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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Anwachsen der unterworfenen keltischen und slawischen Vorbewohner, oder gar
turcmischer Uransässigcr erwiesen findet. Daß eine so tief eingreifende Mischung
zweier ganz verschiedenen Bevölkerungen auch für die Würdigung des Volks-
charakters den geschichtlichen Zusammenhang in Frage stellen könnte, ist nicht zu
leugnen. Der körperlichen Umstimmung müßte wohl die geistige bis zu einem
gewissen Grade entsprechen. Aber die rein geschichtliche Betrachtung kann ihrer¬
seits so weitgehenden Folgerungen aus körperlichen Veränderungen keinen Anhalt
bieten, besonders so lange die geschichtlichen Grttude genügende Erklärung bieten
für einzelne Abweichungen und Umstimmungen. Nun läßt sich einerseits schon
das Maß fremdbürtiger Beimischung durchaus nicht derart nachweisen, daß mau
von dessen andauernder Nachwirkung reden könnte. Für die Urzeit einen starken
Anteil unfreier und zugleich urgermanischer Bevölkerung anzunehmen, geht wohl
kaum an, liegt auch gar nicht in der Meinung jener Lehre. Daß aber die auf
römischem Gebiete sich festsetzenden Baiern und Alamannen eine irgendwie ge¬
drängte Vorbevölkerung vorgefunden und gelassen hätten, ist nach dem Ver¬
hältnis der Ortsnamen in Abrede zu stellen, besonders gegenüber der Zähigkeit
der thatsächlichen Ausnahmen in Tirol nud Graubünden. Die zahlreicheren
Fluß-, auch Gebirgsnamen laden zu einer Vergleichung mit den indianischen
Namen in Nordamerika ein. Und die alte Bausch- und Bogeubehauptnug von
der slawischen Abstammung der jetzigen Ostdeutschen jenseits der Elbe bedarf
doch auch wirklich keiner eingehenden abwägenden Widerlegung. Und bevor
man in spätern geschichtlichen Umständen die Annahme einer durchgreifenden
körperlichen Nassen- und Vvlksmischuug begründen will, liegt es doch wirklich
nahe, zu überlegen, ob die körperliche Scheidung des altheimischen Typus nicht
wenigstens teilweise durch anderweitige natürliche Einflüsse, Änderung des
Klimas, der Nahrung und Lebeusweise, wie verminderten Aufenthalt im Freien,
Verweichlichung, Gebrauch vou Wein und Gewürzen, Erklärung finden könnte.
Dunkele doch Helles Kinderhaar mit zunehmende" Jahren fast immer mehr
oder weniger; die starre Dauer der Rassenmerkmale, wie sie manche Anthropo¬
logen behaupten, hat auch recht viele Wahrnehmungen gegen sich. Für das
Völkerleben und dessen geschichtliche Betrachtung tritt jedenfalls die Einheit der
Abstammung zurück gegenüber der geistigen Einheit und Entwicklung.

Einen andern Einwand fände die Annahme eines deutschen Gesamtvolks-
charakters in der Zusammensetzung des Volkes ans Volksstämmen, die von
Anfang her scharf getrennt waren. Aber von vornherein sehen wir ab von
jener Reihe germanischer Völkerschaften, die, schon bei Beginn unsrer Geschichte
als Ostgermancn in abweichender Entwicklung begriffen, durch die Ereignisse der
Völkerwanderung der nationalen Zersetzung zugeführt wurden, wenn sie anch,
in neue Völkerverbiudungeu übergegangen, germanische Eigenschaften nud
Charakterzüge auf diese übertragen haben. Beschränken wir vielmehr Name"
und Geltung der Vorfahren auf diejenigen germanischen Stämme, die beim


Anwachsen der unterworfenen keltischen und slawischen Vorbewohner, oder gar
turcmischer Uransässigcr erwiesen findet. Daß eine so tief eingreifende Mischung
zweier ganz verschiedenen Bevölkerungen auch für die Würdigung des Volks-
charakters den geschichtlichen Zusammenhang in Frage stellen könnte, ist nicht zu
leugnen. Der körperlichen Umstimmung müßte wohl die geistige bis zu einem
gewissen Grade entsprechen. Aber die rein geschichtliche Betrachtung kann ihrer¬
seits so weitgehenden Folgerungen aus körperlichen Veränderungen keinen Anhalt
bieten, besonders so lange die geschichtlichen Grttude genügende Erklärung bieten
für einzelne Abweichungen und Umstimmungen. Nun läßt sich einerseits schon
das Maß fremdbürtiger Beimischung durchaus nicht derart nachweisen, daß mau
von dessen andauernder Nachwirkung reden könnte. Für die Urzeit einen starken
Anteil unfreier und zugleich urgermanischer Bevölkerung anzunehmen, geht wohl
kaum an, liegt auch gar nicht in der Meinung jener Lehre. Daß aber die auf
römischem Gebiete sich festsetzenden Baiern und Alamannen eine irgendwie ge¬
drängte Vorbevölkerung vorgefunden und gelassen hätten, ist nach dem Ver¬
hältnis der Ortsnamen in Abrede zu stellen, besonders gegenüber der Zähigkeit
der thatsächlichen Ausnahmen in Tirol nud Graubünden. Die zahlreicheren
Fluß-, auch Gebirgsnamen laden zu einer Vergleichung mit den indianischen
Namen in Nordamerika ein. Und die alte Bausch- und Bogeubehauptnug von
der slawischen Abstammung der jetzigen Ostdeutschen jenseits der Elbe bedarf
doch auch wirklich keiner eingehenden abwägenden Widerlegung. Und bevor
man in spätern geschichtlichen Umständen die Annahme einer durchgreifenden
körperlichen Nassen- und Vvlksmischuug begründen will, liegt es doch wirklich
nahe, zu überlegen, ob die körperliche Scheidung des altheimischen Typus nicht
wenigstens teilweise durch anderweitige natürliche Einflüsse, Änderung des
Klimas, der Nahrung und Lebeusweise, wie verminderten Aufenthalt im Freien,
Verweichlichung, Gebrauch vou Wein und Gewürzen, Erklärung finden könnte.
Dunkele doch Helles Kinderhaar mit zunehmende» Jahren fast immer mehr
oder weniger; die starre Dauer der Rassenmerkmale, wie sie manche Anthropo¬
logen behaupten, hat auch recht viele Wahrnehmungen gegen sich. Für das
Völkerleben und dessen geschichtliche Betrachtung tritt jedenfalls die Einheit der
Abstammung zurück gegenüber der geistigen Einheit und Entwicklung.

Einen andern Einwand fände die Annahme eines deutschen Gesamtvolks-
charakters in der Zusammensetzung des Volkes ans Volksstämmen, die von
Anfang her scharf getrennt waren. Aber von vornherein sehen wir ab von
jener Reihe germanischer Völkerschaften, die, schon bei Beginn unsrer Geschichte
als Ostgermancn in abweichender Entwicklung begriffen, durch die Ereignisse der
Völkerwanderung der nationalen Zersetzung zugeführt wurden, wenn sie anch,
in neue Völkerverbiudungeu übergegangen, germanische Eigenschaften nud
Charakterzüge auf diese übertragen haben. Beschränken wir vielmehr Name»
und Geltung der Vorfahren auf diejenigen germanischen Stämme, die beim


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/29>, abgerufen am 23.07.2024.