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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Volksseele schärfer begrenzen wollen, so werden wir dem Volscharcikter zwei
Merkmale zuschreiben müssen: er bezeichnet die Eigenschaften des Empfindens
und Wollens -- mit Ausschluß derer des Denkens und im Gegensatz zu dessen
rasch wechselndem Inhalte --, und er mißt ihm eine gewisse Zähigkeit und
Dauer bei gegenüber dem Wechsel der Zeit, dergestalt, daß ein Volk durch
solch gemeinsame Eigentümlichkeiten des Handelns wie des Erkaltens den
Anspruch, als Einheit zu gelten, tiefer noch als durch die Gemeinsamkeit der
Sprache rechtfertigen würde. Von vorn herein setzt der Begriff des Volks¬
charakters den des fertigen Volkes voraus, wenn von einem solchen die Rede
ist, das sich erweislich ans verschiedenen Bestandteilen erst gebildet hat, wie
etwa die Spanier und Engländer. Bei ihnen dürfte vor der vollzogenen
Vereinigung auch von Volkscharakter im eigentlichen Sinne nur in Bezug
auf die Bestandteile die Rede sein. So führt uns die Annahme eines Volks¬
charakters auf eine Grundfrage, die sich teilweise mit dem Unterschied zwischen
politischer und Kulturgeschichte berührt; auf die Verschiedenheit aristokra¬
tischer und demokratischer Auffassung, besser Schätzung der heroischen und
der Massenwirkung. Dieser angebliche Unterschied der politischen und Kultur¬
geschichte als der der Thaten und Zustände reicht ja in letztere selbst hinein,
deren Name oft zu einem bequemen Deckschild gemacht worden ist für
viele Dinge, die das bescheidenere vorige Jahrhundert mit dem anspruchslosen
Namen von Belustigungen, Altertümern, Merkwürdigkeiten u. dergl. bezeichnet
hat, welche die Zeit der Arbeitsteilung aus subjektiven Wissensgebieten zu
selbständige" "Wissenschaften" befördert. Demnach lautet die Frage: Sind es
die Heldenthaten, Kriege und Staatengründnngen großer Männer, die die
stumpfe Masse wie weiches Wachs formen? Sind es die Geistcswcrkc und
Erfindungen der Meister der Dichtung und Wissenschaft und Kunst, welche den
Fortschritt der Entwicklung der Menschheit sprungweise erzwingen? Hat also
Dante die Einheit des italienischen Volkes begründet, Luther dnrch seine 95 Sätze
die Reformation und die Kirchenspaltung veranlaßt, Bismarck durch drei Kriege
und glückliche Verträge das deutsche Reich hergestellt? Und kann sich der Deutsche
an der bedrohten Sprachgrenze beruhigt auf die Geistesgröße seines Schiller
und Goethe, seines Kant und Humboldt verlasse", wenn der rührige Gegner
in Unterricht und Predigt seine Mundart einzubürgern sucht? Oder haben
vielmehr diejenigen Recht, welche in innerer Verwandtschaft mit den politischen
Anschauungen unserer Zeit in der Geschichte nnr die Vollstreckung der Ma¬
joritätsbeschlüsse sehen will? die in der Lützowschen Freischaar und der Landwehr
von 1813 die Besieger Napoleons verehrt und dem preußischen Schulmeister
den Sieg von Sadowa zuschreibt? Daß jede vorurteilsfreie Geschichtschreibung
beide Einseitigkeiten vermeiden wird, liegt auf der Hand. Und dies führt zu der
enger gefaßten Frage, wie weit die Völker nur leidend, wie weit sie, wenn nicht
thätig, doch fördernd und drängend oder widerstrebend sich zu ihren Führern


Grenzboten III. 1837. 3
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Volksseele schärfer begrenzen wollen, so werden wir dem Volscharcikter zwei
Merkmale zuschreiben müssen: er bezeichnet die Eigenschaften des Empfindens
und Wollens — mit Ausschluß derer des Denkens und im Gegensatz zu dessen
rasch wechselndem Inhalte —, und er mißt ihm eine gewisse Zähigkeit und
Dauer bei gegenüber dem Wechsel der Zeit, dergestalt, daß ein Volk durch
solch gemeinsame Eigentümlichkeiten des Handelns wie des Erkaltens den
Anspruch, als Einheit zu gelten, tiefer noch als durch die Gemeinsamkeit der
Sprache rechtfertigen würde. Von vorn herein setzt der Begriff des Volks¬
charakters den des fertigen Volkes voraus, wenn von einem solchen die Rede
ist, das sich erweislich ans verschiedenen Bestandteilen erst gebildet hat, wie
etwa die Spanier und Engländer. Bei ihnen dürfte vor der vollzogenen
Vereinigung auch von Volkscharakter im eigentlichen Sinne nur in Bezug
auf die Bestandteile die Rede sein. So führt uns die Annahme eines Volks¬
charakters auf eine Grundfrage, die sich teilweise mit dem Unterschied zwischen
politischer und Kulturgeschichte berührt; auf die Verschiedenheit aristokra¬
tischer und demokratischer Auffassung, besser Schätzung der heroischen und
der Massenwirkung. Dieser angebliche Unterschied der politischen und Kultur¬
geschichte als der der Thaten und Zustände reicht ja in letztere selbst hinein,
deren Name oft zu einem bequemen Deckschild gemacht worden ist für
viele Dinge, die das bescheidenere vorige Jahrhundert mit dem anspruchslosen
Namen von Belustigungen, Altertümern, Merkwürdigkeiten u. dergl. bezeichnet
hat, welche die Zeit der Arbeitsteilung aus subjektiven Wissensgebieten zu
selbständige» „Wissenschaften" befördert. Demnach lautet die Frage: Sind es
die Heldenthaten, Kriege und Staatengründnngen großer Männer, die die
stumpfe Masse wie weiches Wachs formen? Sind es die Geistcswcrkc und
Erfindungen der Meister der Dichtung und Wissenschaft und Kunst, welche den
Fortschritt der Entwicklung der Menschheit sprungweise erzwingen? Hat also
Dante die Einheit des italienischen Volkes begründet, Luther dnrch seine 95 Sätze
die Reformation und die Kirchenspaltung veranlaßt, Bismarck durch drei Kriege
und glückliche Verträge das deutsche Reich hergestellt? Und kann sich der Deutsche
an der bedrohten Sprachgrenze beruhigt auf die Geistesgröße seines Schiller
und Goethe, seines Kant und Humboldt verlasse», wenn der rührige Gegner
in Unterricht und Predigt seine Mundart einzubürgern sucht? Oder haben
vielmehr diejenigen Recht, welche in innerer Verwandtschaft mit den politischen
Anschauungen unserer Zeit in der Geschichte nnr die Vollstreckung der Ma¬
joritätsbeschlüsse sehen will? die in der Lützowschen Freischaar und der Landwehr
von 1813 die Besieger Napoleons verehrt und dem preußischen Schulmeister
den Sieg von Sadowa zuschreibt? Daß jede vorurteilsfreie Geschichtschreibung
beide Einseitigkeiten vermeiden wird, liegt auf der Hand. Und dies führt zu der
enger gefaßten Frage, wie weit die Völker nur leidend, wie weit sie, wenn nicht
thätig, doch fördernd und drängend oder widerstrebend sich zu ihren Führern


Grenzboten III. 1837. 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/25>, abgerufen am 23.07.2024.