Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.Theodor Lontanes Roman Lenne. Fontanes Abneigung gegen alles Gemachte, Arraugirte, sein Wunsch, in pla¬ Wie dem immer sei, die künstlerische Reife, die geistige Belebung, die Vor¬ Theodor Lontanes Roman Lenne. Fontanes Abneigung gegen alles Gemachte, Arraugirte, sein Wunsch, in pla¬ Wie dem immer sei, die künstlerische Reife, die geistige Belebung, die Vor¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200922"/> <fw type="header" place="top"> Theodor Lontanes Roman Lenne.</fw><lb/> <p xml:id="ID_468" prev="#ID_467"> Fontanes Abneigung gegen alles Gemachte, Arraugirte, sein Wunsch, in pla¬<lb/> stischer Einfachheit die Dinge sprechen zu lassen, kann ihm bei gewöhnlichen<lb/> Lesern selbst schaden. Der Schlüssel zum ganze» Roman liegt in der letzten<lb/> längern Ansprache, welche Ceeile an Gordon richten muß: „Sie haben eines<lb/> schönen Tages die Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha gehört —<lb/> und diese Lebensgeschichte, so wenigstens glauben Sie, giebt Ihnen ein Anrecht<lb/> auf einen freieren Ton, ein Anrecht ans Forderungen und Rücksichtslosigkeiten,<lb/> und hat Sie veranlaßt, an diesem Abend einen doppelten Einbruch zu versuchen,<lb/> jetzt in meinen Salon und schon vorher in meine Loge. Nein, unterbrechen<lb/> Sie mich nicht, ich will alles sagen, auch das Schlimmste. Nun denn, die<lb/> Gesellschaft hat mich in den Bann gethan, ich seh' es und fühl' es, und so leb'<lb/> ich denn von der Gnade derer, die meinem Hause die Ehre anthun. Und jeden<lb/> Tag kann diese Gnade zurückgezogen werden, selbst von Leuten wie Rossow<lb/> und der Baronin. Ich habe nicht den Anspruch, den andre haben. Ich will<lb/> ihn aber wieder haben, und als ich, auch ein unvergeßlicher Tag, heimlich und<lb/> voll Entsetzen in das Hans schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich<lb/> mit seinen Totenaugcn ansah, als ob er sagen wollte: »Du bist Schuld,« da<lb/> hab' ich's mir in meine Seele hineingeschworen, nun, Sie wissen, was. Und ob<lb/> ich in der Welt Eitelkeiten stecke, heut und immerdar, eines dank' ich der<lb/> neuen Lehre: das Gefühl der Pflicht. Und wo dies Gefühl ist, ist auch die<lb/> Kraft." Und der Schlüssel liegt weiter im Eingeständnis Gordons in seinem<lb/> letzten Briefe: „Ein berühmter Weiser, ich weiß nicht, alter oder neuer Zeit,<lb/> soll einmal gesagt haben: Wir glaubten und vertrauten nicht genng, und das<lb/> sei der Quell all unsers Unglücks und Elends. Und ich fühle jetzt, daß er Recht<lb/> hat. Ich hätte, statt Zweifel zu hegen und Eisersucht groß zu ziehen, Ihnen<lb/> vertrauen und der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen sollen."<lb/> Aber nicht jeder Leser wird das Verständnis der Hauptmotive davontrage«,<lb/> die Kunst der Episode, welche Fontane so fein durchgebildet hat, kann dem<lb/> letzten beabsichtigten Eindruck störend werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_469"> Wie dem immer sei, die künstlerische Reife, die geistige Belebung, die Vor¬<lb/> trefflichkeit der Ausführung verdienen das höchste Lob. Trotz alledem bleibt der<lb/> Eindruck von „Ceeile" herzbeklemmend. Wir dürfen mit unsern Dichtern nicht<lb/> rechten, wenn sie mit so viel Ernst und so warmem Anteil ein modernes Menscheu-<lb/> schicksal heraufbeschwöre». Aber es ergeht uns dabei doch wie der armen Heldin<lb/> dieses Romans, wir „sehnen uns nach Idyll, nach Frieden und nach Unschuld."<lb/> Dem schuldigen Respekt vor der Fähigkeit des Dichters thut dies ja keinen<lb/> Eintrag.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0143]
Theodor Lontanes Roman Lenne.
Fontanes Abneigung gegen alles Gemachte, Arraugirte, sein Wunsch, in pla¬
stischer Einfachheit die Dinge sprechen zu lassen, kann ihm bei gewöhnlichen
Lesern selbst schaden. Der Schlüssel zum ganze» Roman liegt in der letzten
längern Ansprache, welche Ceeile an Gordon richten muß: „Sie haben eines
schönen Tages die Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha gehört —
und diese Lebensgeschichte, so wenigstens glauben Sie, giebt Ihnen ein Anrecht
auf einen freieren Ton, ein Anrecht ans Forderungen und Rücksichtslosigkeiten,
und hat Sie veranlaßt, an diesem Abend einen doppelten Einbruch zu versuchen,
jetzt in meinen Salon und schon vorher in meine Loge. Nein, unterbrechen
Sie mich nicht, ich will alles sagen, auch das Schlimmste. Nun denn, die
Gesellschaft hat mich in den Bann gethan, ich seh' es und fühl' es, und so leb'
ich denn von der Gnade derer, die meinem Hause die Ehre anthun. Und jeden
Tag kann diese Gnade zurückgezogen werden, selbst von Leuten wie Rossow
und der Baronin. Ich habe nicht den Anspruch, den andre haben. Ich will
ihn aber wieder haben, und als ich, auch ein unvergeßlicher Tag, heimlich und
voll Entsetzen in das Hans schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich
mit seinen Totenaugcn ansah, als ob er sagen wollte: »Du bist Schuld,« da
hab' ich's mir in meine Seele hineingeschworen, nun, Sie wissen, was. Und ob
ich in der Welt Eitelkeiten stecke, heut und immerdar, eines dank' ich der
neuen Lehre: das Gefühl der Pflicht. Und wo dies Gefühl ist, ist auch die
Kraft." Und der Schlüssel liegt weiter im Eingeständnis Gordons in seinem
letzten Briefe: „Ein berühmter Weiser, ich weiß nicht, alter oder neuer Zeit,
soll einmal gesagt haben: Wir glaubten und vertrauten nicht genng, und das
sei der Quell all unsers Unglücks und Elends. Und ich fühle jetzt, daß er Recht
hat. Ich hätte, statt Zweifel zu hegen und Eisersucht groß zu ziehen, Ihnen
vertrauen und der Stimme meines Herzens rückhaltlos gehorchen sollen."
Aber nicht jeder Leser wird das Verständnis der Hauptmotive davontrage«,
die Kunst der Episode, welche Fontane so fein durchgebildet hat, kann dem
letzten beabsichtigten Eindruck störend werden.
Wie dem immer sei, die künstlerische Reife, die geistige Belebung, die Vor¬
trefflichkeit der Ausführung verdienen das höchste Lob. Trotz alledem bleibt der
Eindruck von „Ceeile" herzbeklemmend. Wir dürfen mit unsern Dichtern nicht
rechten, wenn sie mit so viel Ernst und so warmem Anteil ein modernes Menscheu-
schicksal heraufbeschwöre». Aber es ergeht uns dabei doch wie der armen Heldin
dieses Romans, wir „sehnen uns nach Idyll, nach Frieden und nach Unschuld."
Dem schuldigen Respekt vor der Fähigkeit des Dichters thut dies ja keinen
Eintrag.
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