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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

falle", die sonst Ernst und Ehrbarkeit ziehen. Denn dies ist seine Kehrseite
und Ergänzung, das Ergebnis des deutschen Gemüts und der tiefern Einwirkung
einer bürgerlichen selbständigen Bildung, seit die Städte anch in dieser Hinsicht
den Fürstenhöfen vorangehen. Wer dächte nicht an den biedern Hans Sachs,
dem keine der Übersetzungen klassischer Werke entging?

Ein Ergebnis des gestiegenen Wohlstandes in den Städten ist freilich auch
der Luxus. Freilich werden wir ihn weniger in der bessern Ausstattung der
Wohnungen mit Hausrat und Bequemlichkeit suchen, als in der Pracht der
Kleider und in den vielen und raschen Veränderungen der Tracht, wie sie in
der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zuerst ein Stadtschreiber beobachtet und
aufgezeichnet hat. Es ist, was wir jetzt Mode nennen; um die Mitte des
vierzehnten Jahrhunderts hat sie allerdings so unzüchtige und feiner Sitte
spottende Formen, daß man fast versucht ist, einen Schluß auf eine Erschütterung
der Ehrbarkeit und des Anstandes zu machen, wenn mau auch schließlich die
gleiche gedankenlose Nachahmung und Steigerung einfacher Abwechselungen des
Geschmacks wie jetzt für den wichtigsten Trieb halten muß.

So hatten sich die Städte zum ausschlaggebenden Bestandteil des natio¬
nalen Lebens und Charakters hinaufgearbeitet und selbst den Fürsten und Herren
das abgeschlossene Leben auf ihren Burgen verleidet; auch die Könige ver¬
schmähten nicht die Annehmlichkeiten des städtischen Aufenthaltes. Der Ritter-
stand verfiel, soweit er nicht dem Zuge der Zeit folgen wollte, der Verbauerung
und Rohheit und teilte mit den andern Ständen höchstens die Völlerei und Un-
mäßigkeit, welche in den Kreisen des Landadels, aber auch in den fürstlichen
Hofhaltungen seit dem völligen Absterben der früheren höfischen Zucht zum na¬
tionalen Laster geworden waren und es auf Geschlechter hin blieben. Luther
hat es als Teufel sans für eine ewige Plage Deutschlands gehalten.

Zu all den Sonderbildungen landesfürstlicher und städtischer Art, welche
sich nur aus ihrer eignen Lebenskraft erhielten gemäß dem alten Zug deutschen
Wesens nach Behauptung des Einzelnen und selbständigen, kam noch der Ein¬
fluß einer neuen Geistesrichtung, des Humanismus, der zur Anschauung zu
bringen suchte, daß es auch vor dem Christentum schon Hohes und Bewunde¬
rungswürdiges gegeben habe.

Gegenüber der allgemeinen Fülle des Lebens und Strebens traten die alt¬
vererbten Ideen von Kaiser und Papst immer mehr zurück und verloren den
unmittelbaren Einfluß auf die Gemüter. Andre Dinge drängten sich vor. Die
Fürsten fanden die Machtstellung der Städte unbequem; die Städte waren zu
kräftig, um nachzugeben, die Bauern zwischen beiden im Nachteil fanden ihre
Hörigkeit drückender als früher und wurden schwierig. So vielfach waren die
Kräfte entwickelt, daß die Formen, in denen sie hätten wirken können, nicht mehr
genügend erschienen. Alles erwartete eine Änderung, eine Verbesserung seiner
Lage, eine freie Bahn für seine Bewegung. Dies allgemeine Mißbehagen der


Grenzboten III. 1887. 16
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

falle», die sonst Ernst und Ehrbarkeit ziehen. Denn dies ist seine Kehrseite
und Ergänzung, das Ergebnis des deutschen Gemüts und der tiefern Einwirkung
einer bürgerlichen selbständigen Bildung, seit die Städte anch in dieser Hinsicht
den Fürstenhöfen vorangehen. Wer dächte nicht an den biedern Hans Sachs,
dem keine der Übersetzungen klassischer Werke entging?

Ein Ergebnis des gestiegenen Wohlstandes in den Städten ist freilich auch
der Luxus. Freilich werden wir ihn weniger in der bessern Ausstattung der
Wohnungen mit Hausrat und Bequemlichkeit suchen, als in der Pracht der
Kleider und in den vielen und raschen Veränderungen der Tracht, wie sie in
der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zuerst ein Stadtschreiber beobachtet und
aufgezeichnet hat. Es ist, was wir jetzt Mode nennen; um die Mitte des
vierzehnten Jahrhunderts hat sie allerdings so unzüchtige und feiner Sitte
spottende Formen, daß man fast versucht ist, einen Schluß auf eine Erschütterung
der Ehrbarkeit und des Anstandes zu machen, wenn mau auch schließlich die
gleiche gedankenlose Nachahmung und Steigerung einfacher Abwechselungen des
Geschmacks wie jetzt für den wichtigsten Trieb halten muß.

So hatten sich die Städte zum ausschlaggebenden Bestandteil des natio¬
nalen Lebens und Charakters hinaufgearbeitet und selbst den Fürsten und Herren
das abgeschlossene Leben auf ihren Burgen verleidet; auch die Könige ver¬
schmähten nicht die Annehmlichkeiten des städtischen Aufenthaltes. Der Ritter-
stand verfiel, soweit er nicht dem Zuge der Zeit folgen wollte, der Verbauerung
und Rohheit und teilte mit den andern Ständen höchstens die Völlerei und Un-
mäßigkeit, welche in den Kreisen des Landadels, aber auch in den fürstlichen
Hofhaltungen seit dem völligen Absterben der früheren höfischen Zucht zum na¬
tionalen Laster geworden waren und es auf Geschlechter hin blieben. Luther
hat es als Teufel sans für eine ewige Plage Deutschlands gehalten.

Zu all den Sonderbildungen landesfürstlicher und städtischer Art, welche
sich nur aus ihrer eignen Lebenskraft erhielten gemäß dem alten Zug deutschen
Wesens nach Behauptung des Einzelnen und selbständigen, kam noch der Ein¬
fluß einer neuen Geistesrichtung, des Humanismus, der zur Anschauung zu
bringen suchte, daß es auch vor dem Christentum schon Hohes und Bewunde¬
rungswürdiges gegeben habe.

Gegenüber der allgemeinen Fülle des Lebens und Strebens traten die alt¬
vererbten Ideen von Kaiser und Papst immer mehr zurück und verloren den
unmittelbaren Einfluß auf die Gemüter. Andre Dinge drängten sich vor. Die
Fürsten fanden die Machtstellung der Städte unbequem; die Städte waren zu
kräftig, um nachzugeben, die Bauern zwischen beiden im Nachteil fanden ihre
Hörigkeit drückender als früher und wurden schwierig. So vielfach waren die
Kräfte entwickelt, daß die Formen, in denen sie hätten wirken können, nicht mehr
genügend erschienen. Alles erwartete eine Änderung, eine Verbesserung seiner
Lage, eine freie Bahn für seine Bewegung. Dies allgemeine Mißbehagen der


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[0129] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. falle», die sonst Ernst und Ehrbarkeit ziehen. Denn dies ist seine Kehrseite und Ergänzung, das Ergebnis des deutschen Gemüts und der tiefern Einwirkung einer bürgerlichen selbständigen Bildung, seit die Städte anch in dieser Hinsicht den Fürstenhöfen vorangehen. Wer dächte nicht an den biedern Hans Sachs, dem keine der Übersetzungen klassischer Werke entging? Ein Ergebnis des gestiegenen Wohlstandes in den Städten ist freilich auch der Luxus. Freilich werden wir ihn weniger in der bessern Ausstattung der Wohnungen mit Hausrat und Bequemlichkeit suchen, als in der Pracht der Kleider und in den vielen und raschen Veränderungen der Tracht, wie sie in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zuerst ein Stadtschreiber beobachtet und aufgezeichnet hat. Es ist, was wir jetzt Mode nennen; um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts hat sie allerdings so unzüchtige und feiner Sitte spottende Formen, daß man fast versucht ist, einen Schluß auf eine Erschütterung der Ehrbarkeit und des Anstandes zu machen, wenn mau auch schließlich die gleiche gedankenlose Nachahmung und Steigerung einfacher Abwechselungen des Geschmacks wie jetzt für den wichtigsten Trieb halten muß. So hatten sich die Städte zum ausschlaggebenden Bestandteil des natio¬ nalen Lebens und Charakters hinaufgearbeitet und selbst den Fürsten und Herren das abgeschlossene Leben auf ihren Burgen verleidet; auch die Könige ver¬ schmähten nicht die Annehmlichkeiten des städtischen Aufenthaltes. Der Ritter- stand verfiel, soweit er nicht dem Zuge der Zeit folgen wollte, der Verbauerung und Rohheit und teilte mit den andern Ständen höchstens die Völlerei und Un- mäßigkeit, welche in den Kreisen des Landadels, aber auch in den fürstlichen Hofhaltungen seit dem völligen Absterben der früheren höfischen Zucht zum na¬ tionalen Laster geworden waren und es auf Geschlechter hin blieben. Luther hat es als Teufel sans für eine ewige Plage Deutschlands gehalten. Zu all den Sonderbildungen landesfürstlicher und städtischer Art, welche sich nur aus ihrer eignen Lebenskraft erhielten gemäß dem alten Zug deutschen Wesens nach Behauptung des Einzelnen und selbständigen, kam noch der Ein¬ fluß einer neuen Geistesrichtung, des Humanismus, der zur Anschauung zu bringen suchte, daß es auch vor dem Christentum schon Hohes und Bewunde¬ rungswürdiges gegeben habe. Gegenüber der allgemeinen Fülle des Lebens und Strebens traten die alt¬ vererbten Ideen von Kaiser und Papst immer mehr zurück und verloren den unmittelbaren Einfluß auf die Gemüter. Andre Dinge drängten sich vor. Die Fürsten fanden die Machtstellung der Städte unbequem; die Städte waren zu kräftig, um nachzugeben, die Bauern zwischen beiden im Nachteil fanden ihre Hörigkeit drückender als früher und wurden schwierig. So vielfach waren die Kräfte entwickelt, daß die Formen, in denen sie hätten wirken können, nicht mehr genügend erschienen. Alles erwartete eine Änderung, eine Verbesserung seiner Lage, eine freie Bahn für seine Bewegung. Dies allgemeine Mißbehagen der Grenzboten III. 1887. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/129>, abgerufen am 23.07.2024.