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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Aber ihre künstlerische müssen wir in dieser Unbedingtheit entschieden leugnen,
eben weil sie auf die Kunst des Nackten, soweit sie wirklich Kunst ist, gar keine
Anwendung findet, weil diese sehr Wohl neben jener Idee bestehen kann. Freilich
die Ausnutzung des Nackten für den Reiz, gleichviel in welcher Form und auf
welchem Knnstgcbiete, ist unbedingt zu verwerfen, aber nicht vom theologischen
oder politischen, sondern in erster Linie vom künstlerischen Standpunkte, denn
die Kunst hört, sowie das Schöne der Empfindung, das ihr zu Grunde liegt,
beim Reize auf; es ist also für sie ein Lebensgebot. Aber die herrlichsten
Leistungen nicht bloß der christlich emanzipirten Malerei, sondern auch der un-
schuldigen, naiven, wunschlos reinen und klaren Antike in ihrem Kunstwerke tief
herabzusetzen oder ganz zu verwerfen, bloß weil sie unheilige Empfindungen an¬
regen können oder weil unheiligen Augen nur ihr sinnlicher Neiz faßlich ist,
das ist zum mindesten -- wir gebrauchen ein Lieblingswort des christlichen
Ästhetikers -- sehr unwissenschaftlich. Und es wird so lange unwissenschaftlich
bleiben, so lauge noch ein einziges schönheitsfrommes Gemüt in reiner, un¬
schuldiger Freude vor diesen herrlichen Gestalten zugleich der Schöpfung und
Nachschöpfung andächtig und bewundernd verharrt, ohne sich verletzt oder beun¬
ruhigt zu fühlen, das heißt so lange die Kunst überhaupt besteht.

Wir gelangen zu dem zweiten Bestiurmungspnnkte, über den wir uns ver¬
ständigen wollen, bevor wir zur Würdigung und Kritik der uns hier entgegen¬
tretenden Gcsamtanschauung übergehen können: das Schöne wirkt durch die Art
seines "in Erscheinung tretcns." In jener ersten Kategorie tritt uns die
eigentlich sogenannte Schönheit entgegen, der wir meist jene Anzahl verzückter
Definitionen verdanken, welche Schuld daran sind, daß ein erneutes Herantreten
an den Gegenstand selbst immer wieder notwendig wird. Sonst spricht mau
in diesen Dingen gewöhnlich an einander vorüber und verständigt sich daher
nie. Dein Verfasser dieser Ausführungen ist von der Lektüre des ersten
ästhetischen Buches, das in seine Hände siel, eine unbefriedigte Empfindung ganz
besonders haften geblieben; sie hat ihn nicht verlassen, so oft er mich wieder
uuter mehr oder minder berufener Führung dies spezielle Gebiet betrat. Sie
gründete sich auf die Unbefangenheit, mit der die Desinircr jeuer "Schönheit"
voraussetze", daß mau ihre Generaldefinition bei allen einzelnen Punkten ihres
Gebietes einsetzen könne und werde. Oder setzt mau vielleicht nicht voraus,
daß diese Definition von "Freiheit in der Erscheinung," von "Identität des
Unendlichen und des Endlichen, des Idealen und Realen, der Notwendigkeit
und der Freiheit in sinnlicher Erscheinung angeschaut" -- wir greifen nur die
wichtigsten heraus --, setzt man etwa nicht voraus, daß dieselbe für das ganze
Gebiet Geltung haben müsse? Der ehrfurchtsvolle Neuling setzt es sicher
voraus, und wundert sich nun, trotz seiner oder vielmehr gerade mit seiner philo¬
sophischen Leuchte immerfort stolpern zu müssen, nicht bloß über das Häßliche,
das Komische, nein, schon über das Anmutige, das Erhabene. Überall findet


Aber ihre künstlerische müssen wir in dieser Unbedingtheit entschieden leugnen,
eben weil sie auf die Kunst des Nackten, soweit sie wirklich Kunst ist, gar keine
Anwendung findet, weil diese sehr Wohl neben jener Idee bestehen kann. Freilich
die Ausnutzung des Nackten für den Reiz, gleichviel in welcher Form und auf
welchem Knnstgcbiete, ist unbedingt zu verwerfen, aber nicht vom theologischen
oder politischen, sondern in erster Linie vom künstlerischen Standpunkte, denn
die Kunst hört, sowie das Schöne der Empfindung, das ihr zu Grunde liegt,
beim Reize auf; es ist also für sie ein Lebensgebot. Aber die herrlichsten
Leistungen nicht bloß der christlich emanzipirten Malerei, sondern auch der un-
schuldigen, naiven, wunschlos reinen und klaren Antike in ihrem Kunstwerke tief
herabzusetzen oder ganz zu verwerfen, bloß weil sie unheilige Empfindungen an¬
regen können oder weil unheiligen Augen nur ihr sinnlicher Neiz faßlich ist,
das ist zum mindesten — wir gebrauchen ein Lieblingswort des christlichen
Ästhetikers — sehr unwissenschaftlich. Und es wird so lange unwissenschaftlich
bleiben, so lauge noch ein einziges schönheitsfrommes Gemüt in reiner, un¬
schuldiger Freude vor diesen herrlichen Gestalten zugleich der Schöpfung und
Nachschöpfung andächtig und bewundernd verharrt, ohne sich verletzt oder beun¬
ruhigt zu fühlen, das heißt so lange die Kunst überhaupt besteht.

Wir gelangen zu dem zweiten Bestiurmungspnnkte, über den wir uns ver¬
ständigen wollen, bevor wir zur Würdigung und Kritik der uns hier entgegen¬
tretenden Gcsamtanschauung übergehen können: das Schöne wirkt durch die Art
seines „in Erscheinung tretcns." In jener ersten Kategorie tritt uns die
eigentlich sogenannte Schönheit entgegen, der wir meist jene Anzahl verzückter
Definitionen verdanken, welche Schuld daran sind, daß ein erneutes Herantreten
an den Gegenstand selbst immer wieder notwendig wird. Sonst spricht mau
in diesen Dingen gewöhnlich an einander vorüber und verständigt sich daher
nie. Dein Verfasser dieser Ausführungen ist von der Lektüre des ersten
ästhetischen Buches, das in seine Hände siel, eine unbefriedigte Empfindung ganz
besonders haften geblieben; sie hat ihn nicht verlassen, so oft er mich wieder
uuter mehr oder minder berufener Führung dies spezielle Gebiet betrat. Sie
gründete sich auf die Unbefangenheit, mit der die Desinircr jeuer „Schönheit"
voraussetze», daß mau ihre Generaldefinition bei allen einzelnen Punkten ihres
Gebietes einsetzen könne und werde. Oder setzt mau vielleicht nicht voraus,
daß diese Definition von „Freiheit in der Erscheinung," von „Identität des
Unendlichen und des Endlichen, des Idealen und Realen, der Notwendigkeit
und der Freiheit in sinnlicher Erscheinung angeschaut" — wir greifen nur die
wichtigsten heraus —, setzt man etwa nicht voraus, daß dieselbe für das ganze
Gebiet Geltung haben müsse? Der ehrfurchtsvolle Neuling setzt es sicher
voraus, und wundert sich nun, trotz seiner oder vielmehr gerade mit seiner philo¬
sophischen Leuchte immerfort stolpern zu müssen, nicht bloß über das Häßliche,
das Komische, nein, schon über das Anmutige, das Erhabene. Überall findet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/90>, abgerufen am 03.07.2024.