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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.

erblickten. Die politische Zerfahrenheit des Vaterlandes erfordere nicht Träumer
und Denker, sondern thatkräftige Männer. Die Kulturentwicklung eines Volkes
könne sich nicht nach berühmten Mustern oder durch Einimpfen fremder Ge¬
sittung, sondern nur aus sich selbst heraus bilden.

Es ist wohl keine Frage, daß der griechische Befreiungskampf der zwanziger
Jahre und der moderne Philhellenismus, der die Augen der politischen Kreise
nach den alten Kulturstätten lenkte, sehr viel zu der Begeisterung beitrug, mit
welcher man damals das klassische Studium wieder aufnahm, und es ist nicht
minder wahrscheinlich, daß die lange Friedenszeit, welche in Deutschland bis über
die Mitte des Jahrhunderts hinaus währte, ebenso wie das Fehlen eines
nationalen Antriebes damals diese Richtung begünstigte. Das Ringen um die
deutsche Einheit und der endliche Sieg dieser Bestrebungen habe" andre Bahnen
gezogen, andre Ziele gesteckt, den Volksgeist nach langem Traume aufgerüttelt
und greifbare Forderungen an ihn gestellt. Heutzutage würde sich auch wohl
der begeistertste Humanist nicht mehr zu dem Ausspruche des berühmten Philo¬
logen Passow versteigen, daß die Wiederherstellung des deutschen Vvlkstnmes
nur "durch das Medium des Griechischen möglich sei." Vor allem, meint
Passow, komme es darauf an, die deutsche Sprache von dem fremdartigen,
wülscheu Wust zu reinigen. Hierzu genüge nicht das Studium des Lateinischen.
Die römische Sprache selbst sei wenig mehr als ein Schatten der griechische",
die Töchtersprachen der ersteren nun gar seien nur "Schutt und Moder von
diesem Schatten." Um den Deutschen zu einer deutlichen und lebhaften
Empfindung seines reinen Vvlkstumes zu führen, müsse man ihm zum klaren
Gefühl seiner Muttersprache verhelfen. Dies geschehe aber am sichersten durch
Erlernung der griechischen, die als eine Normalsprache vor allen übrigen den
Vorzug verdiene. Der außerordentliche Reichtum ihrer Entwicklung, die strenge
Gesetzmäßigkeit in der Ableitung der Formen, die knappe Bezeichnung der
mannichfachsten Schattirungen des Ausdrucks durch kurze Silben oder einzelne
Vokale -- alles dies sei vorzüglich geeignet, eine schnelle und sichere Auffassung
verschiedenartiger Verhältnisse zu bewirken und den Geist an Zucht, Ordnung
und Regelmäßigkeit zu gewöhnen. Mit diesen Vorzügen verbinde sich dann noch
der Wohlklang, die rhythmische Gliederung, der Wortreichtum, um den Sinn für
das Schöne und Künstlerische zu wecken.

Diese Anschauung Passows wurde von vielen geteilt. Die Meinung, daß
die Wiedergeburt des deutschen Volkstums nur durch den Läuterungsprozeß des
Hellenismus möglich sei, ist charakteristisch für den Mangel politischen Selbst¬
vertrauens jener Zeit, und der Gedanke, diese Verjüngung am sichersten auf
dem Wege der Sprachreiniguug zu bewirken, konnte eben nur dem Kopfe eines
Philologen entspringen. Daß die Nacheiferer Jcchns, die Tugendbündler und
Patrioten jener Zeit den Einfluß der französischen Herrschaft auf den Gebieten
der Kunst, der Wissenschaft und der Literatur abzuschütteln strebten, war ebenso


Gymnasialunterricht und Fachbildung.

erblickten. Die politische Zerfahrenheit des Vaterlandes erfordere nicht Träumer
und Denker, sondern thatkräftige Männer. Die Kulturentwicklung eines Volkes
könne sich nicht nach berühmten Mustern oder durch Einimpfen fremder Ge¬
sittung, sondern nur aus sich selbst heraus bilden.

Es ist wohl keine Frage, daß der griechische Befreiungskampf der zwanziger
Jahre und der moderne Philhellenismus, der die Augen der politischen Kreise
nach den alten Kulturstätten lenkte, sehr viel zu der Begeisterung beitrug, mit
welcher man damals das klassische Studium wieder aufnahm, und es ist nicht
minder wahrscheinlich, daß die lange Friedenszeit, welche in Deutschland bis über
die Mitte des Jahrhunderts hinaus währte, ebenso wie das Fehlen eines
nationalen Antriebes damals diese Richtung begünstigte. Das Ringen um die
deutsche Einheit und der endliche Sieg dieser Bestrebungen habe» andre Bahnen
gezogen, andre Ziele gesteckt, den Volksgeist nach langem Traume aufgerüttelt
und greifbare Forderungen an ihn gestellt. Heutzutage würde sich auch wohl
der begeistertste Humanist nicht mehr zu dem Ausspruche des berühmten Philo¬
logen Passow versteigen, daß die Wiederherstellung des deutschen Vvlkstnmes
nur „durch das Medium des Griechischen möglich sei." Vor allem, meint
Passow, komme es darauf an, die deutsche Sprache von dem fremdartigen,
wülscheu Wust zu reinigen. Hierzu genüge nicht das Studium des Lateinischen.
Die römische Sprache selbst sei wenig mehr als ein Schatten der griechische»,
die Töchtersprachen der ersteren nun gar seien nur „Schutt und Moder von
diesem Schatten." Um den Deutschen zu einer deutlichen und lebhaften
Empfindung seines reinen Vvlkstumes zu führen, müsse man ihm zum klaren
Gefühl seiner Muttersprache verhelfen. Dies geschehe aber am sichersten durch
Erlernung der griechischen, die als eine Normalsprache vor allen übrigen den
Vorzug verdiene. Der außerordentliche Reichtum ihrer Entwicklung, die strenge
Gesetzmäßigkeit in der Ableitung der Formen, die knappe Bezeichnung der
mannichfachsten Schattirungen des Ausdrucks durch kurze Silben oder einzelne
Vokale — alles dies sei vorzüglich geeignet, eine schnelle und sichere Auffassung
verschiedenartiger Verhältnisse zu bewirken und den Geist an Zucht, Ordnung
und Regelmäßigkeit zu gewöhnen. Mit diesen Vorzügen verbinde sich dann noch
der Wohlklang, die rhythmische Gliederung, der Wortreichtum, um den Sinn für
das Schöne und Künstlerische zu wecken.

Diese Anschauung Passows wurde von vielen geteilt. Die Meinung, daß
die Wiedergeburt des deutschen Volkstums nur durch den Läuterungsprozeß des
Hellenismus möglich sei, ist charakteristisch für den Mangel politischen Selbst¬
vertrauens jener Zeit, und der Gedanke, diese Verjüngung am sichersten auf
dem Wege der Sprachreiniguug zu bewirken, konnte eben nur dem Kopfe eines
Philologen entspringen. Daß die Nacheiferer Jcchns, die Tugendbündler und
Patrioten jener Zeit den Einfluß der französischen Herrschaft auf den Gebieten
der Kunst, der Wissenschaft und der Literatur abzuschütteln strebten, war ebenso


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[0078] Gymnasialunterricht und Fachbildung. erblickten. Die politische Zerfahrenheit des Vaterlandes erfordere nicht Träumer und Denker, sondern thatkräftige Männer. Die Kulturentwicklung eines Volkes könne sich nicht nach berühmten Mustern oder durch Einimpfen fremder Ge¬ sittung, sondern nur aus sich selbst heraus bilden. Es ist wohl keine Frage, daß der griechische Befreiungskampf der zwanziger Jahre und der moderne Philhellenismus, der die Augen der politischen Kreise nach den alten Kulturstätten lenkte, sehr viel zu der Begeisterung beitrug, mit welcher man damals das klassische Studium wieder aufnahm, und es ist nicht minder wahrscheinlich, daß die lange Friedenszeit, welche in Deutschland bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus währte, ebenso wie das Fehlen eines nationalen Antriebes damals diese Richtung begünstigte. Das Ringen um die deutsche Einheit und der endliche Sieg dieser Bestrebungen habe» andre Bahnen gezogen, andre Ziele gesteckt, den Volksgeist nach langem Traume aufgerüttelt und greifbare Forderungen an ihn gestellt. Heutzutage würde sich auch wohl der begeistertste Humanist nicht mehr zu dem Ausspruche des berühmten Philo¬ logen Passow versteigen, daß die Wiederherstellung des deutschen Vvlkstnmes nur „durch das Medium des Griechischen möglich sei." Vor allem, meint Passow, komme es darauf an, die deutsche Sprache von dem fremdartigen, wülscheu Wust zu reinigen. Hierzu genüge nicht das Studium des Lateinischen. Die römische Sprache selbst sei wenig mehr als ein Schatten der griechische», die Töchtersprachen der ersteren nun gar seien nur „Schutt und Moder von diesem Schatten." Um den Deutschen zu einer deutlichen und lebhaften Empfindung seines reinen Vvlkstumes zu führen, müsse man ihm zum klaren Gefühl seiner Muttersprache verhelfen. Dies geschehe aber am sichersten durch Erlernung der griechischen, die als eine Normalsprache vor allen übrigen den Vorzug verdiene. Der außerordentliche Reichtum ihrer Entwicklung, die strenge Gesetzmäßigkeit in der Ableitung der Formen, die knappe Bezeichnung der mannichfachsten Schattirungen des Ausdrucks durch kurze Silben oder einzelne Vokale — alles dies sei vorzüglich geeignet, eine schnelle und sichere Auffassung verschiedenartiger Verhältnisse zu bewirken und den Geist an Zucht, Ordnung und Regelmäßigkeit zu gewöhnen. Mit diesen Vorzügen verbinde sich dann noch der Wohlklang, die rhythmische Gliederung, der Wortreichtum, um den Sinn für das Schöne und Künstlerische zu wecken. Diese Anschauung Passows wurde von vielen geteilt. Die Meinung, daß die Wiedergeburt des deutschen Volkstums nur durch den Läuterungsprozeß des Hellenismus möglich sei, ist charakteristisch für den Mangel politischen Selbst¬ vertrauens jener Zeit, und der Gedanke, diese Verjüngung am sichersten auf dem Wege der Sprachreiniguug zu bewirken, konnte eben nur dem Kopfe eines Philologen entspringen. Daß die Nacheiferer Jcchns, die Tugendbündler und Patrioten jener Zeit den Einfluß der französischen Herrschaft auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft und der Literatur abzuschütteln strebten, war ebenso

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/78>, abgerufen am 01.10.2024.