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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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ursächliche Bedingungen erkennen als die der rein äußerlichen Abwechslung oder
des Gegensatzes, so ließen sich freilich Duft- oder Tafelsymphonicn zusammenstellen.
So aber hat die Thätigkeit des überfeinen Friseurs oder Kochs mehr ein knnst-
äffisches als künstlerisches Gepräge, und die freudige Anerkennung ihrer Leistungen,
deren Wert durchaus nicht geschmälert werden soll, beruht nicht ans dem Über-
riechcn oder Überschmecken der gesamten Duft- und Speisenfolge, sondern auf
dem guten Appetit bei den einzelne" Düften und Gerüchen, der eben durch die
rein physiologischen Erwägungen des Riech- und Eßkünstlers stets aufrecht er¬
halten wird. Mau vergegenwärtige sich, um sich den Unterschied von den höhern
sinnlichen Kunstgenüssen zu verdeutlichen, die Wirkung, welche die odoratische
und gastronomische Dissonanz, nämlich der Gestank und der Ekelgcschmack, in
den betreffenden "Symphonien" haben würden. Ihre Einführung würde einem
solchen Moutcverde der Parfümir- und Kochkunst offenbar nichts weniger als
Ruhm einbringen. Damit vergleiche man nun die Wichtigkeit, welche die op¬
tische und akustische Dissonanz, das Häßliche und Übelkliugende, bei der höhern
Ausbildung der betreffenden Künste erringen. Die höhern sinnlichen Thätig¬
keiten find eben von physiologischen Zwecken viel mehr losgelöst, und wie sie
infolge dessen erst zur reinen Erkenntnis verwendet werden können, so erscheinen
sie schon bei deren sinnlichster Form, dem Kunstgenüsse, vollständig gelöst von
physiologischen Bedingungen. Alle Evolutivnistc", welche uns bei Entwicklung
musikalischer und malerischer Schönheit noch mit Locktönen, geschlechtlicher Aus¬
wahl und dergleichen Papageiengeschwätz kommen, können dem Künstler und
Kunstgelehrten nur ein tiefes Bedauern über ihr musikalisches und malerisches
Verständnis entlocken. Wir erklären daher auch sogleich unserm christlichen
Ästhetiker, der durch hierhergehörige Erwägungen auf die Festsetzung einer
"hcdvnischen" Kunst im Gegensatze gegen die "wahre" Kunst geraten ist, daß
wir eine "hedonischc" Kunst nicht kennen oder daß wir, allerdings in einem
ganz besondern Sinne des "Hedonischen," alle Kunst so nennen möchten. Zu
dieser ersten Kategorie der Erscheinung des Schönen außer uns rechnen wir
demnach alles, was schlechthin durch sich selbst gefällt, und zwar ist es für uns
nnr so lange schön im ästhetischen Sinne, als es ohne Reiz gefällt. Denn der
Reiz ist der Grenzpunkt des von uns als "Schönes der Empfindung" bezeich¬
neten Gefallens. Dieses hört alsbald auf, sobald jener einsetzt. Es ist das
Kennzeichen für die ästhetische Unvcrwcndbarkeit der Wahrnehmungen der so¬
genannten niedern Sinne, daß der Reiz bei ihnen sofort eintritt, daß sie ihn
zur Voraussetzung haben. Bei Katarrhen werden uns die liebsten Gerüche
(Tabak, gewisse stark riechende Blumen) fatal, bei mangelndem Appetit lassen
uns die größten Leckerbissen gleichgiltig. Es soll nicht geleugnet werden, daß
auch auf dem Gebiete der höhern Sinne, und zwar in der Kunstsphäre, Reize
eintreten können, denn auch sie sind ja nicht bloß für das Erkenntnisvermögen,
sondern in erster Linie für das animalische Leben vorhanden. Der Haupt-


ursächliche Bedingungen erkennen als die der rein äußerlichen Abwechslung oder
des Gegensatzes, so ließen sich freilich Duft- oder Tafelsymphonicn zusammenstellen.
So aber hat die Thätigkeit des überfeinen Friseurs oder Kochs mehr ein knnst-
äffisches als künstlerisches Gepräge, und die freudige Anerkennung ihrer Leistungen,
deren Wert durchaus nicht geschmälert werden soll, beruht nicht ans dem Über-
riechcn oder Überschmecken der gesamten Duft- und Speisenfolge, sondern auf
dem guten Appetit bei den einzelne» Düften und Gerüchen, der eben durch die
rein physiologischen Erwägungen des Riech- und Eßkünstlers stets aufrecht er¬
halten wird. Mau vergegenwärtige sich, um sich den Unterschied von den höhern
sinnlichen Kunstgenüssen zu verdeutlichen, die Wirkung, welche die odoratische
und gastronomische Dissonanz, nämlich der Gestank und der Ekelgcschmack, in
den betreffenden „Symphonien" haben würden. Ihre Einführung würde einem
solchen Moutcverde der Parfümir- und Kochkunst offenbar nichts weniger als
Ruhm einbringen. Damit vergleiche man nun die Wichtigkeit, welche die op¬
tische und akustische Dissonanz, das Häßliche und Übelkliugende, bei der höhern
Ausbildung der betreffenden Künste erringen. Die höhern sinnlichen Thätig¬
keiten find eben von physiologischen Zwecken viel mehr losgelöst, und wie sie
infolge dessen erst zur reinen Erkenntnis verwendet werden können, so erscheinen
sie schon bei deren sinnlichster Form, dem Kunstgenüsse, vollständig gelöst von
physiologischen Bedingungen. Alle Evolutivnistc», welche uns bei Entwicklung
musikalischer und malerischer Schönheit noch mit Locktönen, geschlechtlicher Aus¬
wahl und dergleichen Papageiengeschwätz kommen, können dem Künstler und
Kunstgelehrten nur ein tiefes Bedauern über ihr musikalisches und malerisches
Verständnis entlocken. Wir erklären daher auch sogleich unserm christlichen
Ästhetiker, der durch hierhergehörige Erwägungen auf die Festsetzung einer
„hcdvnischen" Kunst im Gegensatze gegen die „wahre" Kunst geraten ist, daß
wir eine „hedonischc" Kunst nicht kennen oder daß wir, allerdings in einem
ganz besondern Sinne des „Hedonischen," alle Kunst so nennen möchten. Zu
dieser ersten Kategorie der Erscheinung des Schönen außer uns rechnen wir
demnach alles, was schlechthin durch sich selbst gefällt, und zwar ist es für uns
nnr so lange schön im ästhetischen Sinne, als es ohne Reiz gefällt. Denn der
Reiz ist der Grenzpunkt des von uns als „Schönes der Empfindung" bezeich¬
neten Gefallens. Dieses hört alsbald auf, sobald jener einsetzt. Es ist das
Kennzeichen für die ästhetische Unvcrwcndbarkeit der Wahrnehmungen der so¬
genannten niedern Sinne, daß der Reiz bei ihnen sofort eintritt, daß sie ihn
zur Voraussetzung haben. Bei Katarrhen werden uns die liebsten Gerüche
(Tabak, gewisse stark riechende Blumen) fatal, bei mangelndem Appetit lassen
uns die größten Leckerbissen gleichgiltig. Es soll nicht geleugnet werden, daß
auch auf dem Gebiete der höhern Sinne, und zwar in der Kunstsphäre, Reize
eintreten können, denn auch sie sind ja nicht bloß für das Erkenntnisvermögen,
sondern in erster Linie für das animalische Leben vorhanden. Der Haupt-


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[0088] ursächliche Bedingungen erkennen als die der rein äußerlichen Abwechslung oder des Gegensatzes, so ließen sich freilich Duft- oder Tafelsymphonicn zusammenstellen. So aber hat die Thätigkeit des überfeinen Friseurs oder Kochs mehr ein knnst- äffisches als künstlerisches Gepräge, und die freudige Anerkennung ihrer Leistungen, deren Wert durchaus nicht geschmälert werden soll, beruht nicht ans dem Über- riechcn oder Überschmecken der gesamten Duft- und Speisenfolge, sondern auf dem guten Appetit bei den einzelne» Düften und Gerüchen, der eben durch die rein physiologischen Erwägungen des Riech- und Eßkünstlers stets aufrecht er¬ halten wird. Mau vergegenwärtige sich, um sich den Unterschied von den höhern sinnlichen Kunstgenüssen zu verdeutlichen, die Wirkung, welche die odoratische und gastronomische Dissonanz, nämlich der Gestank und der Ekelgcschmack, in den betreffenden „Symphonien" haben würden. Ihre Einführung würde einem solchen Moutcverde der Parfümir- und Kochkunst offenbar nichts weniger als Ruhm einbringen. Damit vergleiche man nun die Wichtigkeit, welche die op¬ tische und akustische Dissonanz, das Häßliche und Übelkliugende, bei der höhern Ausbildung der betreffenden Künste erringen. Die höhern sinnlichen Thätig¬ keiten find eben von physiologischen Zwecken viel mehr losgelöst, und wie sie infolge dessen erst zur reinen Erkenntnis verwendet werden können, so erscheinen sie schon bei deren sinnlichster Form, dem Kunstgenüsse, vollständig gelöst von physiologischen Bedingungen. Alle Evolutivnistc», welche uns bei Entwicklung musikalischer und malerischer Schönheit noch mit Locktönen, geschlechtlicher Aus¬ wahl und dergleichen Papageiengeschwätz kommen, können dem Künstler und Kunstgelehrten nur ein tiefes Bedauern über ihr musikalisches und malerisches Verständnis entlocken. Wir erklären daher auch sogleich unserm christlichen Ästhetiker, der durch hierhergehörige Erwägungen auf die Festsetzung einer „hcdvnischen" Kunst im Gegensatze gegen die „wahre" Kunst geraten ist, daß wir eine „hedonischc" Kunst nicht kennen oder daß wir, allerdings in einem ganz besondern Sinne des „Hedonischen," alle Kunst so nennen möchten. Zu dieser ersten Kategorie der Erscheinung des Schönen außer uns rechnen wir demnach alles, was schlechthin durch sich selbst gefällt, und zwar ist es für uns nnr so lange schön im ästhetischen Sinne, als es ohne Reiz gefällt. Denn der Reiz ist der Grenzpunkt des von uns als „Schönes der Empfindung" bezeich¬ neten Gefallens. Dieses hört alsbald auf, sobald jener einsetzt. Es ist das Kennzeichen für die ästhetische Unvcrwcndbarkeit der Wahrnehmungen der so¬ genannten niedern Sinne, daß der Reiz bei ihnen sofort eintritt, daß sie ihn zur Voraussetzung haben. Bei Katarrhen werden uns die liebsten Gerüche (Tabak, gewisse stark riechende Blumen) fatal, bei mangelndem Appetit lassen uns die größten Leckerbissen gleichgiltig. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch auf dem Gebiete der höhern Sinne, und zwar in der Kunstsphäre, Reize eintreten können, denn auch sie sind ja nicht bloß für das Erkenntnisvermögen, sondern in erster Linie für das animalische Leben vorhanden. Der Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/88>, abgerufen am 01.10.2024.