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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Dichterfreundinnen.

dem philosophischen Denken näher verwandt als dem mystischen Grübeln, Herder
wurde fortan ihr geistlicher Berater, und selbst im Ausdrucke lehnte sie sich an
ihn an, soweit es ihr möglich war. Schiller war nicht abgeneigt, die Freundin
auf längere Zeit in Kalbsrieth zu besuchen, aber Charlotte durfte, wie sie sich
selbst ausdrückt, nicht dazu raten. Dieselbe Frau, die in leidenschaftlichen, un¬
verhüllten Worten den Dichter an die Ewigkeit ihres Seelenbuudes mahnt,
lehnt es ab, mit ihm Tage lang unter einem Dache zu wohnen. Es herrschte
noch ein feierlicher Ernst in ihrer Idealwelt.

Als sie so in freiwilliger und unfreiwilliger Abgeschlossenheit ihre innere
Welt aufbaute, bemerkte sie auf einmal, daß sich ein Schatten über das Buch
ergoß, welches sie eben ausgeschlagen hatte, und daß die Zeilen sich verwirrten.
Eine hitzige Epidemie wütete in der Umgegend, zwei ihrer Dienerinnen lagen
krank, und bei ihr selbst stellte sich das Übel in Gestalt eines Augenleidens
ein, von dem sie nie wieder befreit wurde. Der Präsident riet zu einem Wechsel
des Aufenthaltsortes. Charlotte ging zu einer befreundeten Dame, der Frau
von Üchtritz nach Gotha, und von da nach Weimar, wo sie ihren bleibenden
Wohnsitz nahm. So war denn die geniale Idealistin im Mittelpunkte der
schöngeistigen Bestrebungen, in der Heimat des Genies. Aber man kann nicht
sagen, daß sie ohne weiteres dahin gepaßt hätte.

Köpke sagt in seiner Biographie der Frau von Kalb ganz richtig, dnß ihr
Weimar um eine ganze Entwicklungsperiode voraus war. Die Zeit des schranken¬
losen Idealismus, die Sturm- und Drangzeit war hier längst vorüber, ein
kritischer Realismus war zur Herrschaft gelangt, die Gesellschaft hatte etwas
Abwartendes, fast Abwehrendes, wie ihr tonangebender Genius Goethe selbst.
Charlotte stieg noch auf der Himmelsleiter ihrer idealen Sehnsucht auf und
nieder, bald über die Wolken hinaus, bald in die dunkelste Tiefe ihres sorgen¬
vollen Herzens hinab. Und sie wußte, daß sie nie anders werden konnte, daß
sie so bleiben mußte. Im Gegensatze zu der Welt, in der sie sich fremd fühlte,
bildete sich nun in ihr die wunderbare Stimmung aus, die ihr fortan eigen¬
tümlich blieb und ihrer Person bald etwas unendlich Anziehendes, man möchte
sagen rührend Kindliches, bald etwas Herdes und Abstoßendes verlieh, ein
wunderbares Gemisch von Selbstbewußtsein und Demut, von Verachtung der
Welt und stiller Dankbarkeit für jedes freundschaftliche Entgegenkommen. Sie
mischte sich nicht in das kleinliche Getriebe von Neigungen, Abneigungen und Eifer¬
süchteleien des Hoflebens, hocherhobenen Hauptes ging sie mitten hindurch durch
die vielfach verflochtenen Fäden vertraulichen und mißtrauischen Verkehrs, der
die in einsamer Landstadt zusammengedrängte Geistesgenossenschaft zu einer
großen Familie machte, aber sie duldete gern das Fremde, sie, die Heimatlose,
erhob keinen Anspruch und richtete nie über den Einzelnen. Das ist ihre Größe.

Nur mit wenigen verkehrte sie. Die Herzogin-Mutter Amalie war ihr ge¬
wogen, im Wielandschen Hause war sie gern gesehen, mit der Frau Reinhold,


Dichterfreundinnen.

dem philosophischen Denken näher verwandt als dem mystischen Grübeln, Herder
wurde fortan ihr geistlicher Berater, und selbst im Ausdrucke lehnte sie sich an
ihn an, soweit es ihr möglich war. Schiller war nicht abgeneigt, die Freundin
auf längere Zeit in Kalbsrieth zu besuchen, aber Charlotte durfte, wie sie sich
selbst ausdrückt, nicht dazu raten. Dieselbe Frau, die in leidenschaftlichen, un¬
verhüllten Worten den Dichter an die Ewigkeit ihres Seelenbuudes mahnt,
lehnt es ab, mit ihm Tage lang unter einem Dache zu wohnen. Es herrschte
noch ein feierlicher Ernst in ihrer Idealwelt.

Als sie so in freiwilliger und unfreiwilliger Abgeschlossenheit ihre innere
Welt aufbaute, bemerkte sie auf einmal, daß sich ein Schatten über das Buch
ergoß, welches sie eben ausgeschlagen hatte, und daß die Zeilen sich verwirrten.
Eine hitzige Epidemie wütete in der Umgegend, zwei ihrer Dienerinnen lagen
krank, und bei ihr selbst stellte sich das Übel in Gestalt eines Augenleidens
ein, von dem sie nie wieder befreit wurde. Der Präsident riet zu einem Wechsel
des Aufenthaltsortes. Charlotte ging zu einer befreundeten Dame, der Frau
von Üchtritz nach Gotha, und von da nach Weimar, wo sie ihren bleibenden
Wohnsitz nahm. So war denn die geniale Idealistin im Mittelpunkte der
schöngeistigen Bestrebungen, in der Heimat des Genies. Aber man kann nicht
sagen, daß sie ohne weiteres dahin gepaßt hätte.

Köpke sagt in seiner Biographie der Frau von Kalb ganz richtig, dnß ihr
Weimar um eine ganze Entwicklungsperiode voraus war. Die Zeit des schranken¬
losen Idealismus, die Sturm- und Drangzeit war hier längst vorüber, ein
kritischer Realismus war zur Herrschaft gelangt, die Gesellschaft hatte etwas
Abwartendes, fast Abwehrendes, wie ihr tonangebender Genius Goethe selbst.
Charlotte stieg noch auf der Himmelsleiter ihrer idealen Sehnsucht auf und
nieder, bald über die Wolken hinaus, bald in die dunkelste Tiefe ihres sorgen¬
vollen Herzens hinab. Und sie wußte, daß sie nie anders werden konnte, daß
sie so bleiben mußte. Im Gegensatze zu der Welt, in der sie sich fremd fühlte,
bildete sich nun in ihr die wunderbare Stimmung aus, die ihr fortan eigen¬
tümlich blieb und ihrer Person bald etwas unendlich Anziehendes, man möchte
sagen rührend Kindliches, bald etwas Herdes und Abstoßendes verlieh, ein
wunderbares Gemisch von Selbstbewußtsein und Demut, von Verachtung der
Welt und stiller Dankbarkeit für jedes freundschaftliche Entgegenkommen. Sie
mischte sich nicht in das kleinliche Getriebe von Neigungen, Abneigungen und Eifer¬
süchteleien des Hoflebens, hocherhobenen Hauptes ging sie mitten hindurch durch
die vielfach verflochtenen Fäden vertraulichen und mißtrauischen Verkehrs, der
die in einsamer Landstadt zusammengedrängte Geistesgenossenschaft zu einer
großen Familie machte, aber sie duldete gern das Fremde, sie, die Heimatlose,
erhob keinen Anspruch und richtete nie über den Einzelnen. Das ist ihre Größe.

Nur mit wenigen verkehrte sie. Die Herzogin-Mutter Amalie war ihr ge¬
wogen, im Wielandschen Hause war sie gern gesehen, mit der Frau Reinhold,


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[0229] Dichterfreundinnen. dem philosophischen Denken näher verwandt als dem mystischen Grübeln, Herder wurde fortan ihr geistlicher Berater, und selbst im Ausdrucke lehnte sie sich an ihn an, soweit es ihr möglich war. Schiller war nicht abgeneigt, die Freundin auf längere Zeit in Kalbsrieth zu besuchen, aber Charlotte durfte, wie sie sich selbst ausdrückt, nicht dazu raten. Dieselbe Frau, die in leidenschaftlichen, un¬ verhüllten Worten den Dichter an die Ewigkeit ihres Seelenbuudes mahnt, lehnt es ab, mit ihm Tage lang unter einem Dache zu wohnen. Es herrschte noch ein feierlicher Ernst in ihrer Idealwelt. Als sie so in freiwilliger und unfreiwilliger Abgeschlossenheit ihre innere Welt aufbaute, bemerkte sie auf einmal, daß sich ein Schatten über das Buch ergoß, welches sie eben ausgeschlagen hatte, und daß die Zeilen sich verwirrten. Eine hitzige Epidemie wütete in der Umgegend, zwei ihrer Dienerinnen lagen krank, und bei ihr selbst stellte sich das Übel in Gestalt eines Augenleidens ein, von dem sie nie wieder befreit wurde. Der Präsident riet zu einem Wechsel des Aufenthaltsortes. Charlotte ging zu einer befreundeten Dame, der Frau von Üchtritz nach Gotha, und von da nach Weimar, wo sie ihren bleibenden Wohnsitz nahm. So war denn die geniale Idealistin im Mittelpunkte der schöngeistigen Bestrebungen, in der Heimat des Genies. Aber man kann nicht sagen, daß sie ohne weiteres dahin gepaßt hätte. Köpke sagt in seiner Biographie der Frau von Kalb ganz richtig, dnß ihr Weimar um eine ganze Entwicklungsperiode voraus war. Die Zeit des schranken¬ losen Idealismus, die Sturm- und Drangzeit war hier längst vorüber, ein kritischer Realismus war zur Herrschaft gelangt, die Gesellschaft hatte etwas Abwartendes, fast Abwehrendes, wie ihr tonangebender Genius Goethe selbst. Charlotte stieg noch auf der Himmelsleiter ihrer idealen Sehnsucht auf und nieder, bald über die Wolken hinaus, bald in die dunkelste Tiefe ihres sorgen¬ vollen Herzens hinab. Und sie wußte, daß sie nie anders werden konnte, daß sie so bleiben mußte. Im Gegensatze zu der Welt, in der sie sich fremd fühlte, bildete sich nun in ihr die wunderbare Stimmung aus, die ihr fortan eigen¬ tümlich blieb und ihrer Person bald etwas unendlich Anziehendes, man möchte sagen rührend Kindliches, bald etwas Herdes und Abstoßendes verlieh, ein wunderbares Gemisch von Selbstbewußtsein und Demut, von Verachtung der Welt und stiller Dankbarkeit für jedes freundschaftliche Entgegenkommen. Sie mischte sich nicht in das kleinliche Getriebe von Neigungen, Abneigungen und Eifer¬ süchteleien des Hoflebens, hocherhobenen Hauptes ging sie mitten hindurch durch die vielfach verflochtenen Fäden vertraulichen und mißtrauischen Verkehrs, der die in einsamer Landstadt zusammengedrängte Geistesgenossenschaft zu einer großen Familie machte, aber sie duldete gern das Fremde, sie, die Heimatlose, erhob keinen Anspruch und richtete nie über den Einzelnen. Das ist ihre Größe. Nur mit wenigen verkehrte sie. Die Herzogin-Mutter Amalie war ihr ge¬ wogen, im Wielandschen Hause war sie gern gesehen, mit der Frau Reinhold,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/229>, abgerufen am 23.07.2024.