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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Deutsch-bölMlsche Briefe.

der einen Lesart fielen sie von einem Schranke, nach der andern fand er sie
unter uralten Pfeilspitzen. Es waren zwölf ganze und zwei der Länge nach
durchgeschnittene Blätter, die mit sehr kleiner Schrift bedeckt waren und, wie
nähere Besichtigung zeigte, vierzehn Gedichte und Bruchstücke von solchen enthielten.
1819 ging ihr Text in Begleitung einer neutschechischen und einer deutschen
Übersetzung gedruckt in die Welt, die den Schatz mit freudigem Erstaunen
aufnahm, welches u. a. auch von Goethe und Grimm geteilt wurde. 1845
folgte eine besondre deutsche Übersetzung, besorgt vom Grafen Thun, 1852 eine
Polyglotte der Handschrift, die sie fast allen Völkern Europas zugänglich machte,
1873 erschien eine illustrirte Ausgabe des Fundes, der, wie inzwischen die Ge¬
brüder Jiretschek nachgewiesen hatten, aus dem dreizehnten Jahrhundert stammte
und teils ans epischen, teils aus lyrischen Dichtungen bestand. Von jenen bezog
sich die erste auf die von der Hajekschen Chronik berichtete Vertreibung der
Polen aus Prag, die 1004 stattgefunden hatte, die zweite behandelte die Niederlage
einer sächsischen Kriegerschaar, die dritte schilderte den Sieg, den 1241 die von
Jaroslaw geführten Tschechen bei Olmütz über die Mongolen erfochten hatten
oder erfochten haben sollten, das vierte Gedicht betraf die Besiegung Vlaslaws,
den der Chronist Kosinas erwähnt, das fünfte beschrieb ein Turnier mittel¬
alterlicher Tschechenritter, das sechste endlich erzählte den siegreichen Kampf
der heidnischen Häuptlinge Zaboj und Slavoj mit einem christlichen Heere
unter einem gewissen Lübek, der 805 stattgefunden haben sollte.

Die Ansehen der Handschrift Hcuckas wurde, nachdem letztere durch Scha-
fariks Einleitung und Palaekys Anmerkungen zu der Thunschen Ausgabe zu
einem Nationalschatze ersten Ranges erhoben worden war, ein Gegenstand eifer¬
vollen Streites. Schon Kopitar bezweifelte sie, während Grimm und Pertz sie
anerkannten. Später, 18S8, erhoben Sembera, dann Büdinger und Watten¬
bach, jener 18S9, dieser 1863, vom historischen, endlich Feifalik (1860) von
paläographischem Standpunkte schwere Bedenken gegen sie, wogegen Nebesky
und die Jiretschcks mit Verteidigungsschriften für sie zu Felde zogen. Der Streit
schlummerte dann einige Zeit. Die deutschen Gelehrten hielten ihn für ent¬
schieden und zwar gegen Hankas Machwerk, die tschechischen ließen ihn aus "patrio¬
tischen" Gründen ruhen, auch wo sie den Deutschen im Stillen beipflichteten,
zumal da sie fürchten mußten, durch Zweifel an dem Werte des gefeierten "alt¬
tschechischen Literaturdenkmals," sich unter ihrer Nation bittere Feindschaft
auf den Hals zu ziehen. Da hatten im vorigen Jahre zwei jüngere tschechische
Professoren den Mut, sich über diese Bedenken ihrer Kollegen hinwegzusetzen
und der Wahrheit die Ehre zu geben. Im Februarhefte der vom Professor Ma-
saryk redigirten Monatsschrift "Athenäum" veröffentlichte Professor Gebauer einen
Artikel "Über die Notwendigkeit weiterer Prüfungen der Königinhofer und der
Grüueberger Handschrift," in welchem beide gründlich zerfasert und damit für
alle Vorurteilsfreien endgiltig abgethan wurden. Hier soll uns nur das, was


Deutsch-bölMlsche Briefe.

der einen Lesart fielen sie von einem Schranke, nach der andern fand er sie
unter uralten Pfeilspitzen. Es waren zwölf ganze und zwei der Länge nach
durchgeschnittene Blätter, die mit sehr kleiner Schrift bedeckt waren und, wie
nähere Besichtigung zeigte, vierzehn Gedichte und Bruchstücke von solchen enthielten.
1819 ging ihr Text in Begleitung einer neutschechischen und einer deutschen
Übersetzung gedruckt in die Welt, die den Schatz mit freudigem Erstaunen
aufnahm, welches u. a. auch von Goethe und Grimm geteilt wurde. 1845
folgte eine besondre deutsche Übersetzung, besorgt vom Grafen Thun, 1852 eine
Polyglotte der Handschrift, die sie fast allen Völkern Europas zugänglich machte,
1873 erschien eine illustrirte Ausgabe des Fundes, der, wie inzwischen die Ge¬
brüder Jiretschek nachgewiesen hatten, aus dem dreizehnten Jahrhundert stammte
und teils ans epischen, teils aus lyrischen Dichtungen bestand. Von jenen bezog
sich die erste auf die von der Hajekschen Chronik berichtete Vertreibung der
Polen aus Prag, die 1004 stattgefunden hatte, die zweite behandelte die Niederlage
einer sächsischen Kriegerschaar, die dritte schilderte den Sieg, den 1241 die von
Jaroslaw geführten Tschechen bei Olmütz über die Mongolen erfochten hatten
oder erfochten haben sollten, das vierte Gedicht betraf die Besiegung Vlaslaws,
den der Chronist Kosinas erwähnt, das fünfte beschrieb ein Turnier mittel¬
alterlicher Tschechenritter, das sechste endlich erzählte den siegreichen Kampf
der heidnischen Häuptlinge Zaboj und Slavoj mit einem christlichen Heere
unter einem gewissen Lübek, der 805 stattgefunden haben sollte.

Die Ansehen der Handschrift Hcuckas wurde, nachdem letztere durch Scha-
fariks Einleitung und Palaekys Anmerkungen zu der Thunschen Ausgabe zu
einem Nationalschatze ersten Ranges erhoben worden war, ein Gegenstand eifer¬
vollen Streites. Schon Kopitar bezweifelte sie, während Grimm und Pertz sie
anerkannten. Später, 18S8, erhoben Sembera, dann Büdinger und Watten¬
bach, jener 18S9, dieser 1863, vom historischen, endlich Feifalik (1860) von
paläographischem Standpunkte schwere Bedenken gegen sie, wogegen Nebesky
und die Jiretschcks mit Verteidigungsschriften für sie zu Felde zogen. Der Streit
schlummerte dann einige Zeit. Die deutschen Gelehrten hielten ihn für ent¬
schieden und zwar gegen Hankas Machwerk, die tschechischen ließen ihn aus „patrio¬
tischen" Gründen ruhen, auch wo sie den Deutschen im Stillen beipflichteten,
zumal da sie fürchten mußten, durch Zweifel an dem Werte des gefeierten „alt¬
tschechischen Literaturdenkmals," sich unter ihrer Nation bittere Feindschaft
auf den Hals zu ziehen. Da hatten im vorigen Jahre zwei jüngere tschechische
Professoren den Mut, sich über diese Bedenken ihrer Kollegen hinwegzusetzen
und der Wahrheit die Ehre zu geben. Im Februarhefte der vom Professor Ma-
saryk redigirten Monatsschrift „Athenäum" veröffentlichte Professor Gebauer einen
Artikel „Über die Notwendigkeit weiterer Prüfungen der Königinhofer und der
Grüueberger Handschrift," in welchem beide gründlich zerfasert und damit für
alle Vorurteilsfreien endgiltig abgethan wurden. Hier soll uns nur das, was


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/295>, abgerufen am 25.08.2024.