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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

Vaterlandsliebe, die sie atmen, bewundert, dabei aber den Schluß zu ziehen
vergessen, daß sie wegen dieser Gefühle und Ideen nicht im Mittelalter ent¬
standen sein können, das davon nichts wußte. Man hat sie dann als volks¬
tümlich gepriesen und, als sich das nicht mehr gut behaupten ließ, wenigstens
gemeint, sie seien auf Grund uralter slawischer Volksdichtungen entstanden und
für das Volk geschrieben worden. Volkstümlich oder nicht heißt aber hier ächt
oder unächt, und so betrachten wir mit Massaryk zunächst einige der lyrischen
Gedichte von diesem Gesichtspunkte aus. Ju dem russischen Vorbilde des
"Zbyhon" wird zuerst ein Tauber gefragt, warum er so traurig sei, und er ant¬
wortet, seine Taube sei ihm erschossen. Dann ergeht dieselbe Frage an einen
Jüngling, und er erwiedert, sein Mädchen sei mit einem andern vermählt worden.
Der tschechische Nachahmer aber läßt den Jüngling sich am Anblick des girrenden
Taubenmäunchens begeistern. "Wärest du bewaffnet sagt er, so würdest dn mit
dem Ränber kämpfen"; worauf er sich rüstet, die Burg erstürmt, alles darin um¬
bringt und schließlich des Taubers Weibchen findet und befreit. Das sind weder
volkstümliche noch geschickte Zusätze. Die Taube gilt nirgends als tapferer Vogel,
und ein junger Held, der erst die ganze Besatzung einer Burg mordet und
dann die Nacht hindurch mit seinem Mädchen das Lager teilt, girrt nicht
empfindsam mit Tauben. In dem Volksliede, welches im "Sträußchen" der
Handschrift verballhornt ist, blüht zu Häupten eines Burschen ein Rosmarin¬
strauch. Er läßt ihn in ein Wasser fallen, damit ihn die ausfische, die sein
Schatz zu werden bestimmt ist. Müllers Ludmilla geht mit andern Mädchen
zum Bache, um Wasser zu schöpfen, der Nosmarinstrauß schwimmt auf sie zu,
und als sie sich darnach bückt, fällt und ertrinkt sie. Das Lied schließt mit ihrem
Begräbnis. Ganz uuvolkstümlich und unnatürlich dagegen der Nachahmer, bei
dem das Mädchen erst, nachdem sie ins Wasser gefallen ist, mit der Blume sich
unterhält; ein Volkslied von einem Strauße aus Veilchen und Rosen redet, die
man nur im Treibhause beieinander sehen kann, und das Mädchen von jemand
spricht, der den "Strauß" in die Erde gepflanzt hat. Die slawische Volks¬
dichtung liebt konkrete Schilderungen. "Die Erdbeeren" der Handschrift und
"Der Hirsch" zeigen davon nicht das Geringste. Im letzteren Liede pflegt ein
ungenannter Jüngling über ungenannte Berge und Thäler zu wandeln und
"dort" Feindesschcmren zu vernichten, die ebenfalls ungenannt bleiben. Zuletzt
wird er von ihnen erschlagen. Der "parallele" Hirsch aber bleibt am Leben
und springt noch mit raschen Füßen durch den Wald, als auf dem Grabe des
jungen Anonymus schon eine hohe Eiche steht. Die anonymen Jungfrauen, die
ihn betrauern, klagen auch jetzt noch um ihn. Abgeschmackt zwar, aber nicht
volkstümlich ist die Gradation im "Kukuk": "Wie könnte Getreide reifen, wenn
es immer Frühling wäre? Wie könnten Äpfel reifen, wenn es immer Sommer
wäre? Wie könnten die Ähren im Schober frieren, wenn es immer Herbst wäre?
Wie sollte das Mägdlein traurig sein, wenn es immer allein wäre?" Bei den


Deutsch-böhmische Briefe.

Vaterlandsliebe, die sie atmen, bewundert, dabei aber den Schluß zu ziehen
vergessen, daß sie wegen dieser Gefühle und Ideen nicht im Mittelalter ent¬
standen sein können, das davon nichts wußte. Man hat sie dann als volks¬
tümlich gepriesen und, als sich das nicht mehr gut behaupten ließ, wenigstens
gemeint, sie seien auf Grund uralter slawischer Volksdichtungen entstanden und
für das Volk geschrieben worden. Volkstümlich oder nicht heißt aber hier ächt
oder unächt, und so betrachten wir mit Massaryk zunächst einige der lyrischen
Gedichte von diesem Gesichtspunkte aus. Ju dem russischen Vorbilde des
„Zbyhon" wird zuerst ein Tauber gefragt, warum er so traurig sei, und er ant¬
wortet, seine Taube sei ihm erschossen. Dann ergeht dieselbe Frage an einen
Jüngling, und er erwiedert, sein Mädchen sei mit einem andern vermählt worden.
Der tschechische Nachahmer aber läßt den Jüngling sich am Anblick des girrenden
Taubenmäunchens begeistern. „Wärest du bewaffnet sagt er, so würdest dn mit
dem Ränber kämpfen"; worauf er sich rüstet, die Burg erstürmt, alles darin um¬
bringt und schließlich des Taubers Weibchen findet und befreit. Das sind weder
volkstümliche noch geschickte Zusätze. Die Taube gilt nirgends als tapferer Vogel,
und ein junger Held, der erst die ganze Besatzung einer Burg mordet und
dann die Nacht hindurch mit seinem Mädchen das Lager teilt, girrt nicht
empfindsam mit Tauben. In dem Volksliede, welches im „Sträußchen" der
Handschrift verballhornt ist, blüht zu Häupten eines Burschen ein Rosmarin¬
strauch. Er läßt ihn in ein Wasser fallen, damit ihn die ausfische, die sein
Schatz zu werden bestimmt ist. Müllers Ludmilla geht mit andern Mädchen
zum Bache, um Wasser zu schöpfen, der Nosmarinstrauß schwimmt auf sie zu,
und als sie sich darnach bückt, fällt und ertrinkt sie. Das Lied schließt mit ihrem
Begräbnis. Ganz uuvolkstümlich und unnatürlich dagegen der Nachahmer, bei
dem das Mädchen erst, nachdem sie ins Wasser gefallen ist, mit der Blume sich
unterhält; ein Volkslied von einem Strauße aus Veilchen und Rosen redet, die
man nur im Treibhause beieinander sehen kann, und das Mädchen von jemand
spricht, der den „Strauß" in die Erde gepflanzt hat. Die slawische Volks¬
dichtung liebt konkrete Schilderungen. „Die Erdbeeren" der Handschrift und
„Der Hirsch" zeigen davon nicht das Geringste. Im letzteren Liede pflegt ein
ungenannter Jüngling über ungenannte Berge und Thäler zu wandeln und
„dort" Feindesschcmren zu vernichten, die ebenfalls ungenannt bleiben. Zuletzt
wird er von ihnen erschlagen. Der „parallele" Hirsch aber bleibt am Leben
und springt noch mit raschen Füßen durch den Wald, als auf dem Grabe des
jungen Anonymus schon eine hohe Eiche steht. Die anonymen Jungfrauen, die
ihn betrauern, klagen auch jetzt noch um ihn. Abgeschmackt zwar, aber nicht
volkstümlich ist die Gradation im „Kukuk": „Wie könnte Getreide reifen, wenn
es immer Frühling wäre? Wie könnten Äpfel reifen, wenn es immer Sommer
wäre? Wie könnten die Ähren im Schober frieren, wenn es immer Herbst wäre?
Wie sollte das Mägdlein traurig sein, wenn es immer allein wäre?" Bei den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/298>, abgerufen am 23.07.2024.