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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Übungen werden in den Schulen getrieben, den schwächlichen Kindern iverden
Luftkurorte und Heilquellen zugänglich gemacht, und die Gesetzgebung bestrebt
sich, für Alter, Krankheit und Verunglückung wirksame Vorkehrungen zu treffen.

Auch auf dem Platten Lande machen sich die Fortschritte bemerkbar. Wie
anders ist das Aussehen eines Dorfes heute gegen ehedem! Ein stattliches
Schulhaus überragt wie ein Schloß alle andern Gebäude. Die Häuser sind
auch in entlegenen Dörfern besser, die Fenster größer geworden. Vor dem
Dorfe prangt nicht selten ein mit allen Gerüsten versehener Turnplatz für die
Dorfjugend. Zustände wie in Frankreich, wo infolge der Thür- und Fenster¬
steuer es noch 340000 Bauernwohuuugen giebt, die nur eine Thür, aber kein
Fenster haben, sind Deutschland fremd.

Auch die Volksernährung ist besser geworden. In Sachsen hat sich der
Fleischverbrauch in den letzte" vier Jahrzehnten wesentlich gehoben. 1846 kamen
auf den Kopf 15 Pfund Rindfleisch und 21,2 Pfund Schweinefleisch. 1885
23.9 Pfund Rindfleisch ,und 40.8 Pfund Schweinefleisch. Der Salzverbrauch
hat sich in den letzten zehn Jahren von 12,6 Pfund auf 13.1 Pfund vermehrt.
Die Einfuhr der Salzheringe ist seit 1870 von 2,5 Kilo ans 2,85 gestiegen,
und die Bewohner des deutschen Reiches sind imstande, für Wein 240 Millionen,
für Bier 971 Millionen, für Branntwein 501 Millionen, zusammen 1712 Mil¬
lionen jährlich auszugeben. Auch kann trotz allen Ausnahmen im einzelnen
nicht geleugnet werden, daß die Arbeitslöhne im großen und ganzen ge¬
stiegen sind.

Preußen hat seine Roheisenerzeugung von 1868 bis 1880 verdoppelt.
Wenn die dabei beschäftigten Arbeiter nicht in dem gleichen Verhältnis vermehrt
worden sind (von 813000 auf 382000), so ist dies die Wirkung der erhöhten
Leistung durch verbesserte Maschinen.*)

Obwohl der Bergbau in Sachsen von 495 Gruben im Jahre 1870 nur
noch 316 im Jahre 1883 im Betriebe hatte, so waren dabei doch 29000 gegen
26000 Arbeiter beschäftigt, aber sie produzirten auf den um mehr als ein
Drittel verminderten Gruben einen Wert von 36 Millionen gegen 28 Millionen
im Jahre 1870. Es erzeugte also ein Arbeiter 1870 1074 Mark, 1883
1257 Mark. In Frankreich sind nach amtlichen Quellen die Löhne der land¬
wirtschaftlichen Arbeiter in den zwanzig Jahren von 1860 bis 1880 um 20 bis
100 Prozent gestiegen, mit Ausnahme der südlichen und südwestlichen Landes¬
teile, wo die Verheerungen der Neblaus viel Elend erzeugt hat.

Da ich keine gelehrte erschöpfende Arbeit liefern will, sondern überall nur
Andeutungen geben, über Eindrücke berichten will, so mag das vorstehende
genügen. Sicher ist, daß ein fleißiger Arbeiter heute besser lebt, mehr Lebens¬
genusse hat, als der Mittelstand vor hundert Jahren. Die allgemeinen Zustände



Philipp! in dein preußischen Jahresbericht, Bd. 54, S. 428.
Grenzboten III. 1887.
Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Übungen werden in den Schulen getrieben, den schwächlichen Kindern iverden
Luftkurorte und Heilquellen zugänglich gemacht, und die Gesetzgebung bestrebt
sich, für Alter, Krankheit und Verunglückung wirksame Vorkehrungen zu treffen.

Auch auf dem Platten Lande machen sich die Fortschritte bemerkbar. Wie
anders ist das Aussehen eines Dorfes heute gegen ehedem! Ein stattliches
Schulhaus überragt wie ein Schloß alle andern Gebäude. Die Häuser sind
auch in entlegenen Dörfern besser, die Fenster größer geworden. Vor dem
Dorfe prangt nicht selten ein mit allen Gerüsten versehener Turnplatz für die
Dorfjugend. Zustände wie in Frankreich, wo infolge der Thür- und Fenster¬
steuer es noch 340000 Bauernwohuuugen giebt, die nur eine Thür, aber kein
Fenster haben, sind Deutschland fremd.

Auch die Volksernährung ist besser geworden. In Sachsen hat sich der
Fleischverbrauch in den letzte» vier Jahrzehnten wesentlich gehoben. 1846 kamen
auf den Kopf 15 Pfund Rindfleisch und 21,2 Pfund Schweinefleisch. 1885
23.9 Pfund Rindfleisch ,und 40.8 Pfund Schweinefleisch. Der Salzverbrauch
hat sich in den letzten zehn Jahren von 12,6 Pfund auf 13.1 Pfund vermehrt.
Die Einfuhr der Salzheringe ist seit 1870 von 2,5 Kilo ans 2,85 gestiegen,
und die Bewohner des deutschen Reiches sind imstande, für Wein 240 Millionen,
für Bier 971 Millionen, für Branntwein 501 Millionen, zusammen 1712 Mil¬
lionen jährlich auszugeben. Auch kann trotz allen Ausnahmen im einzelnen
nicht geleugnet werden, daß die Arbeitslöhne im großen und ganzen ge¬
stiegen sind.

Preußen hat seine Roheisenerzeugung von 1868 bis 1880 verdoppelt.
Wenn die dabei beschäftigten Arbeiter nicht in dem gleichen Verhältnis vermehrt
worden sind (von 813000 auf 382000), so ist dies die Wirkung der erhöhten
Leistung durch verbesserte Maschinen.*)

Obwohl der Bergbau in Sachsen von 495 Gruben im Jahre 1870 nur
noch 316 im Jahre 1883 im Betriebe hatte, so waren dabei doch 29000 gegen
26000 Arbeiter beschäftigt, aber sie produzirten auf den um mehr als ein
Drittel verminderten Gruben einen Wert von 36 Millionen gegen 28 Millionen
im Jahre 1870. Es erzeugte also ein Arbeiter 1870 1074 Mark, 1883
1257 Mark. In Frankreich sind nach amtlichen Quellen die Löhne der land¬
wirtschaftlichen Arbeiter in den zwanzig Jahren von 1860 bis 1880 um 20 bis
100 Prozent gestiegen, mit Ausnahme der südlichen und südwestlichen Landes¬
teile, wo die Verheerungen der Neblaus viel Elend erzeugt hat.

Da ich keine gelehrte erschöpfende Arbeit liefern will, sondern überall nur
Andeutungen geben, über Eindrücke berichten will, so mag das vorstehende
genügen. Sicher ist, daß ein fleißiger Arbeiter heute besser lebt, mehr Lebens¬
genusse hat, als der Mittelstand vor hundert Jahren. Die allgemeinen Zustände



Philipp! in dein preußischen Jahresbericht, Bd. 54, S. 428.
Grenzboten III. 1887.
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[0017] Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. Übungen werden in den Schulen getrieben, den schwächlichen Kindern iverden Luftkurorte und Heilquellen zugänglich gemacht, und die Gesetzgebung bestrebt sich, für Alter, Krankheit und Verunglückung wirksame Vorkehrungen zu treffen. Auch auf dem Platten Lande machen sich die Fortschritte bemerkbar. Wie anders ist das Aussehen eines Dorfes heute gegen ehedem! Ein stattliches Schulhaus überragt wie ein Schloß alle andern Gebäude. Die Häuser sind auch in entlegenen Dörfern besser, die Fenster größer geworden. Vor dem Dorfe prangt nicht selten ein mit allen Gerüsten versehener Turnplatz für die Dorfjugend. Zustände wie in Frankreich, wo infolge der Thür- und Fenster¬ steuer es noch 340000 Bauernwohuuugen giebt, die nur eine Thür, aber kein Fenster haben, sind Deutschland fremd. Auch die Volksernährung ist besser geworden. In Sachsen hat sich der Fleischverbrauch in den letzte» vier Jahrzehnten wesentlich gehoben. 1846 kamen auf den Kopf 15 Pfund Rindfleisch und 21,2 Pfund Schweinefleisch. 1885 23.9 Pfund Rindfleisch ,und 40.8 Pfund Schweinefleisch. Der Salzverbrauch hat sich in den letzten zehn Jahren von 12,6 Pfund auf 13.1 Pfund vermehrt. Die Einfuhr der Salzheringe ist seit 1870 von 2,5 Kilo ans 2,85 gestiegen, und die Bewohner des deutschen Reiches sind imstande, für Wein 240 Millionen, für Bier 971 Millionen, für Branntwein 501 Millionen, zusammen 1712 Mil¬ lionen jährlich auszugeben. Auch kann trotz allen Ausnahmen im einzelnen nicht geleugnet werden, daß die Arbeitslöhne im großen und ganzen ge¬ stiegen sind. Preußen hat seine Roheisenerzeugung von 1868 bis 1880 verdoppelt. Wenn die dabei beschäftigten Arbeiter nicht in dem gleichen Verhältnis vermehrt worden sind (von 813000 auf 382000), so ist dies die Wirkung der erhöhten Leistung durch verbesserte Maschinen.*) Obwohl der Bergbau in Sachsen von 495 Gruben im Jahre 1870 nur noch 316 im Jahre 1883 im Betriebe hatte, so waren dabei doch 29000 gegen 26000 Arbeiter beschäftigt, aber sie produzirten auf den um mehr als ein Drittel verminderten Gruben einen Wert von 36 Millionen gegen 28 Millionen im Jahre 1870. Es erzeugte also ein Arbeiter 1870 1074 Mark, 1883 1257 Mark. In Frankreich sind nach amtlichen Quellen die Löhne der land¬ wirtschaftlichen Arbeiter in den zwanzig Jahren von 1860 bis 1880 um 20 bis 100 Prozent gestiegen, mit Ausnahme der südlichen und südwestlichen Landes¬ teile, wo die Verheerungen der Neblaus viel Elend erzeugt hat. Da ich keine gelehrte erschöpfende Arbeit liefern will, sondern überall nur Andeutungen geben, über Eindrücke berichten will, so mag das vorstehende genügen. Sicher ist, daß ein fleißiger Arbeiter heute besser lebt, mehr Lebens¬ genusse hat, als der Mittelstand vor hundert Jahren. Die allgemeinen Zustände Philipp! in dein preußischen Jahresbericht, Bd. 54, S. 428. Grenzboten III. 1887.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/17>, abgerufen am 23.07.2024.