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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

lose Erwttrgnng zahlloser tapferer freiheitsliebender Nationen. Denn der Zweck,
richtiger die Folge, versöhnt mit den Mitteln und Opfern der allgemeinen Ordnung
und Sicherheit zur Zeit der Kaiserherrschaft. Ebenso versöhnend ist die Be¬
trachtung, daß die Ureinwohner Amerikas verschwinden mußten vor Missionären
und Bluthunden, um zur Begründung einer höhern christlichen Kultur Platz
zu machen, denn "wie groß auch die Leiden und Bedrückungen der lebenden
Geschlechter waren, Land und Volk wurden durch die Eroberung einem wür¬
digeren Lebensziel entgegen geführt." Für diese Auffassung der Vorgeschichte
ist allerdings die Ausbreitung der Religion, der Kultur und Bildung, der
Wissenschaft und Kunst die Hauptsache -- Dinge die doch nicht an sich und für
sich bestehen, sondern nur durch soziale Gliederungen, die sie Pflegen, den An¬
schein selbständiger Fortpflanzungskraft erhalten und immer wieder fast von vorn
anfangen --, für diese Auffassung, welche ihr zugestandenermaßen durch Aus¬
wahl und Beschränkung des Stoffes erst ermöglichtes Lehrgebäude aus der
Not eine Tugend machend mit dem stolzen Namen einer Universal- oder Welt¬
geschichte oder gar Geschichtsphilosophie belegt, erscheinen freilich besondre Eigen¬
tümlichkeiten der Völker, in denen sie selbst ihr Teuerstes und Eigenstes sehen
und verteidigen, nur als untergeordnet und zurücktretend gegenüber den Ge¬
setzen und Bedingungen der Entwicklung der Kultur und Ordnung, fast als
bedauerliches Hemmnis des stetigen Fortschrittes auf das Ideal der Huma¬
nität zu.

Dagegen ist aufs nachdrücklichste jener von aller matten Teleologie geläuterte
wissenschaftliche und poetische Standpunkt zu betonen, wie er sich etwa kurz aus¬
drücken läßt mit den Worten "Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an
Blüte." Für ihn ist die Chronologie nicht ohne weiteres der Fortschritt; die
Formen des Lebens werden Wohl verwickelter und schwieriger zu verstehen, aber
alles Lebens trügt sein Gesetz und seinen Zweck in sich, indem es sich ansieht nach
den Kräften, die es zu seiner Behauptung aufzubringen vermag. Der Kampf uns
Dasein gilt auch für die Völkergeschichte; von dem Maß der Kräfte natürlicher und
geselliger Ausstattung, das ein Volk für die Aufrechterhaltung seiner Eigenart in
die Wagschale zu werfen vermag, hängt seine Selbständigkeit und Dauer ub.
Alle die sogencinuteu Kulturerruugenschaften sind nur ein Nebenprodukt des
Lebens, sie pflanzen sich nicht dnrch eigne Wirksamkeit fort, wenn sie nicht die
Lebenskraft des sie besitzenden Volkes fordern oder wenigstens erhalten. Ihr
Genuß mag den Wert des Einzeldaseins steigern, aber ihre höchste Ausbildung
vermag nicht die Bedingungen ihrer Dauer zu ersetzen. Was heißt sonst
das Wort von einer greisenhafter Kultur und Bildung? Das beweist der
Untergang des römischen Weltreiches oder der fein ausgestatteten griechischen
Bildung.

Auch die moderne Verselbstandnug (Hypostasirung) des Staatsbegriffes
bildet gegen diese Anschauung keinen Einwand. Der Staat ist nicht Selbst-


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

lose Erwttrgnng zahlloser tapferer freiheitsliebender Nationen. Denn der Zweck,
richtiger die Folge, versöhnt mit den Mitteln und Opfern der allgemeinen Ordnung
und Sicherheit zur Zeit der Kaiserherrschaft. Ebenso versöhnend ist die Be¬
trachtung, daß die Ureinwohner Amerikas verschwinden mußten vor Missionären
und Bluthunden, um zur Begründung einer höhern christlichen Kultur Platz
zu machen, denn „wie groß auch die Leiden und Bedrückungen der lebenden
Geschlechter waren, Land und Volk wurden durch die Eroberung einem wür¬
digeren Lebensziel entgegen geführt." Für diese Auffassung der Vorgeschichte
ist allerdings die Ausbreitung der Religion, der Kultur und Bildung, der
Wissenschaft und Kunst die Hauptsache — Dinge die doch nicht an sich und für
sich bestehen, sondern nur durch soziale Gliederungen, die sie Pflegen, den An¬
schein selbständiger Fortpflanzungskraft erhalten und immer wieder fast von vorn
anfangen —, für diese Auffassung, welche ihr zugestandenermaßen durch Aus¬
wahl und Beschränkung des Stoffes erst ermöglichtes Lehrgebäude aus der
Not eine Tugend machend mit dem stolzen Namen einer Universal- oder Welt¬
geschichte oder gar Geschichtsphilosophie belegt, erscheinen freilich besondre Eigen¬
tümlichkeiten der Völker, in denen sie selbst ihr Teuerstes und Eigenstes sehen
und verteidigen, nur als untergeordnet und zurücktretend gegenüber den Ge¬
setzen und Bedingungen der Entwicklung der Kultur und Ordnung, fast als
bedauerliches Hemmnis des stetigen Fortschrittes auf das Ideal der Huma¬
nität zu.

Dagegen ist aufs nachdrücklichste jener von aller matten Teleologie geläuterte
wissenschaftliche und poetische Standpunkt zu betonen, wie er sich etwa kurz aus¬
drücken läßt mit den Worten „Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an
Blüte." Für ihn ist die Chronologie nicht ohne weiteres der Fortschritt; die
Formen des Lebens werden Wohl verwickelter und schwieriger zu verstehen, aber
alles Lebens trügt sein Gesetz und seinen Zweck in sich, indem es sich ansieht nach
den Kräften, die es zu seiner Behauptung aufzubringen vermag. Der Kampf uns
Dasein gilt auch für die Völkergeschichte; von dem Maß der Kräfte natürlicher und
geselliger Ausstattung, das ein Volk für die Aufrechterhaltung seiner Eigenart in
die Wagschale zu werfen vermag, hängt seine Selbständigkeit und Dauer ub.
Alle die sogencinuteu Kulturerruugenschaften sind nur ein Nebenprodukt des
Lebens, sie pflanzen sich nicht dnrch eigne Wirksamkeit fort, wenn sie nicht die
Lebenskraft des sie besitzenden Volkes fordern oder wenigstens erhalten. Ihr
Genuß mag den Wert des Einzeldaseins steigern, aber ihre höchste Ausbildung
vermag nicht die Bedingungen ihrer Dauer zu ersetzen. Was heißt sonst
das Wort von einer greisenhafter Kultur und Bildung? Das beweist der
Untergang des römischen Weltreiches oder der fein ausgestatteten griechischen
Bildung.

Auch die moderne Verselbstandnug (Hypostasirung) des Staatsbegriffes
bildet gegen diese Anschauung keinen Einwand. Der Staat ist nicht Selbst-


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[0027] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. lose Erwttrgnng zahlloser tapferer freiheitsliebender Nationen. Denn der Zweck, richtiger die Folge, versöhnt mit den Mitteln und Opfern der allgemeinen Ordnung und Sicherheit zur Zeit der Kaiserherrschaft. Ebenso versöhnend ist die Be¬ trachtung, daß die Ureinwohner Amerikas verschwinden mußten vor Missionären und Bluthunden, um zur Begründung einer höhern christlichen Kultur Platz zu machen, denn „wie groß auch die Leiden und Bedrückungen der lebenden Geschlechter waren, Land und Volk wurden durch die Eroberung einem wür¬ digeren Lebensziel entgegen geführt." Für diese Auffassung der Vorgeschichte ist allerdings die Ausbreitung der Religion, der Kultur und Bildung, der Wissenschaft und Kunst die Hauptsache — Dinge die doch nicht an sich und für sich bestehen, sondern nur durch soziale Gliederungen, die sie Pflegen, den An¬ schein selbständiger Fortpflanzungskraft erhalten und immer wieder fast von vorn anfangen —, für diese Auffassung, welche ihr zugestandenermaßen durch Aus¬ wahl und Beschränkung des Stoffes erst ermöglichtes Lehrgebäude aus der Not eine Tugend machend mit dem stolzen Namen einer Universal- oder Welt¬ geschichte oder gar Geschichtsphilosophie belegt, erscheinen freilich besondre Eigen¬ tümlichkeiten der Völker, in denen sie selbst ihr Teuerstes und Eigenstes sehen und verteidigen, nur als untergeordnet und zurücktretend gegenüber den Ge¬ setzen und Bedingungen der Entwicklung der Kultur und Ordnung, fast als bedauerliches Hemmnis des stetigen Fortschrittes auf das Ideal der Huma¬ nität zu. Dagegen ist aufs nachdrücklichste jener von aller matten Teleologie geläuterte wissenschaftliche und poetische Standpunkt zu betonen, wie er sich etwa kurz aus¬ drücken läßt mit den Worten „Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an Blüte." Für ihn ist die Chronologie nicht ohne weiteres der Fortschritt; die Formen des Lebens werden Wohl verwickelter und schwieriger zu verstehen, aber alles Lebens trügt sein Gesetz und seinen Zweck in sich, indem es sich ansieht nach den Kräften, die es zu seiner Behauptung aufzubringen vermag. Der Kampf uns Dasein gilt auch für die Völkergeschichte; von dem Maß der Kräfte natürlicher und geselliger Ausstattung, das ein Volk für die Aufrechterhaltung seiner Eigenart in die Wagschale zu werfen vermag, hängt seine Selbständigkeit und Dauer ub. Alle die sogencinuteu Kulturerruugenschaften sind nur ein Nebenprodukt des Lebens, sie pflanzen sich nicht dnrch eigne Wirksamkeit fort, wenn sie nicht die Lebenskraft des sie besitzenden Volkes fordern oder wenigstens erhalten. Ihr Genuß mag den Wert des Einzeldaseins steigern, aber ihre höchste Ausbildung vermag nicht die Bedingungen ihrer Dauer zu ersetzen. Was heißt sonst das Wort von einer greisenhafter Kultur und Bildung? Das beweist der Untergang des römischen Weltreiches oder der fein ausgestatteten griechischen Bildung. Auch die moderne Verselbstandnug (Hypostasirung) des Staatsbegriffes bildet gegen diese Anschauung keinen Einwand. Der Staat ist nicht Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/27>, abgerufen am 23.07.2024.