmniouin, war eigentlich nicht, wie man nach der landläufigen Überlieferung
Wohl sagt, von Karl dem Großen gegründet worden, sondern von jenen beiden
gewaltigen Heidenfürsten sächsischen Stammes, Heinrich I. und Otto I. Von
letzterem Kaiser rührt auch der Name her, der in späteren Jahrhunderten zu
so vielfachem Spotte Veranlassung gab; man Pflegte ja zu sagen, es heiße
heiliges römisches Reich, weil es weder heilig sei, noch römisch, noch Reich
(oder reich, was ebenso richtig war). Jenes heilige Reich war eigentlich und
thatsächlich aufgelöst durch den westfälischen Frieden, und jene beiden ivstrn-
nröQw of-vis NonWtsi'iousis und OsnaornAsnÄs waren gewissermaßen die
Todesurkunden, durch welche die gelahrten und wohlfürsichtigen diplomatischen
Giftküche der damaligen Zeit beglaubigten, daß jenes mächtige Reich der
Ottonen, der Heinriche und Friedriche unter den Trümmern und der Asche
seiner Städte und Dörfer, unter den Leichen vieler Tausende seiner Einwohner,
unter Blut und Thränen der wenigen und heruntergekommenen Überlebenden
abgeschieden sei aus der Reihe der lebendigen Staaten. Und wahrlich, wie ein
Toter nnter Lebenden, wie ein Gespenst, behängen mit prunkenden, aber faden¬
scheinigen und mottenzerfressenem Flitterkram, stand das alte Reich da unter
den lebenskräftigen Staatenbildungen der Neuzeit.

Der westfälische Friede hatte aus dem Reiche ein buntes, fast unüberseh¬
bares Gemisch größerer, kleiner und kleinster Staaten gemacht, die in Wahrheit
selbständig und fast unabhängig von der Reichsgewalt waren. Sogar das
Mg toeäsruin war durch jenen Frieden jedem Reichsstände gewährleistet, d. h.
das Recht, nicht bloß unter einander, sondern auch mit dem Auslande Bündnisse
abzuschließen, allerdings mit dem klugen Vorbehalte, daß solche Bündnisse niemals
gegen Kaiser und Reich gerichtet sein dürften. Was dieser Vorbehalt wert ge¬
wesen ist, zeigt die Geschichte. Aber die Rcichspublizisten, alle Partikularistischen
und zentrifugalen Elemente im Reiche konnten nicht genug des Lobes finden
für diesen Frieden, durch den die sogenannte livsrtg.8 AvrmMieg,, die deutsche
Libertüt, begründet und gesichert sei. Das edle Wort „Freiheit" für diesen
Zustand anzuwenden, wäre grober Mißbrauch. Denn in Wirklichkeit bestand
jene Libertüt darin, daß jeder kleine und kleinste Winkeltyrann gegen seine
unglücklichen Unterthanen sich die schamlosesten Willkürlichkeiten und Ungesetzlich¬
keiten erlauben konnte, ohne daß Kaiser und Reich dem drangsalirtcn Volke
.Hilfe schaffen konnten; sie bestand darin, daß jedes noch so kleine Territorium,
jede noch so verrottete Reichsstadt die thörichtsten und widersinnigsten Gesetze


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[0314] Die Verfassung des deutschen Reiches im vorigen Jahrhundert. Verfassung unsers eilten Reiches in weiteren Kreisen so gut wie gänzlich un¬ bekannt. Es dürfte daher nicht bloß nicht überflüssig, sondern namentlich unter den heutigen Verhältnissen recht zeitgemäß und anziehend sein, dem Leser einmal ein etwas eingehenderes Bild der Zustände im alten Reiche vor Augen zu führen. Das heilige römische Reich deutscher Nation, sacrum Iinxorwm, Ronrg.no- Llsrnmniouin, war eigentlich nicht, wie man nach der landläufigen Überlieferung Wohl sagt, von Karl dem Großen gegründet worden, sondern von jenen beiden gewaltigen Heidenfürsten sächsischen Stammes, Heinrich I. und Otto I. Von letzterem Kaiser rührt auch der Name her, der in späteren Jahrhunderten zu so vielfachem Spotte Veranlassung gab; man Pflegte ja zu sagen, es heiße heiliges römisches Reich, weil es weder heilig sei, noch römisch, noch Reich (oder reich, was ebenso richtig war). Jenes heilige Reich war eigentlich und thatsächlich aufgelöst durch den westfälischen Frieden, und jene beiden ivstrn- nröQw of-vis NonWtsi'iousis und OsnaornAsnÄs waren gewissermaßen die Todesurkunden, durch welche die gelahrten und wohlfürsichtigen diplomatischen Giftküche der damaligen Zeit beglaubigten, daß jenes mächtige Reich der Ottonen, der Heinriche und Friedriche unter den Trümmern und der Asche seiner Städte und Dörfer, unter den Leichen vieler Tausende seiner Einwohner, unter Blut und Thränen der wenigen und heruntergekommenen Überlebenden abgeschieden sei aus der Reihe der lebendigen Staaten. Und wahrlich, wie ein Toter nnter Lebenden, wie ein Gespenst, behängen mit prunkenden, aber faden¬ scheinigen und mottenzerfressenem Flitterkram, stand das alte Reich da unter den lebenskräftigen Staatenbildungen der Neuzeit. Der westfälische Friede hatte aus dem Reiche ein buntes, fast unüberseh¬ bares Gemisch größerer, kleiner und kleinster Staaten gemacht, die in Wahrheit selbständig und fast unabhängig von der Reichsgewalt waren. Sogar das Mg toeäsruin war durch jenen Frieden jedem Reichsstände gewährleistet, d. h. das Recht, nicht bloß unter einander, sondern auch mit dem Auslande Bündnisse abzuschließen, allerdings mit dem klugen Vorbehalte, daß solche Bündnisse niemals gegen Kaiser und Reich gerichtet sein dürften. Was dieser Vorbehalt wert ge¬ wesen ist, zeigt die Geschichte. Aber die Rcichspublizisten, alle Partikularistischen und zentrifugalen Elemente im Reiche konnten nicht genug des Lobes finden für diesen Frieden, durch den die sogenannte livsrtg.8 AvrmMieg,, die deutsche Libertüt, begründet und gesichert sei. Das edle Wort „Freiheit" für diesen Zustand anzuwenden, wäre grober Mißbrauch. Denn in Wirklichkeit bestand jene Libertüt darin, daß jeder kleine und kleinste Winkeltyrann gegen seine unglücklichen Unterthanen sich die schamlosesten Willkürlichkeiten und Ungesetzlich¬ keiten erlauben konnte, ohne daß Kaiser und Reich dem drangsalirtcn Volke .Hilfe schaffen konnten; sie bestand darin, daß jedes noch so kleine Territorium, jede noch so verrottete Reichsstadt die thörichtsten und widersinnigsten Gesetze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/314>, abgerufen am 23.07.2024.