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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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haben unbestreitbar höchst bedeutende Fortschritte gemacht, die auch dem Ärmsten
zu Gute kommen. Leben und Eigentum sind besser geschützt, das Recht wird
besser, schneller und wohlfeiler verwaltet, die Willkür der Staatsgewalt ist
gebrochen, die Grausamkeit der Strafjustiz ist beseitigt, die Verkehrsmittel stehen
auf einer zuvor nie geahnten Hohe. Dies alles sind gleichsam Zahlungen aus
dem allgemeinen Kulturkapital, das für alle angesammelt ist und dessen Mit-
genuß jeder seinem Vaareinkommen zuzurechnen hat. Dabei darf man nicht
vergessen, daß die Bevölkerung Europas seit hundert Jahren von 145 ans
350 Millionen gestiegen ist, daß also 200 Millionen mehr Menschen an jenen
Segnungen Teil nehmen.

Bei diesen tröstlichen Ausblicken darf man freilich folgendes nicht außer
Acht lassen. Wir haben bisher nur immer auf das Allgemeine, auf die
Gesamtheit gesehen. Das Verhalten des Einzelnen innerhalb der Gesell¬
schaft ist vielfach anders geworden. Es kaun nicht geleugnet werden, daß
der Kampf des Einzelnen um seinen Anteil an den Errungenschaften der
modernen Kultur größer, mühevoller, aufreibender geworden ist als ehedem.
Ein Mißerfolg des einzelnen Kämpfeis, der auf seine alleinigen Kräfte an¬
gewiesen ist, tritt leicht ein, wenn diese Kräfte nicht ausreichen oder das Glück
ihm entgegen ist. Das war ehedem anders, als die Gesellschaft noch nicht in
ihre Atome aufgelöst war, als ihre Gliederung in einzelne Gruppen, Korpo¬
rationen, Gilden, Zünfte einen Kampf aller gegen alle fast zur Unmöglichkeit
machte. Der Einzelne, der Edelmann, der Kaufmann, der Krämer, der Hand¬
werker fand damals Schutz und Stütze in seiner Genossenschaft, und Kampf fand
nur zwischen den einzelnen Ständen statt. Wer aber nicht Mitglied eines ge¬
schlossenen Standes war, der Arbeiter, der Tagelöhner, fand keine Beachtung,
er war der selbstsüchtigsten Ausbeute der allein rechtsfähigen Körperschaften
erbarmungslos überlassen. Es ist gar nicht zweifelhaft, daß die Lage dieser
letzter" Klasse nicht nur rechtlich, sondern auch thatsächlich jetzt unendlich viel
besser ist als vor hundert Jahren.

Wenn man noch weiter zurückgeht, bis ins sechzehnte Jahrhundert, so
wird der Unterschied zu Gunsten unsrer Zeit so grell, daß wir uns -- trotz
allem noch bestehenden Elend -- wegen der gemachten Fortschritte gewiß be¬
glückwünschen dürfen. Man denke ein die Zustände der Bauern im fünfzehnten
Jahrhundert. Die Beschwerden, welche die Bauern, ehe sie zu den Waffen
griffen, erhoben, waren in den berühmten sechzehn Artikeln zusammengefaßt. Sie
wollen -- so heißt es -- nicht hegen noch jagen, Wasser und Vögel sollen
frei sein, Jäger und Forstmeister sollen keine Gewalt über sie haben; sie wollen
den Herren keinen Mist fahren, nicht mähen, schneiden, hauen, Hen machen, Fuhren
thun. Der schweren Markt und Handwerk wollen sie enthoben sein. Keiner,
der verbürgen kann, daß er sich zu Recht stelle, soll mehr getürmt und ge¬
blockt werden; man soll keine Steuer und Schätzung verlangen, sie sei denn


haben unbestreitbar höchst bedeutende Fortschritte gemacht, die auch dem Ärmsten
zu Gute kommen. Leben und Eigentum sind besser geschützt, das Recht wird
besser, schneller und wohlfeiler verwaltet, die Willkür der Staatsgewalt ist
gebrochen, die Grausamkeit der Strafjustiz ist beseitigt, die Verkehrsmittel stehen
auf einer zuvor nie geahnten Hohe. Dies alles sind gleichsam Zahlungen aus
dem allgemeinen Kulturkapital, das für alle angesammelt ist und dessen Mit-
genuß jeder seinem Vaareinkommen zuzurechnen hat. Dabei darf man nicht
vergessen, daß die Bevölkerung Europas seit hundert Jahren von 145 ans
350 Millionen gestiegen ist, daß also 200 Millionen mehr Menschen an jenen
Segnungen Teil nehmen.

Bei diesen tröstlichen Ausblicken darf man freilich folgendes nicht außer
Acht lassen. Wir haben bisher nur immer auf das Allgemeine, auf die
Gesamtheit gesehen. Das Verhalten des Einzelnen innerhalb der Gesell¬
schaft ist vielfach anders geworden. Es kaun nicht geleugnet werden, daß
der Kampf des Einzelnen um seinen Anteil an den Errungenschaften der
modernen Kultur größer, mühevoller, aufreibender geworden ist als ehedem.
Ein Mißerfolg des einzelnen Kämpfeis, der auf seine alleinigen Kräfte an¬
gewiesen ist, tritt leicht ein, wenn diese Kräfte nicht ausreichen oder das Glück
ihm entgegen ist. Das war ehedem anders, als die Gesellschaft noch nicht in
ihre Atome aufgelöst war, als ihre Gliederung in einzelne Gruppen, Korpo¬
rationen, Gilden, Zünfte einen Kampf aller gegen alle fast zur Unmöglichkeit
machte. Der Einzelne, der Edelmann, der Kaufmann, der Krämer, der Hand¬
werker fand damals Schutz und Stütze in seiner Genossenschaft, und Kampf fand
nur zwischen den einzelnen Ständen statt. Wer aber nicht Mitglied eines ge¬
schlossenen Standes war, der Arbeiter, der Tagelöhner, fand keine Beachtung,
er war der selbstsüchtigsten Ausbeute der allein rechtsfähigen Körperschaften
erbarmungslos überlassen. Es ist gar nicht zweifelhaft, daß die Lage dieser
letzter» Klasse nicht nur rechtlich, sondern auch thatsächlich jetzt unendlich viel
besser ist als vor hundert Jahren.

Wenn man noch weiter zurückgeht, bis ins sechzehnte Jahrhundert, so
wird der Unterschied zu Gunsten unsrer Zeit so grell, daß wir uns — trotz
allem noch bestehenden Elend — wegen der gemachten Fortschritte gewiß be¬
glückwünschen dürfen. Man denke ein die Zustände der Bauern im fünfzehnten
Jahrhundert. Die Beschwerden, welche die Bauern, ehe sie zu den Waffen
griffen, erhoben, waren in den berühmten sechzehn Artikeln zusammengefaßt. Sie
wollen — so heißt es — nicht hegen noch jagen, Wasser und Vögel sollen
frei sein, Jäger und Forstmeister sollen keine Gewalt über sie haben; sie wollen
den Herren keinen Mist fahren, nicht mähen, schneiden, hauen, Hen machen, Fuhren
thun. Der schweren Markt und Handwerk wollen sie enthoben sein. Keiner,
der verbürgen kann, daß er sich zu Recht stelle, soll mehr getürmt und ge¬
blockt werden; man soll keine Steuer und Schätzung verlangen, sie sei denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/18>, abgerufen am 23.07.2024.